DIE FURCHE · 10 10 Religion 9. März 2023 Fenster geöffnet Papst Franziskus bei einem der sonntäglichen Angelus-Gebete auf dem Petersplatz im Jahr 2013. Von Andreas R. Batlogg SJ BUCHTIPP „Die Provokationen des Pontifex“ betitelte Andreas R. Batlogg am 15.12.2016 seine Würdigung zum 80er von Franziskus, siehe furche.at. Pionier des Religionsdialogs „ Dieser Papst tut einer Kirche gut, die nicht um sich selbst kreist. Aus der Wärmestube der Sakristei schickt er klerikale Priester auf die Straßen. “ Dass Franziskus im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern ein theologisches Leichtgewicht sei, wird insbesondere von konservativen Kritikern des Papstes gern ins Treffen geführt. Es stimmt natürlich, dass der Bergoglio-Papst nie als akademischer Theologe tätig war, aber es gibt Bereiche, in denen seine theologische Relevanz nicht zu übersehen ist. Eines dieser Gebiete ist das Gespräch der Religionen. Ernst Fürlinger, Religionswissenschafter an der Donau-Uni Krems, macht das in dem von ihm herausgegebenen Band „Handwerker der Hoffnung. Papst Franziskus und der interreligiöse Dialog“ klar. Nicht nur in den großen Papstschreiben Evangelii gaudium (2013), Laudato si’ (2015) und Fratelli tutti (2020), deren interreligiöse Kapitel das Buch dokumentiert, wird das deutlich, sondern in zahlreichen Predigten und Äußerungen im nunmehr zehnjährigen Pontifikat. Fürlinger fasst die historischen Neuerungen insbesondere im muslimisch-katholischen wie jüdisch-katholischen Dialog ebenso zusammen wie dieses Papstes Brückenbauen zu indigenen Religionen. Auch das – gleichfalls abgedruckte – von Franziskus und Ahmad al-Tayyib, dem Großimam der Kairoer al-Azhar-Moschee, 2019 in Abu Dhabi unterzeichnete Dokument für Geschwisterlichkeit und den Weltfrieden ist eine Frucht dieses im besten Wortsinn „päpstlichen Handwerks“. (ofri) Vor zehn Jahren: Die Wahl von Jorge Mario Bergoglio am 13. März 2013 zum Bischof von Rom war eine Überraschung. Franziskus’ Pontifikat erwies sich in vielerlei Hinsicht als ebenso neu wie uneindeutig. Pontifex, der Zeichen setzt Unfehlbar ist ein Papst, wenn er ex cathedra spricht. Allerdings nur, wenn er „Glaubens- und Sittenfragen“ definiert. Ansonsten kann er, wie jeder Mensch, irren. Das tat Franziskus, was die Prognose für seine Amtszeit anbelangt: „Ich habe das Gefühl, mein Pontifikat wird von kurzer Dauer sein. Vier oder fünf Jahre. Ich weiß nicht, oder zwei oder drei.“ Am 13. März 2013 wurde Kardinal Jorge Mario Bergoglio als erster Lateinamerikaner (mit italienischem Migrationshintergrund) und erster Jesuit zum Bischof von Rom gewählt. Noch nie zuvor hatte sich ein Papst, auch das ein Novum, Franziskus genannt. Der Argentinier wurde zu einer gigantischen Projektionsfläche. „Yes we can“, Obamas Wahlkampfslogan, schien plötzlich auch in der römisch-katholischen Kirche möglich: Es geht auch anders! Spontan, wie er ist, unkompliziert, geradeheraus, überraschte Franziskus am laufenden Band. Beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro rief er in die Menge: „Macht Krach!“ Auf dem Rückflug nach Rom fragte er, warum er Homosexuelle verurteilen solle. Er besuchte Lampedusa und Lesbos. Er appellierte dabei an die Menschlichkeit der Europäer. In Straßburg nannte er den Kontinent eine „Großmutter, die nicht mehr fruchtbar und lebendig“ sei. Er eckte an mit schrägen Vergleichen. Seine Metaphern waren ungewohnt, manche gingen auch daneben, waren aber umso eingängiger: Kirche als „Feldlazarett“ oder als „Zollstation“, der Beichtstuhl als „Folterkammer“. Wörter wie „Zärtlichkeit“ hatte man zuvor aus päpstlichem Mund eher selten gehört. Die „Wegwerfgesellschaft“ stieß einer bürgerlichen Religion auf. Mit „Diese Wirtschaft tötet“ eckte er bei Wirtschaftsbossen an. Evangelii gaudium, sein Apostolisches Schreiben, das auf eine unter Benedikt XVI. abgehaltene Weltbischofssynode von 2012 reagierte, ist immer noch ein großer Wurf mit verstecktem Potenzial. Wenige Monate vor der UN-Klimakonferenz in Paris überraschte und beeindruckte Franziskus mit der Sozialenzyklika Laudato si’ (Mai 2015). Während der Corona-Pandemie veröffentlichte er die Enzyklika Fratelli tutti (Oktober 2020): Wer sprach zuvor von einer „Zeitenwende“? Handwerker der Hoffnung Hg. von Ernst Fürlinger Tyrolia 2023 285 S., kart., € 28,– Die bisher 40 Auslandsreisen waren politische Statements: Irak und Myanmar, Albanien, Malta, Nordmazedonien und Bosnien, die baltischen Staaten, Lund und Malmö in Schweden. Auf den Philippinen feierte er mit schätzungsweise sechs Millionen Menschen eine Messe: Weltrekord. In die USA und zu den Vereinen Nationen in New York gelangte er über Kuba, wo er auf dem Flughafen von Havanna den orthodoxen Patriarchen Kyrill I. traf. Kenia, Uganda, Mosambik, die Zen tralafrikanische Republik, Ägypten und Marokko standen auf dem Reiseplan. In Nagasaki und Hiroshima verurteilte Franziskus den Einsatz von Atomwaffen. Die Besuche in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kasachstan und Bahrain wurden historisch genannt. Kanada war eine Bußreise, der Südsudan vor wenigen Wochen ein Schrei um Frieden. Ob ich noch zu meinem Buch „Der evangelische Papst“ von 2018 stehe, werde ich oft gefragt, Untertitel: „Hält Franziskus, was er verspricht?“ Oder zu meinem mit Paul M. Zulehner verfassten Buch „Der Reformer“ (2019), in dem wir einen „Appell“ setzen wollten: „Von Papst Franziskus lernen“. Ich sage aus voller Überzeugung: Ja, das tue ich! Aber ich räume jetzt, da wir ins elfte Pontifikatsjahr gehen, auch ein: Das ist immer schwerer plausibel zu machen. Denn es gibt Foto: APA / AFP / Filippo Monteforte unübersehbar auch Pannen, Fehlentscheidungen, Misserfolge: systembedingte und selbstgemachte. Und trotz radikaler Aufräumaktionen in der Kurie und bei den Finanzen gingen Personalien schief. Die Missbrauchskrise holt auch diesen Papst immer wieder ein. Er verheddert sich, wenn er ins Plaudern gerät. Es sei doch alles nur ein „Stil-“, aber kein „Perspektivenwechsel“, sagen Kritiker, eben: „Symbolpolitik“. Also doch keine grundlegenden Reformen? Franziskus setzt auf Evangelisierung. Er will Herzen ändern, Mentalitäten aufbrechen. Erst dann kommen für ihn Strukturen. Das dauert. Ebenso wie beim Megathema Synodalität. „Eine Kirche, die Synoden abhält, ist noch keine synodale Kirche“: Mit diesen Worten beginnt die nationale österreichische Synthese. Synodale Vorgänge brauchen Zeit. In der Weltkirche – mit ihren so unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Empfindlichkeiten – erst recht. Es gab mehrere Weltbischofssynoden. Die nächste wurde von 2022 auf 2023 verschoben und wird 2024 noch einmal zusammentreten: zum Thema Synodalität. Ihr gehen synodale Prozesse auf Diözesan-, Nationalund Kontinentalebene voraus. Franziskus’ Aversion gegen den Synodalen Weg in Deutschland kann ich nicht nachvollziehen. Globales statt Klein-Klein Weltreligionen, Weltfrieden, Weltklima: Globale Themen interessieren Franziskus mehr als das katholische Klein-Klein. Die Römische Kurie fühlt sich vernachlässigt: 15 Krankheiten hielt er ihr in seiner Weihnachtsansprache 2014 vor, darunter „spirituellen Alzheimer“. Kardinäle hat Franziskus abgesetzt (Becciu), zwangslaisiert (McCarrick) oder in eine Auszeit geschickt (Woelki). Aber vieles lief nicht transparent oder konsequent, wurde rückgängig gemacht oder nachgebessert. Auf die vier „Dubia-Kardinäle“, die ihn ultimativ aufforderten, sein Nachsynodales Schreiben Amoris laetitia (2016) zu erklären, das mutmaßlich umstrittenste seit der Enzyklika Humanae vitae (1968), reagierte er (aus gutem Grund) ebenso wenig wie auf über 70 Theologinnen und Theologen, die seine theologische Kompetenz infrage stellten. Impulsiv und aufbrausend kann Franziskus sein. Das irritierte – und irritiert. Als erster Papst der Neuzeit beerdigte Franziskus seinen Vorgänger. Die zehnjährige „Kohabitation in Weiß“ verlief aber offenbar doch nicht so harmonisch wie behauptet. Als Franziskus sich im August 2021 einer Darm-OP unterziehen musste, wurden die ersten Nachrufe geschrieben. Ein Knieleiden zwingt ihn seit Mai 2022 in den Rollstuhl. Es kann aus sein mit ihm, über Nacht. Er wird zurücktreten, wenn er merkt: Ich kann nicht mehr. Hoffentlich ist es noch nicht so bald so weit! Franziskus müsse liefern, sagen seine Kritiker, die sich nicht (mehr) verstecken. „Be-
DIE FURCHE · 10 9. März 2023 Religion 11 Eine Durchsicht von Meldungen über Papst Franziskus aus dem Jahr 2022 gewährt Einblick in seine schillernde Persönlichkeit und hilft auch, des Pontifex umstrittene Äußerungen einzuordnen. Ein Papst mit allen Sinnen teiligungssimulation“ nennt ein deutscher Kirchenrechtler die Vision einer mehr synodal angelegten Kirche. Der kürzlich verstorbene umstrittene Kurienkardinal George Pell kanzelte – sozusagen in seinem letzten Atemzug – den weltweiten synodalen Prozess als einen „toxischen Albtraum“ mit „neomarxistischem Jargon“ ab. Perlt Kritik an Franziskus ab? Lässt sie ihn kalt? Gewiss nicht. Auf wen hört er? Manches weiß oder ahnt man. Manches erfährt die Öffentlichkeit, wenn er vom Manuskript abweicht oder spontan antwortet, ohne sich vorher mit seinem Kardinal-Staatssekretär oder anderen Behördenchefs abgesprochen zu haben. Das Kardinalskollegium trägt mittlerweile deutlich seine Handschrift. Er verweigerte „traditionelle“ Karrieresprünge und schürt damit Aggressionen. Hat man später je von manchen „exotischen“ Ernennungen noch einmal etwas gehört? Fragen über Fragen! Mir genügen die Antworten der letzten zehn Jahre. Und die Zeichen, die dieser Papst setzt. Franziskus kann trösten, ins Gewissen reden, motivieren, ja anstacheln. Ersetzt bei ihm mittlerweile, wie manche glauben machen wollen, das Moralisieren die Theologie? Dieser Papst tut einer Kirche gut, die nicht um sich selbst kreist. Aus der Wärmestube der Sakristei schickt er klerikale Priester auf die Straßen. Geachtet, geliebt, ja verehrt wird Franziskus mehr außerhalb als innerhalb der Kirche. Ich warte nicht auf weitere Negativschlagzeilen und Skandale. Aber auf Überraschungen. Und die kommen bestimmt! Der Autor ist Theologe, Publizist und Seelsorger in München. GLAUBENSFRAGE Lesen Sie auch Hubert Gaisbauer, der am 12.3.2015 Papst Franziskus mit „Bekenntnis zur Zärtlichkeit“ charakterisierte, siehe furche.at. Von Wolfgang Bahr Widerstehe doch der Sünde doch der Sünde, / Sonst ergreifet dich ihr Gift“. Mit diesem klaren, ermutigenden Auf- „Widerstehe ruf beginnt die Kantate von Johann Sebastian Bach, dem dritten Sonntag der Passion, Oculi, zugeordnet. Seinen Namen erhält dieser Tag von den Psalmworten: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“ Und dies meint, meine Augen richten sich nicht auf das Meine, sondern sie blicken hier und heute auf das ganz Andere, auf das den Menschen aus seiner Frage, seiner Schuld und Not Herausheilende; heraus aus seinem Umherirren, von dem Nietzsche sprach, „wie durch ein unendliches Nichts“. In das werfen wir uns indes täglich neu mit einer unglaublich hohen Selbstenergie, und nicht nur im Bühnenspiel, das auf sehr kleinen Darsteller(innen)flächen Platz hat in einer Hand, wie auf großen Darsteller(innen)schirmen in Fernsehzimmern aller Art. „Am Ziel“, das Stück von Thomas Bernhard, habe ich im Theater gesehen. Darin heißt es über das In-der-Welt-Sein des Menschen: „Wir gehen auf einen Menschen zu / und er Franziskus, 5. Jänner 2023, Requiem auf dem Petersplatz in Rom: Dieser Papst ist der erste römische Pontifex, der seinen Vorgänger zu Grabe trägt. Fratelli e sorelle: Buona sera! Es war eine Captatio Benevolentiae sondergleichen, mit der sich Jorge Mario Bergoglio am 13. März 2013 auf der Loggia des Petersdoms als Bischof von Rom präsentierte. Man habe ihn vom Ende der Welt hierhergeholt, und er bitte die Gläubigen, zum Herrn zu beten, er möge ihn segnen, so wie er nun sie segnen würde. In diesem knappen Intro war mehr an Programm enthalten, als zunächst zu ahnen war. Etwa die Demut eines Jesuiten, der den Weg seines Ordens von einem Bahnbrecher Von Ines Charlotte Knoll ist ein ganz anderer / Uns erschreckt, worauf wir vertraut haben“. Das kennen wir gut aus allem, was uns zutiefst bestürzt und ängstigt, und wir wollen die Augen schließen vor den Schrecklichkeiten, deren Verursacher die Sünde ist oder das Böse oder der Satan, von dem Bach singen lässt: „Lass dich nicht den Satan blenden; / Denn die Gottes Ehre schänden, / Trifft ein Fluch, der tödlich ist“. Das stimmt! Mensch, wie das stimmt. Da überkommt einen schon ein Dunkelstaunen. Als ein Passionstrost und Gegengift jedoch liest sich ein Gedanke von Ingolf U. Dalferth. Wer an den sündlosen Menschen glaube und meine, auf der Erde das Himmelreich schaffen zu können, „baut an der Hölle“. In dieser befreienden Erkenntnis können uns die Augen aufs Neue aufgehen für ein schon verloren Geglaubtes: unsere Menschlichkeit. Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R. der Gegenreformation hin zu einem der Träger des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Rezeption der Theologie der Befreiung mitvollzogen hat. Es sei wahr, dass es ein Jahrhundert dauere, bis ein Konzil Wurzeln schlage, so Franziskus im zehnten Jahr seines Pontifikats: „Wir haben also noch 40 Jahre Zeit, um es zu etablieren.“ Von der Kirche hat Franziskus eine dynamische Vorstellung, und er erlahmte auch in seinem 86. Lebensjahr nicht im Bemühen, sie durchzusetzen. Katholisch sein bedeute nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-alsauch. 2022 focht er diesen Kampf am eindringlichsten in dem Lehrschreiben Desiderio desideravi aus, in dem er erörterte, warum er die von seinem Vorgänger Benedikt XVI. ausgeweitete Tolerierung der tridentinischen Messfeier wieder eingeschränkt hat. In seiner Predigt zum 60-Jahr-Jubiläum der Konzilseröffnung definierte Franziskus die Kirche wortwörtlich mit einer Formel des Ordensvaters Ignatius von Loyola: Sie ist die „heilige hierarchische Mutter“. An dieser Grundauffassung spießt sich aktuell die Auseinandersetzung um den weltweiten synodalen Prozess und den Synodalen Weg in Deutschland. Da der Papst aus Argentinien „die Gnade Jesu“ in der Stellung des Bischofs als „Hirte seines Volkes“ erblickt, widerspricht dies einer „Kirche von unten“ wie auch quasi sakramental aufgefassten Bischofskonferenzen, die „nicht jesuanisch“ seien und „keine Verantwortung aus Fleisch und Blut tragen“. Umgekehrt erklärt die ignatianische Formel, warum Franziskus und Benedikt einander trotz offensichtlicher Divergenzen ohne Heuchelei achten konnten. Und insofern ist es paradox, dass Franziskus unablässig gegen Klerikalismus, Verkrustung und falsch verstandene Traditionspflege wettert. „Klerikalisierte Laien“ sind für ihn das allerschlimmste Zerrbild von Christen. Dass der „Bischof von Rom“ dennoch hohes Ansehen auch außerhalb der katholischen Kirche genießt, liegt wohl daran, dass er von Foto: APA / AFP / Alberto Pizzoli Jesus nicht nur spricht, sondern zutiefst berührt ist, eben im vollen Sinn ein Jesuit ist. Der mittlerweile 86-Jährige spricht die Sprache unserer Zeit. Er träumt von „Champions der Geschwisterlichkeit“; in Phasen der Trostlosigkeit leuchtet für ihn eine „Ampel rot auf“ und gebietet: „Bleib stehen“; Entscheidungen hätten natürlich einen Preis, man gewinne sie „nicht in der Lotterie“. Franziskus doziert nicht, sondern hat im Hinterkopf den Alltag: „Vielleicht weinen wir, wenn etwas passiert, das uns berührt, oder wenn wir die Zwiebel schneiden.“ Das Betrachten und Leben mit allen Sinnen, zu dem Ignatius in seinen „Geistlichen Übungen“ anleitet, durchsättigt seine Sprache. Da wird geatmet, gerochen und gespürt, geschrien und auch geschwiegen. „ Für den Umgang mit den Armen ‚sollten wir uns schämen‘, so der Papst. Das Private und das Politische klaffen bei ihm nicht auseinander, sie sind eins. “ „Tratschtanten“ und andere Fettnäpfchen Mitunter geht Franziskus bis zur, ja über die Grenze: Seine Erwähnung des Ausspruchs eines Politikers, wonach Putins Aggression durch das „Bellen an der Tür Russlands“ ausgelöst worden sein könnte, hat ihm den Vorwurf der Linkslastigkeit eingetragen, und seine Warnung vor „Tratschtanten“ und „geschwätzigen alten Frauen“ in Klöstern hat vor allem im deutschen Sprachraum heftigen Widerstand hervorgerufen. Die inkriminierte Äußerung war in einer im November 2022 frei gehaltenen Rede in Rom vor Rektoren der Priesterseminare Lateinamerikas gefallen, in der der Papst mit drastischen Worten Fehlformen der Priesterausbildung geißelte. Er begrüßte das Dikasterium mitsamt dem Kardinal-Staatssekretär und den „Rest der Bande“, legte den zwölfseitigen Redetext beiseite und erwähnte „Ordensgemeinschaften, die eine Katastrophe sind und nach und nach aufgelöst werden müssten“. Mancher Seminarist stehe einem Mädchen in der Gemeinde nahe: „Später heiraten sie, und das ist recht so. Das ist die christliche Familienbewegung, die da am Werk ist …“ Schwer vorstellbar, dass der heilige Johannes Paul II. so gesprochen hätte. Die Ratschläge Jorge Mario Bergoglios für rechte Männlichkeit muten im Europa nördlich der Alpen antiquiert an, doch der Papst ist sich dessen bewusst. Argentinier seien ein Machovolk, und dieser Machismo töte die Menschlichkeit. „Wir kämpfen nicht nur für unsere Rechte, sondern auch, weil wir Frauen in der Gesellschaft brauchen, um uns zu verändern.“ Ein Schlüsselwort des Papstes, das diese Skizze ausgelöst hat, ist das im kirchlichen Bereich selten zu hörende Wort Scham. Wer seinen Tast- oder Geschmackssinn verliere, merke das sofort, so Franziskus, die Sensibilität der Seele aber könne man lange ignorieren. „Bei der Unempfindlichkeit der geistigen Sinne geht es um Mitgefühl und Mitleid, Scham und Reue, Loyalität und Hingabe, Zärtlichkeit und Ehre, Selbstverantwortung und Trauer um andere. Wir sind allen und allem gegenüber gleichgültig geworden, außer uns selbst. Und schamerfüllt sagen wir: Vergib uns, Herr!“ Franziskus empfindet „Scham, Trauer und Schande über die Rolle, die einige Katholiken, insbesondere mit pädagogischer Verantwortung“, bei den sexuellen Übergriffen in kanadischen Kinderheimen gespielt haben, aber auch der „Missachtung ihrer Identität, ihrer Kultur und sogar ihrer geistigen Werte“. Und generell für den Umgang mit den Armen und Bedürftigen „sollten wir uns schämen“, so der Papst beim Nationalen Eucharistischen Kongress im süditalienischen Matera. Das Private und das Politische klaffen bei ihm nicht auseinander, sie sind eins.
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