DIE FURCHE · 6 20 Musik 9. Februar 2023 Totentanz Am Schluss tanzt Salome (Malin Byström) mit dem Henker (Pablo Delgado) und dem Haupt des Jochanaan im Arm ihrem eigenen Ende entgegen. Die Wiener Staatsoper präsentierte eine neue „Salome“, wartete mit einer prominent besetzten „Elektra“ auf und bescherte umjubelten Primadonnenglanz bei einer szenisch in die Jahre gekommenen „Aida“. Missbrauch kennt keine Jahreszahl Von Walter Dobner Gleich drei statt der üblichen einen Salome auf der Bühne. Auch der berühmte Tanz fällt anders aus als gewohnt: Ihn vollführt ein Kind auf dem Esstisch. War es diese Umdeutung, die der Regie am Ende Buhrufe eintrug? Längst ist „Salome“ zu einer Art szenischem Labor geworden. In der letzten Münchner Produktion an der Baye rischen Staatsoper, 2019, Foto: © Wiener Staatsoper / Ashley Taylor „ Cyril Teste am Regiepult zeichnet Salome nicht als verwöhnte Tochter, sondern als eine in ihrer Jugend Missbrauchte. “ ließ Regisseur Krzysztof Warlikowski die durch Marlis Petersen eindrucksvoll verkörperte Salome mit dem Teufel tanzen. Bei der ebenso eindringlichen jüngsten Salzburger Neuproduktion dieses Strauss’ im Jahr davor, in der Regie Romeo Castelluccis, erstarrte die durch Asmik Grigorian grandios dargestellte Titelfigur zu einem Stein. Und diesmal, im Haus am Ring, wo erstmals Cyril Teste am Regiepult stand? Er zeichnet Salome nicht als verwöhnte Tochter, sondern als eine in ihrer Jugend Missbrauchte, jedenfalls ohne die nötige Liebe aufgewachsen, möglicherweise sexuell geschändet. Immer wieder wird sie von Erinnerungen gequält, kann sie die Albträume ihrer unglücklichen Kinder- und Jugendjahre nicht loswerden. Deswegen folgt ihr schattengleich ein Kind, ein weiteres gestaltet, bewusst ungelenk und unsicher, die Tanzszene. Nicht auf sexualisierter Gewalt, sondern auf irisierender Erotik liegt der Fokus dieser Interpretation. Das unterstreicht die Regie noch dadurch, dass sie das Geschehen in die jüngere Vergangenheit verlegt. Denn diese der Bibel entnommene Handlung, die Oscar Wilde etwas verändert in ein geniales Libretto gegossen hat, ist nicht auf das Ambiente eines Herrscherhauses vergangener Zeiten beschränkt. Solchen Situationen begegnet man, bedauerlicherweise, bis heute, und zwar in allen Milieus. Auf die Videos (Mehdi Toutain-Lopez und Rémy Nguyen), so virtuos sie realisiert werden und so eindringliche Blicke sie hinter die Kulissen dieser schrecklichen Familie ermöglichen, hätte man allerdings getrost verzichten, anstelle dessen mehr Augenmerk auf die Charakterisierung der einzelnen Personen legen können. Dass das Publikum während des Tanzes mit Moschus düften besprüht wurde, entpuppte sich bloß als gequält-originelle Zutat. Damit lässt sich die spezifische Sinnlichkeit dieses Stoffes bestenfalls peripher andeuten. Sie kommt in dieser Regie entschieden zu kurz, ist selbst durch exaltierte Emphase nicht ersetzbar, wie es die auch vokal unterschiedlich überzeugende Malin Byström in der Titelrolle mehrfach versuchte. Abgesehen von Gerhard Siegels profundem Herodes, Daniel Jenz’ leuchtkräftigem Narraboth und Patricia Nolz’ untadeligem Pagen ist auch bei der übrigen Besetzung einige Luft nach oben. So indisponiert wie diesmal hat man Wolfgang Koch noch nie als Jochanaan erlebt. Dafür zeigte sich das Orchester, minutiös geführt von Musikdirektor Philippe Jordan, der am Ende mit zahlreichen Blumensträußen bedankt wurde, glänzend in Form. Hier, nicht auf der Bühne, spielte sich das eigentliche Drama dieses Strauss’ ab. Einen Maestro, der wie Jordan imstande ist, gleißende Spannung zu entfachen, hätte man sich auch bei einer „Elektra“-Serie an der Staatsoper gewünscht. Aber Alexander Soddy ging es vornehmlich um eine möglichst korrekte Koordination von Orchestergraben und Bühne. Hier dominierten die weiblichen Protagonistinnen: voran eine hinreißende Nina Stemme als aufwühlende Gestalterin der Titelpartie, eine mit starker Persönlichkeit aufwartende Violeta Urmana als Klytämnestra und Simone Schneider als hochkarätige Chrysothemis. Sie war die Überraschung dieses Abends. Weit weniger Eindruck hinterließen die männlichen Protagonisten. Dass die Staatsoper für diesen Strauss anstelle der missglückten Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg lieber wieder auf die Inszenierung von Harry Kupfer aus der Ära Holender zurückgreift, kann man nicht oft genug hervorheben. In der prägnanten Bühnenarchitektur Hans Schavernochs bildet sie die Handlung prägnant ab und wartet zudem mit einer die Psychologie der Figuren souverän dechiffrierenden Personenführung auf. So diskursiv und nah an der Vorlage wünschte man sich Musiktheater öfter. Weltweit einzigartig: Netrebko und Garanča in „Aida“ Die bereits über hundert Mal über die Bühne gegangene, von Nicolas Joel szenisch verantwortete Staatsopern-„Aida“ kann damit nicht mithalten. Selbst eine hervorragende Besetzung, wie sie das Haus am Ring diesmal aufbot, konnte die Schwächen dieser sich mit plakativer Oberflächlichkeit zufriedengebenden Arbeit nie vergessen machen. Wie in „Elektra“ dominierten erneut die weiblichen Darstellerinnen. Dabei durfte man es durchaus dem persönlichen Urteil und Geschmack überlassen, ob man Anna Netrebko als Aida oder der damit auch gleich ein Rollendebüt feiernden Elīna Garanča als ebenso brillanter Amneris den Vorzug einräumte. In beiden Fällen handelt es sich um faszinierende Rollengestalterinnen, die in diesen Partien heute ihresgleichen suchen. Exzellent Luca Salsis wortdeutlicher Amonasro. Wenig überzeugend, oftmals angestrengt Jonas Kaufmann als Radames. Bei Nicola Luisotti am Pult des wiederum mit höchster Souveränität und klanglicher Raffinesse agierenden Orchesters hätte mehr eigengestalterisches Profil nicht geschadet. Salome Wiener Staatsoper, 10., 12.2., 21.4. FEDERSPIEL Verdächtiger Eifer Von Daniela Strigl IN KÜRZE Erstaunlich schnell wurde der Fall T. zum Fall Burgtheater. Die Anheizer in den „sozialen Medien“ ergingen sich in wüsten Beschuldigungen; als wäre die Tat dort geschehen. Der Direktor, hieß es auch in seriösen Blättern, habe dem Schauspieler seit den ersten Gerüchten 2021 blauäugig Glauben geschenkt, anstatt bei der Polizei seinen Strafakt „anzufordern“ (Falter) – als könnten Arbeitgeber das in einem Rechtsstaat. Die grundrechtliche Unschuldsvermutung war bloß noch höhnischer Erwähnung wert. Hat sich irgendwer überlegt, was mit jemandem im Kulturbetrieb geschähe, der bloß auf einen solchen Verdacht hin suspendiert würde, ohne dass dieser Verdacht sich schließlich bestätigte? Ist denn überhaupt jemandem dadurch etwas zuleide getan worden, dass T. nach Beginn der Ermittlungen gegen ihn weiter in Film und Theater tätig war? Freilich hat er alle düpiert. T. hat die Gefühle des Direktors, des Ensembles, der Filmcrew verletzt, indem er sie belog – aber der moralische Aspekt des Falles bewegt sich doch in einer anderen Dimension als der strafrechtliche. Weshalb meinen viele, das Selbstverständliche sagen und Kindesmissbrauch „verurteilen“ zu müssen? Woher kommt der Ruf nach Bestrafung über das Gesetz hi naus? Der Wunsch nach einer damnatio memoriae? Der Burgtheaterdirektor berichtet, man habe sämtliche Kostüme des Beschuldigten entsorgt. Der Strafvollzug in demokratischen Gesellschaften setzt nicht auf lebenslange Ächtung, er räumt sogar dem verurteilten Mörder das Recht auf Resozialisierung ein. Vielleicht hat die überschießende Reaktion damit zu tun, dass nach Schätzungen ein Prozent aller Männer pädophile Neigungen hat. Das sind viele, die zum Schutz von Kindern Hilfe benötigen. Indem man einen prominenten Straftäter zum Ungeheuer macht, schiebt man das Problem aus der Mitte der Gesellschaft – so weit wie möglich von sich weg. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. THEATER ■ Jürgen Flimm (1941–2023) Dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie folgte früh der Weg ins Theater. Seine Regiekarriere startete Flimm 1968 in München. Als Intendant machte er ab 1985 das Thalia Theater in Hamburg zur bestbesuchten Bühne Deutschlands, bevor er von 2006 bis 2010 als Leiter der Salzburger Festspiele reüssierte. Zuletzt führte er bis 2018 die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Der deutsche Regisseur und Intendant verstarb am 4. Februar im Alter von 81 Jahren. WISSEN ■ „Wissenschaftsbücher des Jahres“ In vier Kategorien hat eine Fachjury je fünf Werke nominiert, über die das Publikum abstimmen konnte. Es wurden ca. 8300 Stimmen abgegeben. Folgende Sachbücher wurden gekürt: „Das narrative Gehirn“ von Fritz Breithaupt (Suhrkamp), „Raben“ von Thomas Bugnyar (Brandstätter), „Das Fluchtparadox“ von Judith Kohlenberger (Kremayr & Scheriau) und „Ein Baum kommt selten allein“ von Elisabeth Etz und Nini Spagl (Leykam). Die Preisverleihung ist am 28. Mai in Wien.
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