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DIE FURCHE 09.11.2023

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DIE FURCHE · 4512

DIE FURCHE · 4512 Bildung9. November 2023Von Victoria Schwendenwein • RigaVorgezeigtDas „Ogres Tehnikums“ist eine Mischung ausBerufsschule und BHS.Ein ungewöhnlicherSchultyp, der sich inden vergangenen zehnJahren seinen Platzerkämpft hat.Hoch konzentriert überwachtValery, was der 3D-Druckerausgibt. Um ihn herumherrscht Aufbruchsstimmung.Vor wenigen Minutenhat die Schulglocke geläutet. Während seineKlassenkameraden die Computer- undKreativwerkstätte verlassen, späht DirektorinIlze Brante mit den Gästen durch dieTüre. Die Bilder an den Wänden zeugenvon der Qualität der kreativen Arbeit derSchülerinnen und Schüler. Die Bildschirmesind mittlerweile schwarz. Nur der PCvon Valery läuft noch, denn er möchte seinProjekt weiterbringen. Noch erkennt mankaum, worum es sich dabei handelt. Der Informatik-Schülerzeigt aber stolz auf denComputerbildschirm mit der Visualisierungdes Objektes, das nebenan gedrucktwird. Das Gefäß soll ihm in weiterer Folgenicht nur eine gute Note, sondern vor allemeinen Nachweis seiner Kompetenzen fürden Berufseinstieg bringen.Valery ist einer von mehr als 1000 Schülerinnenund Schülern, die in der Stadt Ogre,36 Kilometer südöstlich der lettischenHauptstadt Riga, die berufsbildende „OgresTehnikums“-Schule besuchen. Eine gewisseStundenanzahl in der Woche habener und seine Mitschülerinnen und -schülerin einem Unternehmen zu absolvieren.Das Konzept der Schule erinnert aneine Mischung aus BHS und Berufsschule,wie man sie aus Österreich kennt. In Ogrewurden vor mehr als zehn Jahren dreiberufsbildende Schulen der Region zu einemCampus zusammengelegt und mittelsEU-Geldern umfassend saniert. Heutewird die Schule vom lettischen Bildungsministeriumals Aushängeschild präsentiert.Das Land setzt seit 2013 auch auf eineduale Berufsausbildung nach Vorbildder Ausbildungssysteme in Österreich,Deutschland oder der Schweiz. Es ist derVersuch einer Antwort auf den immer stärkerum sich greifenden Fach- und Arbeitskräftemangel.Anerkennung für qualifizierte KräfteSchauplatzwechsel nach Riga: In der historischenAltstadt haben sich Lokale großerKetten angesiedelt. Dazwischen findensich vereinzelt Souvenirshops. Ein großerTeil der Auslagen im Zentrum ist aber leer.Oft erinnern nur die Ränder abgenommenerSchilder an die hier einmal angesiedeltenGeschäftslokale. Vielfach waren esGastronomiebetriebe, die Corona und dieanschließende Teuerung in die Knie gezwungenhaben. Der Präsident des lettischenRestaurant-Verbandes, Jānis Jenzis,nennt aber noch eine weitere Ursache:„Niedriglöhne, die längsten Arbeitszeiten,nachts, an den Feiertagen“, erklärt er undmeint, „wir hatten das Problem bereitsvor Covid“. Die Gastronomie sei für vieleder Einstieg in die Berufswelt. Das sei gut,um erste Arbeitserfahrungen zu sammeln,mache die Branche aber auch zu einer „sehrjungen Industrie“. Das Durchschnittsalterder Angestellten liege zwischen 20 und 30Jahren. „Wir haben aber einen Mangel anqualifizierten Arbeitskräften wie Bäckernoder Köchen“, erklärt der Fachmann. Daswirke sich auch auf die Qualität der Berufsausbildungaus. „Jemand der Koch werdenmöchte, erhält in unseren Schulen momentannicht das Wissen, dass die Branchebraucht“, resümiert er.Jenzis war dieses Jahr auch Juror fürdie Sparte Kellner bei „Skills Latvia“, denjährlichen lettischen Berufsmeisterschaften.Dort sei er in seiner Meinung bestätigtworden, auch wenn die Wettbewerbsanforderungenebenfalls nicht mit realenArbeitsbedingungen zu vergleichen seien.DIE FURCHE hat die Präsidentin vonFotos: Victoria SchwendenweinLesen Sie auch„Ein Betrieb istkeine Caritas“(19.9.2002) vonDoris Helmberger-Flecklauffurche.atLettland will dem Arbeitskräftemangel mit einer dualen Berufsausbildung begegnen. WelcheLehren zieht das baltische Land aus dem österreichischen System? Ein Lokalaugenschein.Ein Anker fürdie Arbeitswelt„ Fragt man Menschen nachden Berufen der Zukunft, sindklassische Handwerks- oderHandelsberufe nicht präsent.“„Skills Latvia“, Dita Traidās, in ihrem Büromit Blick über die Rigaer Altstadt getroffen.Die Agentur organisiert auch die Vorentscheidefür Teilnahmen an Europa- undWeltmeisterschaften. „38 Prozent der Jugendlichenwählen eine Berufsausbildung,wir bräuchten aber 55 Prozent“, rechnet sievor. Im Vergleich: In Österreich haben lautder jüngsten OECD-Erhebung 54 Prozentder 25- bis 34-Jährigen einen berufsbildendenAbschluss als höchsten Bildungsstand.Das ist der höchste Wert im Europa-Schnitt.Mit ihrer Arbeit will Traidās das Ansehender lettischen Berufsausbildung fördern.Die Berufsmeisterschaften sind fürsie eine Möglichkeit, das Interesse zu steigernsowie die Wirtschaft und die Ausbildungsstättennäher zusammenzubringen.Aktuell arbeitet sie an einem neuen Auswahlverfahrenfür Teilnehmer. Aufgrunddes lettischen Schulsystems sind Kandidatenhier nämlich weitaus jünger als in andereneuropäischen Staaten. Ein Nachteil,wenn es um internationale Bewerbe geht.Das hat sich zuletzt Anfang September beiden Europameisterschaften „Euro-Skills“in Danzig (Polen) gezeigt. Die neun lettischenKandidaten mussten sich mit derTeilnahme begnügen. Anders als noch inden Jahren vor der Pandemie reichte es diesesMal in keiner Kategorie zu einer Medaille.„Wir müssen die Standards heben“,zeigt sich Traidās daher überzeugt. Dasgelte für den Bewerb ebenso wie für dieBerufsausbildung im Allgemeinen. Denn,wenn höhere Anforderungen gestellt werden,müssten die Bildungseinrichtungenauch nachrüsten, um weiterhin teilnehmenzu können.Österreich ist aus Danzig als Berufseuropameisterzurückgekommen. Gepushtvon der Wirtschaftskammer wurden dieerfolgreichen Teilnehmer wochenlang alsHelden gefeiert. Zwar kämpft die Lehre inÖsterreich weiterhin mit einem Imageproblemeaufgrund der Diskussion um Gleichstellungmit akademischen Berufen, dochinternational wird man für die duale Lehrausbildungund das hohe Interesse an berufsbildendenSchulen beneidet. Das bestätigtIlze Buligina, die im lettischenBildungsministerium das „work-basedlearning“, mitentwickelt hat. Anders als inÖsterreich beginnen die Jugendlichen ihreLehre dabei aber nicht in einem Unternehmen,um von dort aus dann in die Berufsschulegeschickt zu werden. Vielmehrschließen die Schulen Kooperationsvereinbarungenmit Betrieben ab, damit die Schülerinnenund Schüler zu ihren Praxistagenkommen. Erst im letzten Schuljahr arbeitendie Jugendlichen dann auch voll in denBetrieben mit, allerdings ohne Bezahlung.Sinkendes TechnikinteresseFragt man Menschen in Rigas Straßennach den Berufen der Zukunft, sind klassischeHandwerks- oder Handelsberufein den Antworten nicht präsent, die allermeistenverweisen auf den Technikbereich,zumindest aber muss es ein digitalisiertesBerufsfeld sein.Egita Proveja ist Projektleiterin für Berufsbildungbei der Deutsch-BaltischenHandelskammer in Riga. Sie sieht denhöchsten Bedarf nach Fachkräften ebenfallsin technisch-gewerblichen Berufen,also im oft beschworenen MINT-Bereich(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaftenund Technik). „Das Problemlässt sich bereits in den Schulen beobachten,denn die Schülerinnen und Schülersind immer weniger an MINT-Fächern interessiertund werden da immer schlech-

DIE FURCHE · 459. November 2023Bildung13„ In Österreich sind derzeit 4,4 Prozentaller offenen Stellen nicht besetzt. Die Zahlensind seit 2020 deutlich angestiegen. Ein Grunddafür ist der demografische Wandel. “ter“, meint die Bildungsexpertin und fügtschmunzelnd hinzu: „Alle wollen nur nochManager werden.“ Sie nimmt aber nichtalleine das Bildungssystem in die Pflicht.„Man sollte viel mehr Berufsorientierungseitens der Wirtschaft betreiben“, sieht sieeine Bringschuld auf Arbeitgeberseite.Zwar setzt der baltischeStaat wie seineNachbarländer schonfrüh im Bildungssystemauf Digitalisierung, aber„viele junge Menschengehen zum Arbeiten inseuropäische Ausland“,schildert etwa die Historikerinund FremdenführerinLīga Irbe bei einemSpaziergang durchdie historische AltstadtRigas. Die Einflüsse,die Deutsche, Schweden, Polen und Russenseit dem Mittelalter im Land hinterlassenhaben, sind intrinsischer Bestandteilder lettischen Identität. Auf der einen Seiteidentitätsstiftend, ist sie auf der anderenSeite ein wunder Punkt, den zuletzt derAngriffskrieg Russlands auf die Ukrainewieder verstärkt zum Vorschein gebrachthat. Von 1950 bis 1991 war Lettland von derUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken,kurz UdSSR, besetzt. Von den drei baltischenStaaten war das Land am stärkstenvon der sowjetischen Umsiedlungspolitikbetroffen. Heute gehören daher knapp 38Prozent der lettischen Bevölkerung Minderheitenan, wobei ethnische Russinnenund Russen mit etwa 27 Prozent der Gesamtbevölkerungdie bedeutendste Gruppedarstellen.Dieser Umstand stellt das Bildungssystemvor Herausforderungen, denn 140 allgemeinbildendeSchulen des Landes habenbisher einen bilingualen Unterrichtin lettischer und russischer Sprache geführt.Seit dem russischen Angriffskriegauf die Ukraine will die lettische Regierungdas aber beenden. Nach einer zweijährigenÜbergangsphase soll jeglicherrussischer Unterricht aus Lettlands Schulenverbannt sein. Betroffene Familien sehendas skeptisch, wie die zweifache MutterMila Astapcika erklärt. Ihrer Familiegehört ein Hotel in der Rigaer Altstadt. AlsKind einer Russin und eines Belarussen istsie mit Russisch als Familiensprache aufgewachsen.Die bilinguale Schule ihreselfjährigen Sohnes zähle zu den Top-SchulenLettlands. Jetzt fürchtet sie um die Unterrichtsqualität.Die Lehrkräfte hättenein eher hohes Durchschnittsalter, vielehätten lettisch selbst erst in der Schule gelernt,junges Lehrpersonal zu finden, seiwegen der geringen Entlohnung von durchschnittlichknapp über1000 Euro monatlich„ Nach einerzweijährigenÜbergangsphasesoll jeglicherrussischerUnterricht ausLettlands Schulenverbannt sein. “schwierig, zumal die Lebenserhaltungskostenzuletzt stark gestiegenseien. Astapcikas Sohnmöchte nach der SchuleIngenieur werden. Obseine Bildungszukunftin Lettland liegt, weißseine Mutter allerdingsnoch nicht. Für sie wärees vorstellbar Lettlandzugunsten der Bildungsqualitätihrer Kinder zu verlassen.Diese Möglichkeit ergreifen viele Lettenim Studium. Laut einer Erhebung ausdem Jahr 2022 studieren etwa sechs bissieben Prozent der Letten im Ausland. Daswirkt sich auch auf den Arbeitsmarkt aus.Etwa drei Prozent aller offenen Stellen inMehr Eindrückeder FURCHE-Recherchereisein Lettlandfinden Sie in derBildreportage„Zwischen Schuleund Arbeit“auf furche.at.Besuch im zweitenJahrgang des forstwirtschaftlichenZweiges am „OgreTehnikums“. Nocharbeiten dieSchülerinnenund Schüler nichtvollwertig in einemBetrieb mit.dem 1,8 Millionen-Einwohner-Staat könnenlaut der europäischen StatistikbehördeEurostat derzeit nicht besetzt werden.Der Wert hat sich in den letzten Jahren mitgeringfügigen Schwankungen recht konstantgehalten. Lettland liegt damit knappüber dem EU-Schnitt von aktuell 2,7 Prozent.Zum Vergleich: In Österreich sind derzeit4,4 Prozent aller offenen Stellen nichtbesetzt. Die Zahlen sind seit 2020 deutlichangestiegen. 2018 lag der österreichischeWert noch bei 2,9 Prozent. Ein Grundfür den Arbeitskräftemangel ist laut Eurostatneben der massiven Abwanderung ineinigen Ländern auch der demografischeWandel. EU-weit wird demnach die Bevölkerungim erwerbsfähigen Alter von 265Millionen im Jahr 2022 auf 258 Millionenim Jahr 2030 zurückgehen.Zurück in Ogre: Direktorin Ilze Branteund Ilze Buligina treffen sich, um letzte Detailsfür eine internationale Tagung zumThema Berufsausbildung gegen den Arbeitskräftemangel,die in wenigen Tagenin Ogre beginnt, zu besprechen. ZwischenTelefonaten und regem E-Mail-Austauschverweisen sie auf die Vorzüge einer Schulewie dem „Ogres Tehnikums“.Die Schülerinnenund Schüler berührt das rege Treibenin der Direktion beim FURCHE-Besuchkaum. Im Gespräch mit ihnen wird aberschnell klar: Auch unter diesen Jugendlichengibt es jene, die genau wissen, wohinihr Weg sie führen soll und diejenigen,die ihre Möglichkeiten noch ausloten. „Inzehn Jahren werde ich vielleicht selbst jungeLeute ausbilden”, antwortet etwa der16-jährige Aleksandrs auf die Frage, wo ersich in zehn Jahren beruflich sieht. Er istim zweiten Jahrgang des forstwirtschaftlichenZweiges der Schule und Tutor für dieersten Jahrgänge, die vor wenigen Wochenhier begonnen haben.Um sie alle früher oder später in die Betriebezu bringen, bringt die Schulleitungviel Geduld auf, bestätigt Brante. Als es eineEU-unterstützte Finanzierung des Projektesgab, seien die Unternehmer leichterzu überzeugen gewesen, junge Menschenauszubilden. „Sie glauben, sie müssen derSchule helfen, dabei ist es genau umgekehrt:Die Schule hilft ihnen wettbewerbsfähigzu bleiben”, meint Brante.Kein PatentrezeptDie vielen Akteure vom Bildungsministeriumüber „Skills Latvia“ und die DeutscheHandelskammer bis zu den Lehrkräftenin den Schulen stellen in Lettland hoheErwartungen an ein moderne Berufsausbildung.Sie müsse breit gefächert sein.Durch den gesellschaftlichen Wandel reichees nicht mehr aus, mit nur einer Spezialisierungaus der Ausbildung herauszugehen.Der Wandel auf dem Arbeitsmarkterfolge immer schneller, das Bildungssystemmüsse darauf flexibel reagieren können– und das gehe nur in Zusammenarbeitmit den Wirtschaftstreibenden, schlagenhier alle in dieselbe Kerbe. Die Wege zu diesemZiel sehen aber höchst unterschiedlichaus. „Eine schulbasierte Ausbildungkann Vorteile für gewisse Branchen haben,eine Lehre wie in Österreich ebenfalls. Undbeides kann auch Nachteile haben“, meintDita Traidās , oder anders ausgedrückt:„Das perfekte System gibt es nicht“.Dieser Text entstand im Rahmenvon eurotours 2023, einem Projektdes Bundeskanzleramts, finanziertaus Bundesmitteln.WeiterdenkenDER FURCHE PODCAST„Bin als Jüdin tieferschüttert“Für Liliane Apotheker, Präsidentindes Internationalen Rates derChristen und Juden, der weltweitenDachorganisation christlichjüdischerDialog-Vereinigungen,bedeutet das Pogrom der Hamasvom 7. Oktober eine Zäsur. ImFURCHE-Gespräch thematisiertsie ihre Sprachlosigkeit angesichtsdes Terrors, aber auch ihreHoffnungen – trotz allem.furche.at/podcast

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