9 · 2. März 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Aufgabe der Politik, „dem Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern zu dienen und für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen“, hieß es Dienstag dieser Woche in einer schriftlichen Stellungnahme der Hofburg. Und dies gelinge am besten, „wenn Politiker miteinander und auch mit den Institutionen des Staates respektvoll umgehen“, Von Doris Helmberger statt einander zu beleidigen. Van der Bellen hatte wohl keine andere ast wäre die Diskussion schon (vgl. Seiten 6–7). Die Strategie ist taktisch Wahl, wollte er nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Dennoch kann die kollektive Dul- wieder abgewürgt worden, bevor nachvollziehbar: Schließlich hat insbesondere die Kanzlerpartei ÖVP bei beiden Thedung sprachlicher Menschenverachtung in sie überhaupt begonnen hat. Aber nun ist sie doch noch in Schwung men kaum etwas zu gewinnen – und viel zu einer liberalen Demokratie auf Dauer keine Lösung sein. Ebenso ist „Versöhnung“, gekommen: mit konkreten Vorschlägen, Gegenargumenten und Studien. sei es in bundesweiten Umfragen oder bei wie sie Bundeskanzler Karl Nehammer zur verlieren: konkret – Stimmen an die FPÖ, Die Rede ist vom Thema „Arbeit“, zu dem aktuellen Landtagswahlen, etwa kommenden Sonntag jener in Kärnten. und sinngemäß wohl auch in seiner „Rede Aufarbeitung der Pandemie proklamierte sich eine für hiesige Verhältnisse überraschend konstruktive Debatte entsponnen zur Zukunft Österreichs“ am 10. März vor hat. Zwar hatte sie Arbeitsminister Martin Kocher denkbar ungeschickt angesto- Der Schaden dieser Diskussionsverwei- Verhöhnung und Wissenschaftsfeindlich- Wie viel Hetze kann man dulden? Augen hat, angesichts von unerträglicher ßen, indem er Teilzeit – unabhängig von Betreuungspflichten – generell als missliebig lich enorm. Und er nimmt ebenso zu wie ronamanagement, die in dieser Ausnahgerung für die politische Kultur ist freikeit nicht der richtige Weg. Fehler im Co- qualifizierte; dass – angesichts von Arbeitskräftemangel und gestiegenen Ansprü- Kickls: Drei Jahre nach Beginn der Pande- müssen transparent aufgearbeitet werden, die rhetorische Radikalisierung Herbert mesituation zweifellos begangen wurden, chen der Jungen – Arbeit neu gedacht werden muss, ist aber unbestritten. rainekrieges hat dessen Anti-System-Furor wort Epidemiegesetz und effizientere Vermie und ein Jahr nach Eskalation des Uk- um die richtigen Schlüsse zu ziehen – Stich- Auf anderen politischen Themenfeldern ein Ausmaß erreicht, das mittlerweile nicht waltung. Nicht ganz zu Unrecht warnte eine Initiative rund um Ex-Justizminister sind derlei Grundsatzdebatten freilich ein nur Hysteriker an dunkle Zeiten denken Ding der Unmöglichkeit. Über die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – vergangene Woche Kickls Hetz-Rede beim verblödung“ in Österreichs Ministerien. lässt. Jüngster Höhe- bzw. Tiefpunkt war Clemens Jabloner dieser Tage vor „Selbst- insbesondere im Wettbewerb mit privaten Politischen Aschermittwoch in Ried. Politiker und Kirchenvertreter seien „degeneten, die das Virus der Demokratiefeindlich- Die Gräben gegenüber jenen zuzuschüt- Medien – wird abseits von Expertenzirkeln eher polemisiert und agitiert als diskutiert; riert“, der Bundespräsident überhaupt eine keit kultivieren, sollte man sich aber lieber und die Debatte über Österreichs Neutralität wurde vom Bundeskanzler überhaupt Prompt leitete die Staatsanwaltschaft Ried nicht tief genug. „senile Mumie“ und ein „Staatsgefährder“. zwei Mal überlegen. Manchmal sind sie gar ex cathedra für beendet erklärt – was die ein Ermittlungsverfahren wegen Ehrenbeleidigung ein. Van der Bellen gibt Kickl je- doris.helmberger@furche.at Verteidigungsministerin auch im FUR- CHE-Interview pflichtschuldigst befolgt doch nicht zur Strafverfolgung frei. Es sei @DorisHelmberger Möchten Sie noch einmal jung sein? Nein? Damit sind Sie wohl nicht allein. Nicht nur Krieg und Klimakrise verdüstern den Lebenshorizont der Jungen, auch das Studium gestaltet sich herausfordernder als früher. Was Letzteres mit dem Universitätsgesetz von 2002 und der Causa Aschbacher zu tun hat, fragen Martin Tauss und Jana Reininger im Fokus „Unis im Ausverkauf?“ Wie es mit Österreichs Bundesheer und der Neutralität weitergehen soll, erklärt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner im Interview mit Brigitte Quint und Wolfgang Machreich. Ergänzend bietet der Kompass zwei kundige Analysen des Moskauer Patriarchen Kyrill I. – sowie eine Würdigung von Kurt Schubert, dem die Wiener Uni ihre Wiedereröffnung nach 1945 verdankt und der dieser Tage 100 Jahre alt würde. Auch das Thema Bildungskarenz wird beleuchtet. Mit dem Wichtigsten überhaupt – dem Essen – beschäftigt sich das Dommuseum in seiner Schau „Mahlzeit“. Rainer Moritz empfiehlt zudem das Romandebüt von Honorée Fanonne Jeffers, Georg Wick plädiert für „Exospektion“ – und ich plädiere dafür, auf Seite 14 zu blättern: Dort finden Sie unsere neue, dialogische Kolumne „Erklär mir deine Welt“ mit Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger. Nicht nur das Jung-, auch das Altsein kommt hier zur Sprache. Aber lesen Sie selbst. (dh) Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 10 16 Forum 9. März 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Aus dem Rahmen LITERATUR Die bei den Rauriser Literaturtagen 2023 präsentierten Texte (von Autorinnen und Autoren wie Helene Adler, Anna Baar, Bodo Hell, Cvetka Lipuš, Gudrun Seidenauer …) verhandeln Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, von Anpassung und Abweichung – nicht selten (und passend zur Tradition des Festivals) über die kritische Untersuchung regionaler, nichturbaner Lebensräume. Rauriser Literaturtage Rauris, 29. März bis 2. April 2023 www.rauriser-literaturtage.at Haydnregion Niederösterreich FESTIVAL Das Klassikfestival „Haydnregion Niederösterreich“ geht unter dem Motto „Mythos Haydn“ 2023 in seine sechste Spielzeit. Die Saisoneröffnung im Haydn-Geburtshaus Rohrau erfolgt am 26. März mit einem musikalischen Schwerpunkt zu Haydns Englandreisen. Am 23. April findet ein Gespräch unter dem Titel „Für einen sozialen Klimawandel“ statt. Haydnregion Niederösterreich Haydn-Geburtshaus Rohrau ganzjähriges Festival www.haydnregion-noe.at Allez hop: Was kommt denn da? KINDERMUSIK Von weit her und hoch oben bläst ein goldener Wind seltsame Klänge über die Wiese. Dandelion wird mulmig zumute – so gruselig und ungemütlich war es auf der Wiese schon lange nicht mehr! Poppy schickt dem Wind eine empörte Nachricht auf sein Gebläse zurück. Was er wohl antwortet? Die Veranstaltung richtet sich an Kinder von drei bis fünf Jahren. Allez hop: Was kommt denn da? Konzerthaus Wien bis 31. März 2023 konzerthaus.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Ad multos annos! Auch im Abschied bleibt die Nähe ... Von Heinz Nußbaumer Nr. 8, Seite 14 Durch viele Jahre bin ich Prof. Heinz Nußbaumer im Geist verbunden. Als der Ältere muss ich feststellen, dass unsere Beurteilungen und Zugänge zu den Zeiterscheinungen heute oft nicht mehr geteilt werden. Mögen Jüngere das richtige „Werkzeug“ finden, um dem „Material“ von Hass, Unglaube, Lüge und Desinteresse beizukommen. Ich würde mich täuschen, würde ich Heinz Nußbaumer ab nun als den bloßen Beobachteter erleben. Deshalb mein Wunsch: weiterhin Gesundheit und Geisteskraft! Ad multos annos! Franz Winter, via Mail Notwendige Abgrenzung Ein Virus, das bleibt Von Doris Helmberger. Nr. 9, Seite 1 Vielen Dank für Ihren Leitartikel. Sie haben bewiesen, wie man mit ausgezeichneter Wortwahl Dinge auf den Punkt bringt. Danke auch für Ihre Abgrenzung zu den Demokratiefeinden. Hier können die Gräben wirklich nicht tief genug sein. Leider versucht die ÖVP immer wieder, diese Gräben zu überspringen – siehe Oberösterreich. Wolfgang Ortner, 4600 Wels Wichtige Versöhnung wie oben Wie Bundeskanzler Nehammer die Versöhnung zur Aufarbeitung der Pandemie angehen möchte, ist noch offen. Dass Versöhnung aber schon von vornherein nicht der richtige Weg sein soll, kann ich nicht nachvollziehen. Es wird gerne übersehen, dass es eine große Bandbreite von Menschen gibt, die mit der Coronapolitik ein Problem gehabt haben. Und da sind viele Menschen darunter, die mit Demokratiefeindlichkeit nichts am Hut haben. Da waren zum Beispiel Menschen, die haben schon lange vor Covid-19 entschieden, dass sie sich nicht impfen lassen wollen. Mit der 3G-Politik, die ohne Notwendigkeit viel zu lange aufrecht war, wurden diese Menschen aber in vielen Bereichen ausgeschlossen, auch wenn sie auf andere Menschen geachtet haben, indem sie 2G sehr wohl eingehalten hätten. Die haben niemandem geschadet, wurden aber und werden noch immer behandelt, als hätten sie unsere Welt an den Abgrund gebracht. Um diese Menschen wieder für die Politik zu gewinnen, wären das ehrliche Eingestehen von Fehlern (ein Abschieben der Verantwortung auf die Experten gehört hier nicht dazu) und eine Versöhnung ein wichtiger Schritt. Im Übrigen stünde es auch der Wissenschaft gut an, darzustellen, dass sie nicht schon für alles die Wahrheit besitzt, sondern erst durch Versuch und Irrtum, Prüfen und Gegenlesen durch Fachleute zu Forschungsergebnissen kommt, die mit immer größerer Wahrscheinlichkeit der Realität entsprechen. Danke dessen ungeachtet für DIE FURCHE. Es ist mir Woche für Woche ein Freude, sie zu lesen. Thomas Rögner, via Mail „Wir sind keine Trittbrettfahrer“ Interview mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner über Raketenangriffe als Risiko für Österreich, gefährliche Stimmen zur Neutralitätsdebatte und Aufrüsten als Antwort auf die Zeitenwende. · Seiten 6 – 7 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Drei Jahre nach Pandemiebeginn ist Covid-19 ebenso endemisch geworden wie das Gift im politischen Diskurs. Über Debatten zwischen „Verhöhnung“ und falscher „Versöhnung“. Ein Virus, das bleibt F „ Die Gräben gegenüber Demokratiefeinden zuzuschütten, sollte man sich lieber zwei Mal überlegen. “ Uni im Ausverkauf? Hochschulen als Geschäftsmodell, Doktortitel im Sonderangebot: Wie ein geistiger Klimawandel die akademische Landschaft verändert. Wie wir essen „Mahlzeit“ sagt das Dom Museum Wien und zeigt Kunst quer durch die Epochen zum Thema Nahrung und Ernährung. · Seite 17 Hauptbild: R. Messerklinger (unter Verwendung eines Fotos von iStock / Michael Burrell); Kyrill: APA / AFP / Pool / Alexander Zemlianichenko; Tanner: HBF / Laura Heinschink Totsparen darf nicht das Ziel sein Ex-Stiftungsrat Franz Küberl: Das ORF-Gesetz 2001 war die letzte intelligente Intervention der ÖVP in Sachen ORF. · Seite 21 Todeskult und „Märtyrer“ Russlandkenner Ernst Trummer und Theologe Jan-Heiner Tück über Patriarch Kyrill und krude Kreml- Ideologen, die den russischen Krieg in der Ukraine religiös verbrämen. Seiten 10 – 11 INTRO furche.at Grundwerte verteidigen „Wir sind keine Trittbrettfahrer“ Interview mit Klaudia Tanner Nr. 9, Seiten 6–7 Im FURCHE-Gespräch sagt Verteidigungsministerin Tanner, dass die umfassende Landesverteidigung wiederbelebt werden muss. Zwei wesentliche Komponenten davon sind die geistige und die wirtschaftliche Landesverteidigung. „Wiederbeleben“ ist der richtige Ausdruck, weil diese Bereiche zumindest im vergangenen Jahrzehnt sträflich vernachlässigt wurden. Warum hat das Verteidigungsministerium nie dagegen protestiert, dass Österreich in eine derartige Abhängigkeit von russischem Gas manövriert wurde? Im vergangenen Jahr hat Österreich für Gaslieferungen circa 7000 Millionen Euro in die Kriegskasse Putins gezahlt, demgegenüber stehen laut Ministerin Tanner nur 126 Millionen Euro an finanziellen Hilfen an die Ukraine. Das ist die wahre Gefährdung der Neutralität Österreichs, nicht – wie etwa Herr Kickl behauptet – die Beteiligung an den halbherzigen Sanktionen der EU. Um den Krieg in der Ukraine zu verkürzen, müssten alle demokratischen Staaten ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland sofort und vollständig beenden und so unmissverständlich zeigen, dass sie mit einem Regime, das ein Nachbarland überfällt und zu zerstören versucht, nichts mehr zu tun haben wollen. In der geistigen Landesverteidigung geht es darum, Grundwerte wie Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu vermitteln und die Bereitschaft zur Sicherung der staatlich-gesellschaftlichen Lebensgrundlagen zu fördern. In diesem Sinne hätte das Verteidigungsministerium jene Vertreter von Wirtschaft und Industrie entschieden zur Ordnung rufen müssen, die gleich nach Ausbruch des Ukraine-Krieges laut verkündet haben, dass Österreich ohne russische Gas- und Öllieferungen zusammenbrechen würde. Stattdessen hätte deutlich gemacht werden sollen, dass wir uns nicht erpressen lassen und eventuelle Nachteile solidarisch verteilen und aushalten werden. Franz Pauer, 6020 Innsbruck Und China schaut zu Das perfide Vorspiel Von Brigitte Quint. Nr. 8, Seite 1 Vielen Dank für Ihren wieder sehr guten Leitartikel. Ich persönlich teile die Meinung der zitierten Sicherheitsexperten, wenn diese vermuten, dass sich China in zwei, drei Jahren Taiwan zuwenden wird. China betrachtet, glaube ich, den ganzen Ukraine-Krieg aus der Entfernung und bereitet sich zugleich in Ruhe auf eine Annexion von Taiwan vor. Vielleicht oder wahrscheinlich sogar spielt es China auch in die Hände, dass sich die USA und Europa militärisch und finanziell in der Ukraine engagieren und ihre Waffenund Munitionsvorräte leeren. Peter Weichselbaumer, via Mail Bildungsverwirrung Migration, Größenwahn und ein Anschlag. Von Walter Dobner Nr. 8, Seite 18 Danke Herrn Dobner für sein „Quo Vadis Radio-Symphonieorchester“. Im ORF folgt Serie auf Serie, Sportübertragung folgt Sportübertragung – und das Symphonieorchester soll weichen? Was für ein Armutszeugnis für eine sogenannte Kulturnation! Und was noch mehr erschüttert: Der Aufschrei ist ausgeblieben! Hoffentlich erhält die Petition auf mein.aufstehn.at ausreichend Stimmen, um dieser Bildungsverwirrung erfolgreich Einhalt zu gebieten und dafür bei Verblödungsprogrammen zu sparen. Monika Stangl, via Mail Die weitere Freitagsziehung bei Lotto „6 aus 45“ bringt wieder 300.000 Euro extra. Lotto Bonus- Ziehung am 10. März Rennfahrerin und Motorsportexpertin Bianca Steiner ist diesmal zu Gast im Lotto Studio und moderiert am Freitag, den 10. März 2023 die dritte Lotto Bonus-Ziehung des Jahres. Ob es ihr auch gelingen wird, dass sich „ihre Zahlen“ als Tipp mit den sechs Richtigen auf einem Lotto Schein finden, bleibt spannend. Es wäre heuer jedenfalls eine Premiere, denn die letzten beiden Lotto Bonus-Ziehungen sorgten jeweils für einen Anstieg einer Jackpot-Serie und blieben damit ohne Sechser-Gewinn. Sicher ist jedenfalls, dass es wieder einen „Bonus“ in Form von 300.000 Euro geben wird, die Gewinnerin bzw. der Gewinner wird im Anschluss an die Ziehung ermittelt. Es erfolgen wie immer auch am Freitag die Ziehungen von LottoPlus und Joker. Annahmeschluss für die Bonus-Ziehung ist am Freitag, den 10. März 2023 um 18.30 Uhr, die Ziehung ist um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Bianca Steiner im Lotto Studio Foto: © ORF / Günther Pichlkostner IN KÜRZE RELIGION ■ Neunköpfiger Kardinalsrat RELIGION ■ Vertuschungsvorwürfe GESELLSCHAFT ■ Frauenkampftag GESELLSCHAFT • BILDUNG ■ Gleichberechtigte Bildung Papst Franziskus stellt den Kardinalsrat, sein wichtigstes Beratergremium, neu auf. Neu sind der Luxemburger Jean-Claude Hollerich (64), der auch eine Schlüsselrolle bei der Bischofssynode spielt, sowie Juan Jose Omella/Barcelona (76), Gerald Lacroix/Québec (65), Sergio da Rocha/Salvador da Bahia (63) und der Regierungschef des Vatikanstaats, Fernando Vergez Alzaga (78). Weiterhin Teil des Beratungsorgans bleiben Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin (68), Sean Patrick O’Malley/Boston (78), Oswald Gracias/Bombay (78) sowie Fridolin Ambongo/ Kinshasa (63). Ausgeschieden ist dagegen der Münchener Kardinal Reinhard Marx. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. soll einem polnischen Medienbericht zufolge vor seiner Papstwahl Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche Polens vertuscht haben. In seiner Zeit als Kardinal und Bischof von Krakau habe Karol Wojtyła von Pädophiliefällen gewusst, berichtete der Privatsender TVN unter Berufung auf Recherchen des Journalisten Marcin Gutowski. Wojtyła soll auf Versetzungen gesetzt haben. Einer der Priester sei von dem späteren Papst nach Österreich geschickt worden. Wojtyła habe diesen dem damaligen Wiener Kardinal König empfohlen. Der 112. Frauentag am 8. März stand dieses Jahr unter dem Eindruck der weltpolitischen Lage. UN-Generalsekretär António Guterres zeichnete ein düsteres Bild: „Das Patriarchat schlägt zurück.“ Der über Jahrzehnte von Frauen erkämpfte Fortschritt verschwinde weltweit vor unseren Augen. „Von der Ukraine bis zur Sahelzone treffen Krisen und Konflikte Frauen und Mädchen zuerst und am schlimmsten“, sagte Guterres. Dagegen gelte es mit aller Macht anzukämpfen. Zahlreiche Frauenrechtsorganisationen sahen nicht zuletzt deshalb den diesjährigen Frauentag als Kampftag an: „Es gibt nichts zu feiern.“ Echte Gleichstellung, und das schon in der Schule: Das Bildungsministerium will den Grundsatzerlass „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“ im Alltag fokussieren. Dazu wird es neue Lehrgänge geben und in den Schulen darum gehen, Vorurteile abzubauen. „Geschlechterstereotype prägen Selbstkonzepte und damit auch die Ausbildungs- und Berufsorientierungen von Mädchen und Buben“, wird Minister Martin Polaschek in einer Aussendung zitiert. Die Herausforderungen der Gegenwart von Klimawandel bis Fachkräftemangel seien aber nur mit echter Gleichstellung zu bewältigen.
DIE FURCHE · 10 9. März 2023 Philosophie 17 Michel de Montaigne (1533 ‒1592) zeigte den Fanatismus von Ideologien auf. Der Historiker Volker Reinhardt skizziert in s einer Biografie Leben und Werk des Philosophen. Von Nikolaus Halmer lebe zu einer Zeit, in der es durch die Zügellosigkeit unserer Bürgerkriege von unglaublichen Beispielen „Ich dieses Lasters der Grausamkeit nur so wimmelt“, schrieb Michel de Montaigne angesichts des Bürgerkriegs zwischen Katholiken und Hugenotten im Frankreich des 16. Jahrhunderts. Im Namen der Religion kam es zu Ausbrüchen von beispielloser Brutalität, die ganz Frankreich erfasste und Montaigne zutiefst schockierte: „Ehe ich es gesehen habe, habe ich mir gar nicht denken können, dass Menschen so barbarisch sein sollten, aus bloßer Mordlust einen Mitmenschen zu töten, ihm Glieder abzuhacken, mit allem Scharfsinn unbekannte Qualen und neue Todesarten auszudenken.“ Diesen höchst aktuellen Aspekt einer hemmungslosen Gewaltorgie, in der jegliche Humanität verlorengeht, stellt der in Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt an den Beginn seiner Montaigne-Biografie, die den Titel „Philosophie in Zeiten des Krieges“ trägt. Dem humanistischen Denker ging es darum, die Borniertheit und den Fanatismus von Ideologien und Religionen aufzuzeigen, die er für die Gewaltexzesse machte. verantwortlich Der überschätzte Mensch In seinem umfangreichen Hauptwerk „Essais“ entwarf Montaigne ein Alternativprogramm zu den Diskursen des Hasses. Montaigne plädierte für eine gelassene Grundhaltung, die helfen sollte, die katastrophalen Verhältnisse seiner Zeit zu ertragen. Er verstand sein Lebensprojekt und seine Schriften als Experiment, das von Offenheit und Toleranz geprägt war. Das Ziel war die Ausbildung einer Lebenskunst, die sich nicht um zeitgenössische Konventionen kümmert. „Hast du dein Leben zu bedenken und zu führen gewusst“, schrieb Montaigne, „so hast du das Größte aller Werke vollbracht.“ Nach dieser Einleitung formuliert Reinhardt das Ziel seiner Studie: Er will einen Montaigne präsentieren, „der zwischen Zweifeln und Verzweiflung, Hoffnung und Enttäuschung nach Auswegen aus einer scheinbar ausweglosen Krise sucht und dabei zu Erkenntnissen vorstößt, die bis heute verstören können und gerade dadurch zum selbständigen und vorurteilslosen Denken zwingen“. Geboren wurde Michel de Montaigne am 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne in der Nähe von Bordeaux als Sohn einer wohlhabenden adeligen Familie. Er erhielt eine humanistische Erziehung, studierte Rechtswissenschaften in Toulouse und Bordeaux, wo er nach dem Abschluss eine Stelle als Parlamentsrat annahm. Bereits mit achtunddreißig Jahren zog er sich aus dem öffentlichen Leben auf sein Schloss zurück. In der Bibliothek, in der er nach eigener Aussage „die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden des Tages verbrachte“, widmete er sich der ausführlichen Lektüre antiker Autoren und begann an den ersten Bänden seines Hauptwerks „Essais“ zu arbeiten, deren erste Auflage 1580 erschien. Den Rückzug in die Einsamkeit seiner Bibliothek rechtfertigte er mit dem Argument, sich vor dem „Herdendenken“ der zeitgenössischen Gesellschaft zu schützen. Die Bibliothek – „dieser Ort der süßen Weltflucht“, wie er ihn nannte – gab ihm die Möglichkeit, „frei und unbeschwert zu leben, nachzudenken, zu lesen und zu schreiben“. Unterbrochen wurde sein Eremitendasein durch Reisen nach Italien, Deutschland und in die Schweiz und durch die Tätigkeit als Bürgermeister von Bordeaux, die er von 1582 bis 1585 ausübte. Danach verbrachte er die restlichen Jahre seines Lebens in der Lese-, Denk- und Arbeitsklause des Schlosses, wo er am 13. September 1592 starb. Ein Schwerpunkt von Montaignes Reflexionen in den „Essais“ war die Einsicht der maßlosen Selbstüberschätzung des Menschen, worauf Reinhardt explizit hinweist. Im Gegensatz zu Pico della Mirandola, der den Menschen als „großes Wunder“ bezeichnete, schrieb Montaigne: „Gibt es etwas Lächerlicheres als diese elende und schäbige Kreatur, die nicht einmal sich selbst beherrschen kann?“ Auch die Vorstellung, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, wird von Montaigne destruiert: „Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie sich die Zeit nicht mehr mit mir vertreibt, als ich mir mit ihr?“ Die Gleichsetzung von Tier und Mensch taucht bei Jacques Derrida auf, der, als er nackt im Badezimmer auf seine Katze trifft, Scham empfindet. Mit Derrida verbindet Montai gne eine gewisse Ähnlichkeit der Schreibweise. „Wie mein Geist mäandert, so auch mein Stil“, notierte Montaigne. Es finden sich keine stringenten Argumentationen, die ein bestimmtes verfestigtes Denksystem anstreben. Abschweifungen, Anspielungen und zahlreiche Zitate lateinischer und griechischer Philosophen sind charakteristisch für die „hüpfende, springende Gangart“ von Montaignes Stil, wie in den „Essais“ ersichtlich ist. Selbst im Zentrum seines Werks In den „Essais“ erzählt Montaigne hauptsächlich von sich selbst. „Ich selbst bin der einzige Inhalt meines Buches“, bekannte er; „ich schildere nicht das Sein, ich schildere das Unterwegssein – von Tag zu Tag, von Minute zu Minute.“ Dieser radikale Wille zur öffentlichen Selbstentblößung sorgte für vielfältige Irritationen. Blaise Pascal sah in diesem Projekt „ein dümmliches Vorhaben, sich selbst abzumalen“. Montai gne ließ nämlich das Lesepublikum an seinen Foto: imago / Kharbine-Tapabor (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Für ein selbständiges Denken Vorlieben teilhaben. Er beschreibt seine Essgewohnheiten, die körperlichen Bedürfnisse und schildert seine gesundheitliche Disposition. Er gibt pädagogische Ratschläge, in denen er sich gegen das Auswendiglernen und bloßes Faktenwissen ausspricht. Erreicht werden sollte vielmehr eine intellektuelle Kompetenz, „die es dem Lernenden erlaubt, das erworbene Wissen auf verschiedene Gegenstände anzuwenden“. Der Autor warnt vor der Trunkenheit; denn „es gibt für einen Menschen keinen schlimmeren Zustand, als wenn er seiner selbst nicht mächtig ist“. Ein zentrales Thema ist der Tod – „Philosophie heißt sterben lernen“, denn „die Unvorhersehbarkeit des Todes macht es ratsam, sich mit ihm auseinanderzusetzen, statt ihn zu verdrängen“. Ein eigener Essay war „den starken Emotionen“ gewidmet; „diese überwältigenden Empfindungen und Leidenschaften können wir nicht ausdrücken und anderen mitteilen“. Ein Beispiel einer solch intensiven Leidenschaft war die Freundschaft mit Étienne de La Boétie – dem Autor des Buches „Über die freiwillige Knechtschaft“. Die Erfahrung, dass zwei Menschen einander bedingungslos vertrauen, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben, war für Montaigne das entscheidende Merkmal einer wahren Freundschaft. In ihr herrsche, so notierte er, „eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die immer gleich wohlig bleibt; eine dauernd stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt“. „ Er verstand sein Lebens projekt und seine Schriften als Experiment, das von Offenheit und Toleranz geprägt war. “ Montaigne äußerte sich kritisch gegenüber Biografen, die „alle Handlungen eines Menschen ordnen und erklären wollen“, um ein möglichst widerspruchsfreies Porträt der entsprechenden Person zeichnen zu können. Dieser Einwand trifft keineswegs auf Reinhardts Biografie zu. Ganz im Gegenteil: Als kundiger Cicerone erkundet er das verzweigte Terrain von Montaignes „Essais“, wobei sein eleganter Stil die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen macht, was in der wissenschaftlichen Literatur eher selten der Fall ist. Reinhardts Fazit der „Essais“ lautet: „Für das 21. Jahrhundert mit seinem Hang zu unduldsamer Korrektheit und Ausblendung unliebsamer Meinungen ist Montaigne von höchster Aktualität.“ Er empfiehlt, den Ratschlag des Philosophen zu befolgen: „Ich gehe auf denjenigen zu, der anderer Meinung ist als ich, denn er bereichert mich.“ Montaigne Philosophie in Zeiten des Krieges Biographie von Volker Reinhardt C. H. Beck 2023 330 S., geb., € 30,80 Essais Von Michel de Montaigne Übersetzt von Hans Stilett Die Andere Bibliothek 2016 576 S., geb., € 91,50 Michel de Montaigne Mit seinem Hauptwerk „Essais“ ebnete er der Literaturgattung des Essays den Weg. Als idealer Ort der Einsamkeit und „süßen Weltflucht“ zählte die Bibliothek zu den Lieblingsorten des Philosophen.
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