DIE FURCHE · 10 18 Theater & Literatur 9. März 2023 Gegen den Strom Die Kraft der Dialoge und herrlich-tragikomische Szenen stehen im Mittelpunkt der Inszenierung von „Audienz“ mit Sophie Borchhardt, Nico Dorigatti und Alexandra Schmidt. Von Julia Danielczyk Bis Anfang April sind die Kasematten Wiener Neustadt Schauplatz des Theaterfestivals „Europa in Szene“. Den Auftakt bildete das kritische Stück „Audienz“ von Václav Havel. Macht der Ohnmächtigen Am 1. März wurde in den Wiener Neustädter Kasematten das Theaterfestival „Europa in Szene“ eröffnet, das noch vier Wochen läuft. Auf den Bühnen und in den Sälen des mittelalterlichen Gewölbes – dem idealen Ort für Dramen rund um Macht und Herrschaft – stehen die verschiedenen Produktionen unter dem Motto „Gedankenfreiheit“. Mit dem legendären Satz „Geben Sie Gedankenfreiheit“ fordert Marquis Posa seinen König Philipp in Friedrich Schillers „Don Karlos“ in vielfacher Weise. In der Auseinandersetzung mit dem wertvollen Gut der Freiheit beschäftigen sich nun Autoren, Wissenschafter und Philosophen mit ausgesuchten Reden (von Jesus Christus über David Foster Wallace bis hin zu Toni Morrison) zu den Themen „Frei Entscheiden“, „Frei Träumen“ oder „Frei Sprechen“, mit dem Ziel, „einen Sturm an Gedanken und Gefühlen auszulösen“, so die künstlerische Leiterin Anna Maria Krassnigg. Den Auftakt des facettenreichen Festivals machte Václav Havels Einakter „Audienz“, ein Stück, das 1976 unter der Direktion von Achim Benning am Akademietheater uraufgeführt wurde. Havels Werk war nach 1969, also nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, in der Tschechoslowakei und den anderen Staaten des Warschauer Paktes mit Publikations- und Aufführungsverbot belegt worden. Die Stücke des Schriftstellers und Staatspräsidenten der Tschechoslowakei (sowie nach der Samtenen Revolution in der ersten Tschechischen Republik) wurden damit quasi im Exil gespielt. Havel lebte zwar in seiner Heimat, „ Dieser Vaněk hält der damaligen wie heutigen, auch durch Corona zersplitterten Gesellschaft einen Spiegel vor, in dem sie ihr wahres Gesicht zeigt. “ Foto: Julia Kampichler war aber dort von Repressionen betroffen und jahrelang inhaftiert. Während es bei Schillers Begriff der Gedankenfreiheit darum geht, nicht zugerichtet, nicht verniedlicht, nicht „verzwergt“ zu werden, ist Havel längst mit einem totalitären System konfrontiert. Im Zentrum von „Audienz“ steht der Schriftsteller Ferdinand Vaněk, Havels Alter Ego. Dieser Vaněk ist ein höflicher Mensch, der Respekt vor den anderen hat, jedoch ohne sich zu verbiegen und ohne das Spiel der Angepassten mitzumachen. Regisseur Florian Thiel verlässt sich auf die Kraft der Dialoge und inszeniert herrlich-tragikomische Szenen, die die „Macht der Ohnmächtigen“ zeigen. Mit einem zugleich genauen Blick auf den Text als auch einer sanften Adaption ins Heute – der opportunistische Braumeister wird hier von der jungen Alexandra Schmidt gespielt, die im eleganten Hosenanzug den Typus der modernen Managerin vertritt – gelingt es Thiel, die slapstickartigen, absurden Momente hervorzuheben. Die Braumeisterin lädt den regimekritischen Schriftsteller Vaněk, der als Hilfsarbeiter in der Brauerei sein Einkommen bestreitet, zur titelgebenden „Audienz“ in ihr Büro ein. Dort wird freilich das selbstgebraute Bier getrunken. Vaněks Hinweis, keinen Alkohol zu konsumieren, hört die eitle Braumeisterin als Kritik, wittert sein Außenseitertum, denn wenn einer nicht dazugehören möchte, kann er nur ein Verräter sein. Was Vaněk verdächtig macht, ist aber vor allem, dass er ein Mensch mit Prinzipien ist, mit einer Haltung. Im Würgegriff des Systems Der junge Schauspieler Nico Dorigatti macht sichtbar, welche Überlegungen dieser Vaněk anstellt, um höflich zu sein, und das in einer Situation, in der jegliche Freiheit bereits von vornherein entscheidend eingeschränkt ist. Den Szenenablauf strukturiert Thiel durch Musikeinspielungen, dann verrenkt sich Dorigatti als Vaněk, um die Verbiegungen eines Menschen im Würgegriff zu zeigen, der um Gedankenfreiheit in dem repressiven System kämpft. Julius Leon Seiler hat für diesen Raum eine Bierkisteninstallation eingerichtet, die einerseits den Boden des repräsentativen Managerinnentisches bildet, andererseits im Hintergrund eine Mauer aus Leergebinde. Sophie Borchhardt tanzt oder geht als Theaterstar Bohdalová über die Bühne, sie hat zwar nichts zu sagen, aber die Aura ihres Ruhms und die Chimäre der Prominenz ziehen die Braumeisterin magisch an. Vaněk, der die Schauspielerin kennt, soll sie in die Brauerei einladen, um die traurige Sehnsucht dieser feigen Mitläufer nach einer erfüllten, schillernden Welt zu stillen. Havels Verständnis der „Macht der Ohnmächtigen“ zeigt, dass Einzelne ‒ und das Theater ‒ etwas im demokratischen Sinn bewirken können. Vaněk, der Ohnmächtige, äußert sich und verwendet nicht die eigene Ohnmacht als Ausrede für das Mitmachen. Er denunziert niemanden und fühlt mit, sodass genau aus dieser Empathie die Kritik noch schärfer erscheint. Dieser Vaněk hält der damaligen wie heutigen, auch durch Corona zersplitterten Gesellschaft einen Spiegel vor, in dem sie ihr wahres Gesicht zeigt. Für diesen ausgezeichneten Auftakt eines vielversprechenden Festivals gab es verdient heftigen Applaus. Theaterfestival „Europa in Szene“ Bis 2.4.2023, www.kasematten-wn.at LITERATUR „So viele Schichten wie ein Baumkuchen“ Von Maria Renhardt klebe nicht so an der Wirklichkeit wie andere, „Ich die schreiben, die alles aus ihrem Leben nehmen und über ihre Kindheit und ihre Familien und ihre Lieben schreiben […] ich denke mir die Dinge, über die ich schreibe, […] aus, und auch Menschen […]“ Nüchtern und glasklar steckt die deutsche Autorin Bettina Hartz im Prolog ihres Debüts gleich mit dem ersten Satz ihre Schreibposition ab. An Fiktion ist man in der Literatur ja gewöhnt. Aber Hartz geht in ihrem Prosatext „Rot ist der höchste Ernst“ eine Stufe weiter, indem sie die Fiktion verdoppelt und mit der Plot realität so dicht verknüpft, dass die beiden „Reiche“ ineinander diffundieren, eigentlich nicht mehr unterscheidbar sind und sogar ins Surreale kippen können. Milena lebt als Autorin in Berlin. Traumatisiert vom Krieg will sie mit ihrem Schreiben „Macht über die Welt gewinnen“. Immer wieder schieben sich martialische Bilder in die Krusten ihrer Alltagswirklichkeit. Plötzlich denkt sie sich wie selbstverständlich einen Lebensgefährten aus: Hans ist da, wenn sie ihn braucht, und steht ihr in jeder Lebenslage zur Seite. Aber das bleibt nicht so. Denn Hans nimmt immer geheimnisvollere Züge an und wird undurchsichtiger in seinen Handlungen, bis er sich auch emotional von ihr zu entfernen scheint. Bei einer Lesung im Literaturhaus Berlin hat Hartz zu den Hintergründen ihres Werkes Stellung genommen. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit könne man den Text, an dem sie zehn Jahre gearbeitet hat, mit einem „Baumkuchen“ vergleichen. Der Aufbau folgt, wie sie darlegt, dem kunstvollen Konzept eines Flügelaltars. Prolog und Epilog – sie weisen mitunter wortidente Passagen auf – lassen sich über die beiden dichotom angelegten Teile des Romans „einklappen“. Aber auch sonst wird die Bildende Kunst zu einer wichtigen Motivquelle. Irgendwann tauchen Romanfiguren sogar in Gemälden auf und verschmelzen mit der Realität. Milena arbeitet viel, vor allem in der Nacht, und sie hat Angst, „Nachtangst“, und Angst vor Neuem. Obgleich Hans viel weg ist, versucht er sie zu beschützen. Sie treffen einander zu Spaziergängen an der Brücke, gehen ins Kino oder essen. Was Hans, der Kulturattaché, beruflich genau macht, bleibt ihr lange verborgen. Er reist viel, etwa nach Wien, und hat mit Ungarn und einigen Balkanstaaten zu tun, wohin die beiden auch einmal gemeinsam fahren. Historisches begleitet die Figuren bis in die Gegenwart: Das Attentat von Sarajevo, Konferenzen nach kriegerischen Auseinandersetzungen oder Trianon ziehen als essenzielle Motivspuren durch die Handlung. In diesem doppelbödig und komplex gewebten Roman geht es um das Schreiben sowie das Erleben und Erfinden auf der Folie von Liebe und Geheimnissen. Hartz hält das flirrende Erzählen gerne in der Schwebe und öffnet es mannigfaltigen Metamorphosen. Kaum hält man inne, um auf Details zu schauen, tun sich dahinter schon neue Horizonte auf: „und es erstaunte mich immer wieder, wie die Sprache, die doch ganz und gar immateriell ist, fähig sei, die materielle Welt zu verwandeln […]“. Rot ist der höchste Ernst Roman von Bettina Hartz Droschl 2022 296 S., geb.,€ 25,–
DIE FURCHE · 10 9. März 2023 Literatur 19 Am 15. März wird der vielfach ausgezeichnete Autor und multimediale Performancekünstler Bodo Hell 80 Jahre alt. Ein Blick auf sein Œuvre und sein aktuelles Buch zeigt die Vielschichtigkeit seines Schaffens. Das unstillbare Bedürfnis nach Lesen in der Landschaft Von Manfred Mittermayer wieder gehen wir in die Landschaft hinaus, in diese KulturNatur (wie sie gemacht wurde „und und wird), hinein in die unberührte oder neu entstehende NaturNatur (von der wir meinen, daß sie von selbst so und so geworden ist und sich selbst überlassen werden sollte), und wir suchen diese Landschaften auch als Nichtfachleute (Amateure/ Liebhaberinnen) wahrzunehmen, mit den geliehenen Blicken von interessegeleiteten Experten (soweit es geht), mit deren speziell fokussiertem Sensorium und deren ein- und ausschließenden Nomenklaturen.“ In seinem unverwechselbaren Stil formuliert der Autor und multimediale Performancekünstler Bodo Hell in seinem eben erschienenen Buch „Begabte Bäume“ (Literaturverlag Droschl) die Ausgangssituation, aus der sich seine literarische Arbeit verstehen lässt: „das Bedürfnis nach Lesen in der Landschaft ist stets vorhanden und angesichts der Überfülle des Gebotenen unstillbar“. Bodo Hell, der am 15. März 2023 seinen 80. Geburtstag feiert, begann seine literarische Karriere als erster Träger des 1972 ins Leben gerufenen Rauriser Literaturpreises; zahlreiche weitere Auszeichnungen sollten folgen, darunter der Erich-Fried-Preis (1991), der Preis der Literaturhäuser (2003), der Heimrad-Bäcker- und der Christine-Lavant-Preis (beide 2017) sowie der Große Kunstpreis des Landes Salzburg (2019). Besonderen Eindruck hinterließ der junge Autor bei seiner Rauriser Lesung mit einer „Weihnachtsgeschichte“, in der mit an den Nouveau Roman erinnernder Detailtreue geschildert wird, wie eine Mutter sorgsam und pflichtbewusst die häuslichen Vorbereitungen auf den Heiligen Abend verrichtet und zuletzt, während die Familie das von ihr selbst noch angestimmte „Stille Nacht“ weitersingt, „ohne Hast das Vorzimmer, die Wohnung, das Haus und die Stadt verläßt“. Imponierende Fülle an Detailwissen Seither ist Bodo Hell mehr als zehn Mal bei den Rauriser Literaturtagen aufgetreten, in Gasthaussälen und im Mesnerhaus, 2013 sogar in der Begräbniskapelle. Auch 2023 wird er wieder zu Gast sein, beim „Gespräch über Literatur“ – denn Hell ist außerdem ein versierter und inspirierender Leser, wie etwa seine „Wiener Vorlesungen zur Literatur“ von 1986 belegen: über literarische Referenzfiguren wie Claude Simon, Samuel Beckett, Virginia Woolf und (natürlich) Friederike Mayröcker. Dass er außerdem wie kein anderer Kommentare und Essays zu den unterschiedlichsten zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern geschrieben hat, darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben – an 90 Beispielen nachzulesen in dem umfangreichen Band „Kunstschrift“ (2017). Es hatte seine besondere Bedeutung, dass der aus Salzburg, der Heimat von Autoren wie Karl Heinrich Waggerl, gebürtige Autor schon mit der ersten Buchpublikation „Dom Mischabel Hochjoch“ (1977) jenen Strang seines Schreibens eröffnete, in dem er der in Österreich so wirkungsmächtigen Tradition der Bergliteratur sein eigenes narratives Modell entgegensetzt. Er verwendet die Natur nicht als Projektionsschirm für die seelischen Befindlichkeiten der in ihr lebenden Menschen, sondern beschreibt bis in jede Einzelheit ihre topografische Physiognomie und die Markierungspraktiken, mit denen wir uns darin zurechtfinden. Hell bewirtschaftet seit vielen Jahren in der nördlichen Steiermark eine Alm, die für ihn durchaus Inspiration ist, wie er sagt, aber ursprünglich schlicht ein „Wirtschaftsraum“, der keine „Verlieblichung und Verharmlosung“ zulässt. Die verbleibende Zeit des Jahres lebt Bodo Hell im niederösterreichischen Kamptal und vor allem seit Jahrzehnten in der österreichischen Hauptstadt Wien, im urbanen Raum, dem ein zweites Segment seiner Literatur gewidmet ist. Legendär sein Buch „Stadtschrift“ (1983), das zum Teil aus der fotografischen Wiedergabe vorgefundenen Sprachmaterials aus dem öffentlichen Wahrnehmungsbereich besteht: Inschriften, Firmenschilder, Wegweiser, Logos – Orientierungsmarken im Gewirr des Großstadtverkehrs. Und auch die im Stil eines Bewusstseinsstroms gehaltene Nachzeichnung des sprachlichen Ablaufs, der sich während einer Busfahrt mit der „Linie 13A“ im Kopf des seine urbane Lebenswelt durchquerenden Individuums vollzieht, enthält neben den aufblitzenden Gedanken auch eine Montage jener sprachlichen Elemente, die entlang der Häuserfronten ins Blickfeld geraten. „ Er verwendet die Natur nicht als Projektionsschirm für die seelischen Befindlichkeiten der in ihr lebenden Menschen, sondern beschreibt bis in jede Einzelheit ihre topografische Physiognomie. “ Bodo Hell Das Spiel mit der Sprache, die Musikalität seiner Texte und eine faktenorientierte Herangehensweise an seine Arbeit zeichnen das Werk des Salzburger Autors (*1943) aus. FEDERSPIEL Bücher retten Foto: Sigrid Landl Seit etwa einem Jahrzehnt verfolgt Hell in Büchern wie „Nothelfer“ (2010), „Ritus und Rita“ (2017) sowie „Auffahrt“ (2019) ein weiteres Projekt: die Beschäftigung mit dem reichen Fundus christlich überschriebener beziehungsweise generierter Inhalte als teilweise in die Vergessenheit abgesunkenes Substrat unserer Kultur, etwa am Beispiel von Heiligenviten – zum Beispiel über die 14 Nothelfer als Ensemble von Heiligen mit bestimmten Zuständigkeiten im System der christlich basierten Lebensbewältigung – und der jahrhundertelang überlieferten Zuschreibung der Wirkungen von Naturphänomenen wie etwa bestimmter Pflanzen – ein Archiv der Volksweisheit und der kollektiven Glaubensinhalte. Wie stets bereichert Hell auch hier seine Texte durch eine imponierende Fülle an Detailwissen und untermauert damit sein Selbstverständnis als „faktenorientierter Autor“. Bei aller Bezogenheit auf real existierende Inhalte strebt er jedoch keine „Nachahmung“ einer wie auch immer zugänglichen Wirklichkeit an. Alle sprachlichen Elemente, auch die überreich einmontierten Zitate, behalten in Hells Texten stets ihren Doppelcharakter als ernsthafte Darstellungsversuche einer konkreten Realität und als ironisch wiedergegebene verbale Fundstücke, die als künstliche und künstlerische Objekte Eingang in seine literarischen Konstrukte finden. Grundlegend ist dabei stets die Musikalität, die der Literatur des ausgebildeten Organisten Bodo Hell anzuhören ist. Sie prägt auch den spezifischen Sound seines eigenen Vortrags und schlägt sich in der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Musikschaffenden nieder. Außerdem hat sich Hell kenntnisreich über Musik geäußert, etwa in einem Essay über Anton Bruckner in der Anthologie „Österreichische Porträts“ (1985). Spiel mit dem „Medusaspiegel“ Seine Verfahrensweise des Ausstellens von sprachlichen Fertigteilen, des Umspielens von vorgefundenen Sprachelementen hat Bodo Hell mit kindlichen Strategien der Abwehr verbaler Machtausübung verglichen – Wortmaterial wird aufgegriffen, so lang wiederholt, bis es seine Bedrohlichkeit verloren hat, und in einer Art „Medusaspiegel“ zurückgeworfen. Die Motivation für sein Schreiben sieht der Autor einerseits in einer literarischen „Gegenrede“ zur herrschenden „Vergewaltigung der Sprache“. Anderseits erhält die sprachliche Formel jedoch, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in neue Kombinationen eingefügt, eine erstaunliche Beweglichkeit, werden durch die standardisierten Sprachmuster mit einem Mal überraschende und oft sehr komische Assoziationen ausgelöst – als Reingewinn eines kunstvollen Spiels zwischen penibler Detailversessenheit und lustvoller Subversion. Der Autor leitet seit 2012 das Literaturarchiv Salzburg und seit 2013 (mit Ines Schütz) die Rauriser Literaturtage. Begabte Bäume Von Bodo Hell Illustrationen von Linda Wolfsgruber Droschl 2023 216 S., geb., € 25,– Von Daniela Strigl Wie halten Sie es mit dem Wegwerfen? Bei mir sammelt sich vor allem Papier, das einem rätselhaften Gesetz der Fortpflanzung unterliegt: Bücher, Seminarunterlagen, Ausdrucke, Kopien, Notizen, Ansichtskarten, und von Zeit zu Zeit trage ich die ausgemusterten Bücher stapelweise ins Stiegenhaus (sie wegzuwerfen bringe ich auch bei literarischer Unerheblichkeit nicht über mich), wo sie erstaunlich schnell neue Besitzer finden, und entsorge den Papierstau in die hauseigene Altpapiertonne. Seit einiger Zeit aber ist es mit meiner Unbekümmertheit vorbei: Ich habe Arno Geigers produktionsästhetische Recycling-Beichte „Das glückliche Geheimnis“ gelesen. Darin erzählt der Wahlwiener aus Wolfurt, wie er seit Studententagen regelmäßig Streifzüge zu öffentlichen Altpapiercontainern unternahm, um sich kostenlos eine Bibliothek zu erwerben, mit dem Verkauf wertvoller Beute (Bücher, Postkarten, Drucke) „leichtes Geld“ zu verdienen und nicht zuletzt: sich den Erfahrungsschatz der gefundenen Tagebücher und Briefkonvolute einzuverleiben und daraus Stoff für seine eigene Literatur zu schöpfen. Die Frage, ob man das denn dürfe, stellt Geiger sich selbst: Das Private ihm unbekannter Menschen verwandle sich durch den Fund in ein Dokument, das wiederum der Autor in Literatur verwandle, anstatt es der Papiermühle zu überantworten. Die deutsche Kritik zeigte sich von dem Problem fasziniert, ein Rezensent erkundigte sich gar bei der österreichischen Polizei nach dem Briefgeheimnis und kam zu dem Schluss, es sei durch Geigers professionelle Neugier verletzt worden. Aber natürlich gilt das nur für verschlossene Briefe, und nicht für sorglos entsorgte. Weshalb das Innenministerium dem Mann beschied, es habe alles seine Ordnung gehabt. Das weiß auch der Polizist im Buch, der den im Container tauchenden Autor bittet, ihm etwaige Kochbücher beiseite zu legen. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin.
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