Aufrufe
vor 1 Jahr

DIE FURCHE 09.03.2023

  • Text
  • Furche
  • Menschen
  • Franziskus
  • Papst
  • Kirche
  • Wien
  • Gehirn
  • Frauen
  • Zeit
  • Montaigne

DIE

DIE FURCHE · 10 14 Diskurs 9. März 2023 AUS DEM FURCHE-NAVIGATOR Peter Weibel im Gespräch mit Hartwig Bischof, 3.10.2002 Menschen brauchen kulturelle Systeme Um die Schnittflächen zwischen Kunst und Religion ging es in einem Gespräch, das Hartwig Bischof 2002 mit dem Medienkünstler, Ausstellungsmacher und Theoretiker Peter Weibel für DIE FURCHE führte. Kunst und Kirche sah Weibel in einer ähnlichen Situation: an den Rand gedrängt und in Gefahr, sich der Unterhaltungsindustrie anzupassen. DIE FURCHE: Die Kunst hat in den letzten 150 Jahren eine Revolution nach der anderen durchgemacht. Die Kirche scheint dabei völlig außen vor geblieben zu sein. Peter Weibel: Die Kirche hat in ihrer Majorität vor allem den Wechsel der Medien nicht mitvollzogen und nicht gesehen, wie wesentliche Inhalte in den neuen Medien vorangetrieben werden. Es gibt Ausnahmen, wie zum Beispiel Monsignore Otto Mauer oder Marie-Alain Couturier in Frankreich. Das hätte der Weg sein können, dass Kirchenleute erkennen, wer sind bedeutende Architekten – wie LeCorbusier –, und die dann bitten, ein sakrales Gebäude zu machen, wie Mauer es erkannt hat bei Arnulf Rainer oder Joseph Beuys. Mauer hat ja bereits in den sechziger Jahren eine große Galerieausstellung mit Joseph Beuys gemacht – eine revolutionäre Tat. DIE FURCHE: Im zwölften Jahrhundert waren 99 Prozent der Künstler in Europa christlich sozialisiert. Heute sehen viele Künstler das Christentum nur mehr von außen. Kann es sein, dass unter diesen Voraussetzungen auch von Seiten der Künstler eine Ungleichzeitigkeit als Hindernis wirkt? Weibel: Die technische Entwicklung hat natürlich nicht nur diese Vielfalt der Medien und Trägermaterialien hervorgebracht, sondern insgesamt die großen Erzählungen, wie man das von der Postmoderne weiß, fragmentarisiert. Das bedeutet, dass es keine große Erzählung mehr gibt – nicht nur darüber, wie diese Welt entstanden ist, sondern auch wie wir jetzt und auch nach dem Ende über den Tod hinaus mit ihr zurechtkommen. Nun gibt es viele Heilsversprechungen, angefangen von den religiösen Sekten, die ja noch das Harmloseste sind; der Kapitalismus selber ist ja eine Heilsversprechung, er ist ein enormer Religionsersatz geworden. Auch die Kirche, die Religion ist in die gleiche Konkurrenz geraten wie die Medien und die Kunstgattungen selber. DIE FURCHE: Gibt es hier einen Ausweg, sowohl für die Kunst als auch für die Kirche? Weibel: Ich hätte schon eine Idee, wie die Kirche aus diesem Dilemma herauskommen kann. Der Preis ist natürlich hoch, denn die Kirche hat in diesem Wettbewerb das Monopol auf Attraktivität verloren. Man muss ja als Bonmot sagen: Manche Jugendliche haben in einer Diskothek mit ihrem Lichtgewitter mehr Ekstaseerfahrung als früher in den Lichträumen einer Kathedrale. Aber wenn die Kirche diese Rolle in adaptierter Form annimmt, wird sie nicht mehr ein religiöses, sondern ein kulturelles System. Und als solches wird sie im Sinne der Kulturwissenschaft dann wieder gleichwertig. Interessant ist, dass die Menschen mehr und mehr erkennen, dass sie kulturelle Systeme brauchen. Sogar im Turbokapitalismus sieht man, dass das alleinige Verfolgen von turbokapitalistischen Idealen dieses System selbst bedroht. Lesen Sie hier den ganzen Text: Am 1. März ist der Medienkünstler, Theoretiker, Kurator und Museumschef Peter Weibel kurz vor seinem 79. Geburtstag in Karlsruhe gestorben. Foto: APA / Georg Hochmuth NACHRUF Bitte verstehen Sie mich richtig! ERKLÄR MIR DEINE WELT Lieber Herr Gaisbauer! Johanna Hirzberger Journalistin Herzlichen Dank für Ihre Worte an mich. Es freut mich, aus meiner feministischen Blase geholt zu werden. Gleichzeitig bin ich ehrlich mit Ihnen: Es gleicht für mich einem Drahtseilakt, meine Perspektive zu teilen, ohne dabei zu scharf zu klingen. Doch es ist mir wirklich ein Anliegen, mit Ihnen in einen respektvollen Dialog zu treten und Ihre Welt zu entdecken. Auch mich verunsichert der Zeitgeist manchmal. Ist es etwa schon kulturelle Aneignung, wenn ich mir einen schwarzen Eyeliner auftrage? Mich stört es, dass mir jemand mein Make-up verbieten will. Gleichzeitig bin ich woke und weiß: Als weiße Frau westlicher Herkunft ist mein Phänotyp ein Privileg. Bis vor Kurzem habe ich dies nicht hinterfragt. Aber was maße ich mir an, wenn ich über die Wahrnehmungen erlebter Diskriminierung benachteiligter Gruppen urteile? Sie sehen, ich mache mir viele Gedanken; mein Tagebuch hilft mir dabei, den Überblick zu behalten. Neue Sprache, neue Dynamiken Auch wenn Sie der Zeitgeist verwundert, glaube ich, dass er etwas Positives für Sie und uns alle bringt. Beginnen wir bei der Sprache: Neue Wortschöpfungen und das Gendern sind für viele anstrengend. Für mich ist es aber eine Frage des Anstandes, meine Sprache bestmöglich anzupassen, damit sich so viele Menschen wie möglich respektiert fühlen. Nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich auch Ihren Text dreimal lesen musste, bis ich sozusagen vom Bankett in die Fahrspur fand. (Das offen zu schreiben gehört auch zu dieser neuen Generation, die viele aufregt.) Bitte verstehen Sie mich richtig, ich kritisiere nicht Ihre Art zu schreiben, ich bin sie nur nicht gewohnt. Neben der Sprache ändern sich dank Social Media auch manche Dynamiken: Berufsstand und Vermögen reichen nicht mehr aus, um gesehen und gehört zu werden. Daniela Brodesser hat sich etwa auf „ Mit dem Stempel ,Alter weißer Mann‘ dürfen nun auch Menschen, die bisher kaum negativ stereotypisiert wurden, erleben, wie sich das anfühlt – und etwaige blinde Flecken reflektieren. “ Geborgen in Bibliotheken In Marco Wilms’ Film „Peter Weibel. Mein Leben“ (2010) (nachzusehen in der TVthek des ORF) sieht man den Medienkünstler, Theoretiker, Kurator und Museumschef begeistert in der Nationalbibliothek in Paris stehen, in dem beeindruckenden ovalen Leseraum. „Das ist eine echte Galaxie der Buchstaben“, schwärmt Weibel, dessen Interesse von Literatur bis zu Logik und Mathematik reichte. „Ich habe immer gesagt, die Weltliteratur ist ein Navigationssystem. [...] Die Sterne sind ja helle Punkte in der dunklen Nacht, das sind gewissermaßen weiße Buchstaben auf der schwarzen Seite des Himmels. Aber umgekehrt die Bücher, das sind ja weiße Seiten, und da sind drauf schwarze Buchstaben, also die Buchstaben sind schwarze Sterne auf dem weißen Himmel der Seite. Und ich habe mich immer hier gefühlt wie ein Navigator, wie ein Kosmologe, ein Pilot, der sozusagen mithilfe der Buchstaben durch das riesige Universum nicht nur des Wissens über die Welt, sondern direkt durch die Welt navigiert.“ Geborgen und beschützt fühle er sich in Bibliotheken, erzählt er und gewährt Blicke in die Kindheit: Geboren am 5. März 1944, wächst er in einem Lager in Ried im Innkreis auf – und im Internat. Die Abwesenheit der Mutter ist dort der große Schmerz, gegen den er zu sich selbst spricht: Du musst dir das abgewöhnen. Du brauchst keine Liebe, du brauchst keine Mutter. Eine andere Seite des Medienkünstlers, den man sonst als Provokateur und Avantgardisten in Erinnerung hat: Legendär die Aktion „Kunst und Revolution“ an der Wiener Uni 1968, ebenso sein Gang durch die Wiener Innenstadt auf allen Vieren an der Leine von Valie Export. Er interessierte sich früh für Video- und Computerkunst und prägte die Medienkunst seiner Zeit wie kaum ein anderer. Mehrere internationale Professuren hatte er inne, seit 1999 leitete er das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien. Seine Haltung bezeichnete er selbst als antikünstlerisch: Nicht um ein Produkt für Galerien sei es ihm gegangen, Kunst sei für ihn ein Ausdrucksmittel, ein Mittel. (Brigitte Schwens-Harrant) Twitter als Armutsbetroffene zur Wehr gesetzt. Heute hält sie Vorträge, ist Autorin und gründete eine Onlineplattform gegen Armutstabus. Armut im Alter betrifft übrigens vor allem Frauen. Die Gründe: prekäre Beschäftigungsverhältnisse, zu wenig Kinderbetreuungsangebote, Gender-Pay-, Vermögens- und Erb-Gap. Auch wenn es den Frauentag schon seit 48 Jahren – bzw. in der Arbeiter(innen)bewegung seit 1911 – gibt, ist das Ziel der Gleichberechtigung trotz Mut und Ausdauer noch nicht erreicht. Nehmen Sie es mir also bitte nicht übel, wenn ich mich über Ihr Gefühl der Bedrücktheit fast ein wenig freue. Das klingt hart, ist aber versöhnlich gemeint. Ohne eigenes Verschulden negative Eigenschaften zugeschrieben zu bekommen, ist richtig unfair. Mit dem Stempel „AWM“ („Alter weißer Mann“) dürfen nun auch Menschen, die bisher kaum negativ stereotypisiert wurden, erleben, wie sich dies anfühlt – und reflektieren womöglich ihre blinden Flecken. So wie ich mich bemühe, meine zu reflektieren. Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass Sie nicht zum Misanthropen werden. Dass Sie mit mir in Dialog treten, deutet eher auf eine in Ihnen schlummernde wokeness hin. Mal sehen, ob sie zum Vorschein kommt! Ihre Johanna Hirzberger Die Autorin arbeitet für „Radio Radieschen“ und Ö1. Den ersten Brief von Hubert Gaisbauer, auf den sie antwortet, lesen Sie in FURCHE Nr. 9. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: 01 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Bezugsabmeldung nur zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger 01 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 10 9. März 2023 Diskurs 15 Der öffentlich-rechtliche Auftrag des ORF umfasst auch das Objektivitätsgebot. Mit tendenziösen Beiträgen droht man das noch vorhandene Vertrauen zu verspielen. Ein Gastkommentar. ORF: Keine Agitation auf unsere Kosten! Ein wesentliches Anliegen von Franz Küberl in seinem letztwöchigen Gastkommentar besteht darin, den ORF in die Lage zu versetzen, seinem öffentlich-rechtlichen Auftrag gerecht zu werden. Dabei geht es dem Autor um die finanziellen Möglichkeiten. Der öffentlich-rechtliche Auftrag beinhaltet aber noch ein anderes Gebot, nämlich jenes nach Objektivität – oder zumindest das Bemühen darum. Dieses ist mit keinem monetären Aufwand verbunden, sondern erfordert bloß die Sorgfalt, die man als Konsument erwarten darf. Nur dann wird es eine entsprechende Akzeptanz für welches Finanzierungsmodell auch immer geben. Leider lassen manche ORF-Redakteure genau diese besondere Verantwortung vermissen, zu der sie in einem öffentlich-rechtlichen Medium verpflichtet sind. Ein Beispiel aus dem Radioprogramm von Ö1, für das der ORF den Anspruch, Kultursender zu sein, geradezu wie eine Monstranz vor sich herträgt, mag dies verdeutlichen. Problematisch sind natürlich nicht die Musiksendungen, die sich weithin großer Beliebtheit erfreuen, sondern vielmehr die Sprechsendungen. Dabei geht es vor allem um die erweiterten Nachrichtenprogramme, „Journale“ genannt, aber auch die Magazine. Das Ziel: Denunzierung Das „Morgenjournal“ befasste sich unlängst mit der Umbenennung einer Kärntner Bundesheerkaserne. Diese war bisher nach Generalmajor Alois Windisch benannt, sollte aber aufgrund des Vorwurfs von Kriegsverbrechen gegen ihn einen neuen Namen erhalten. Der in dem Beitrag als Namensgeber Vorgesehene war der erste Verteidigungsminister der Zweiten Republik (1956–1961), Ferdinand Graf (ÖVP). Das Setting verhieß eine seriöse Abhandlung des Themas, nämlich ein Interview (von Stefan Kappacher, Anm.) mit einem als Experten präsentierten Historiker (Florian Wenninger, Anm.). Rasch wurde aber klar, dass das Ziel in der Denunzierung Grafs als ungeeignet für die Namensgebung bestand. Die Botschaft: Graf war „Austrofaschist“, sein „Pluspunkt“ KZ-Aufenthalt wird ihm aber gestrichen wegen der Gespräche, die er nach 1945 mit ehemaligen Nationalsozialisten führte. PORTRÄTIERT Die Luft der Freiheit als Maxime Foto: Privat Diese Darstellung wird weder der Person noch den zeitlichen Umständen gerecht. In den Jahren 1933–1938 war Graf als Direktor des Kärntner Bauernbunds primär Interessenvertreter einer Berufsgruppe. Der Ausdruck „Austrofaschismus“ ist ein ideologisch umkämpfter Begriff und dürfte daher nicht unkommentiert verwendet werden. (Da das autoritäre Regime entscheidende Merkmale des Faschismus nicht beinhaltete, hat sich das „Haus der Geschichte Österreich“ bewusst für den Ausdruck „Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“ entschieden. Eine Dokumentation in ORF III über diese Zeit trägt den Titel „Kanzlerdiktatur“.) Wie sehr DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Paul Mychalewicz „ Manche ORF- Journalisten bemänteln ihre politische Schlagseite mit dem Pochen auf ihre Unabhängigkeit. “ Ferdinand Graf von der nationalsozialistischen Diktatur als Gegner eingestuft wurde, lässt sich daraus ableiten, dass er von 1938 bis 1940 in Gestapohaft sowie in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg verbringen musste. In seiner politischen Tätigkeit in der Zweiten Republik war er von 1945 bis 1956 Staatssekretär im Innenministerium, wo er gegen Ende der Besatzungszeit diskret die B-Gendarmerie als Vorstufe für das neue Bundesheer aufbaute. Wie wichtig diese Vorbereitungen waren, zeigte sich kurz danach im Oktober 1956 während des Aufstands in Ungarn und seiner Niederschlagung durch sowjetische Foto: APA / AFP / Ludovic Marin Truppen. Die Bundesregierung machte damals unmissverständlich klar, dass Österreich seine Grenzen verteidigen werde. Diese Fakten hätte man in einem öffentlich-rechtlichen Medium erwarten dürfen. Aber so sehr die tendenziöse Darstellung des Radiobeitrags irritiert, so wenig überrascht sie: Manche ORF-Journalisten bemänteln ihre politische Schlagseite mit dem Pochen auf ihre Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit in der Berichterstattung. Das Redaktionsstatut darf aber kein Freibrief für Willkür in Sendungsbeiträgen sein. Selektive Wahrnehmung? Mit Recht gab es zuletzt öffentliche Kritik nach dem Bekanntwerden von mehreren Fällen politischer Einflussnahme auf Redakteure, wobei auch hier die Selektivität in der Wahrnehmung und in der Berichterstattung darüber auffällig war. Während die Vorgänge in Niederösterreich in epischer Breite ausgewalzt wurden, flackerten Hinweise zu Kärnten nur kurz auf und verschwanden rasch wieder. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. So gewinnt man den Eindruck, im ORF funktionieren wie in einem Staat die checks and balances nicht (mehr). Von keinem Redakteur wird verlangt, dass er seine politische Gesinnung an der Garderobe abgibt. Sehr wohl aber kann ein unverrückbares Berufsethos erwartet werden. Hörer und Seher haben Anspruch auf Berichterstattung nach bestem Wissen und Gewissen. Sie wollen nicht mit Agitation belästigt werden. Im geschilderten Beispiel werden viele Hörer nicht gleich gemerkt haben, inwiefern der Beitrag tendenziös ist. Schließlich kann man nicht mit allen geschichtlichen und politischen Ereignissen hinreichend vertraut sein. Aber irgendwann fällt auf, dass bestimmte Journalisten immer wieder in dieselbe Richtung argumentieren und sich jeweils die Interviewpartner aussuchen, die ihnen ins Konzept passen. Doch gerade in der aktuellen Diskussion sollten sie das vielleicht noch vorhandene Vertrauen nicht leichtfertig verspielen. Der Autor ist Historiker und Anglist sowie Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Wien. Kaja Kallas setzte als eine der Ersten Hebel für Waffenlieferungen an die Ukraine in Gang. Bei der Parlamentswahl in Estland wurde ihre Partei stärkste Kraft. Da gibt es dieses legendäre Foto: eine Familie vor dem Brandenburger Tor, auf der Ostseite Berlins. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1988. Damals war Kaja Kallas elf Jahre alt, und ihr Vater hatte appelliert: „Atmet tief ein. Hier weht die Luft der Freiheit zu uns herüber.“ Eine Anekdote, die von Estlands Premierministerin gern und oft erzählt wird. Die Perestroika Gorbatschows habe seinerzeit den Sowjetbürgern Reisen ins sozialistische Ausland erleichtert. Kallas Eltern hatten die Chance ergriffen und fuhren mit Tochter und Sohn so nahe gen Westen wie nur möglich. 33 Jahre später wird Kaja Kallas als erste Frau in der Geschichte Estlands zur Ministerpräsidentin gewählt. Ein Amt, das ihr einigermaßen vertraut gewesen sein dürfte – auch ihr Vater Siim Kallas hatte es zwischen 2002 und 2003 inne. Zeitmäßig allerdings steht die Tochter längst länger an der Spitze Estlands. Vor einer knappen Woche ging die heute 45-Jährige mit ihrer proeuropäischen Reformpartei bei der Parlamentswahl erneut als klare Siegerin hervor. Eine zweite Amtszeit scheint Kallas so gut wie sicher. Beobachter begründen ihren Erfolgskurs vor allem mit ihrer Haltung zum russischen Angriffskrieg. Während andere europäische Staatschefs Anfang 2022 noch auf Russland einzureden versuchten, setzte Kallas bereits erste Hebel für Waffenlieferungen an die Ukraine in Bewegung. Die Gefahr eines Krieges sei „real“, sagte sie fast einen Monat vor Kriegsbeginn. Mittlerweile hat Estland mehr als ein Prozent seiner Wirtschaftsleistung als Militärhilfe an die Ukraine geleistet und über 60.000 Vertriebene aufgenommen. Eine Linie, an der Regierungschefin Kallas weiter festhalten will. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse erklärte sie: „Wir müssen in unsere Sicherheit investieren, unser aggressiver Nachbar ist nicht verschwunden und wird auch nicht verschwinden, also müssen wir damit arbeiten.“ Kallas’ politischer Mentalität sei es auch zu verdanken, dass Estlands (rund 1,3 Millionen Einwohner) Wort am Tisch der EU inzwischen das gleiche Gewicht habe wie jenes größerer Staaten, heißt es aus Brüsseler Diplomatenkreisen. Die Luft der Freiheit im eigenen Land atmen, diese Handlungsmaxime scheint Kaja Kallas strikt zu verfolgen und bereits in der Kindheit geprägt zu haben. (bqu) ZUGESPITZT QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Klappe – zu (lassen) Stille Reserve. Eine grauenhafte Begrifflichkeit. Es heißt, sie sei weiblich. Wenn ich sie höre oder lese, läuft in meinem Kopf ein Film ab. Ich sehe Männer. Mittleren Alters. In dunkelblauen Anzügen. Sie sitzen an einem Konferenztisch, diskutieren. Über den Arbeitskräftemangel. So finde das Unternehmen X keine Mitarbeiter mehr. Ebenso das Unternehmen Y. Auch Z tue sich schwer. Vor dem Meeting hat jemand mit jemandem vom AMS gesprochen, gefragt, warum es keine Bewerber schicke. Das Profil der Arbeitssuchenden passe nicht zu X, Y, Z, war ihm erklärt worden. Zu gering qualifiziert. Was nun? Die Analyse eines ökonomischen Forschungslabors wird aufs Tablet gebracht. Dort heißt es, dass Jahr für Jahr tausende Mädchen maturieren, studieren und danach mit ihren Magistern, Mastern oder Bachelorabschlüssen abtauchen. Ins Familienleben. Sie könnten was. Theoretisch. Aber es fehle an Selbstvertrauen, um einer richtigen Arbeit nachzugehen. Das wiederum wäre für X, Y, Z der Jackpot. Diese Heimchen sind dankbar. Und unaufdringlich. Und vor allem fleißig. Einfluss, Macht, ein CEO-Posten – mitnichten streben sie danach. Das wäre auch anmaßend. Die big jobs sind ohnehin besetzt oder längst anderen big boys versprochen. An solche eben, die den Kopf frei haben; in deren Superhirnen keine Quälgeister herumschwirren, die für Schularbeiten lernen müssen, krank werden oder in den Ferien eine Betreuung brauchen. Stille Reserve. Sie ist weiblich und DIE Antwort auf den Arbeitskräftemangel. Still, tüchtig, ohne Begehr. Das gefällt den Männern in meinem Film. Jetzt müssen sie nur noch die fleißigen Lieschen herauslocken aus ihrem Nest. Dieser Punkt kommt auf die Agenda. Klappe zu. Roter Peperoncino Einen aufgelegten Elfmeter zu verschießen, kann schon mal passieren. Aber den Schuss auf Dauer zu verweigern, ist doch ein bisschen grenzwertig. Die Kanzler partei mag in der Dauerkrise sein, den „Menschen da draußen“ mögen Rekordinflation, explodierende Mieten und sonstige Folgen der „Zeitenwende“ um die Ohren fliegen, und die SPÖ verharrt in einem kuriosen Gegenprogramm: dem dolce far niente. Nun gut, die Roten halten eine lukullische Tradition in Ehren, in der man den Barolo zu schätzen weiß – aber wird dolce vita reichen, um in stürmischer Zeit den „Führungsanspruch“ zu stellen? Immerhin ist man jetzt in die Gänge gekommen und tritt zwar nicht mit neuen Ideen, dafür aber mit einer alten Personaldebatte an die Öffentlichkeit. Doch die Frage, ob der hantige Hans Peter Doskozil der bedächtigen Pamela Rendi- Wagner das Ruder aus der Hand nehmen soll, gleicht der Wahl zwischen verschiedenen Schlaftabletten. Um endlich aufzuwachen, empfiehlt sich der Blick nach Italien: Dort zeigt die designierte Vorsitzende des Partito Democratico gerade, was Politik mit „Peperoncino“ bedeuten kann – mit Charme, aber gegen Meloni. Vielleicht hat ja Elly Schlein ein feuriges Rezept parat? Martin Tauss

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023