Illustration: Rainer Messerklinger DIE FURCHE · 6 18 Wissen 9. Februar 2023 Schleifen im Gehirn In letzter Zeit gibt es vermehrt Forschung zum Phänomen des Ohrwurms. Ist das Gehirn unterfordert, herrschen günstige Bedingungen für innere Melodien – zum Beispiel beim Kochen, Duschen oder Joggen. Von Manuela Tomic Bosanski Lonac MOZAIK Illustration: iStock / Sandipkumar Patel Meine Kindheitsfreundin lebte am Bauernhof. In einem dieser stummen Kärntner Höfe, in denen nur gearbeitet wurde. In dem die Väter mit ihren Frauen nur Blicke tauschten. Wie Geister traten sie ein, nahmen in der unbeheizten Stube Platz. Mit einem Kopfnicken wurde das Abendessen eingeleitet. Auf den Tellern: Berner Würstel, Essiggurken und Semmeln. Im Stall vor dem Haus das Grunzen der Schweine. Nach der Schlachtung war auch dieses Geräusch verschwunden. Diese Kärntner Stille der 90er Jahre umzingelte mich. Die Höfe waren groß, die Stimmen verloren sich auf dutzenden Hektar. In meiner Familie hingegen gab es Worte im Überfluss. Beim gemeinsamen Abendessen im engen Wohnzimmer flogen sie durch den Raum, wurden von der Lampe durchleuchtet und fielen wie Flocken herunter. Wir servierten sie heiß wie den Bosnischen Eintopf, die Nationalspeise. Der Schriftsteller Miljenko Jergović hat diesem Eintopf in seinem Erzählband „Sarajevo Marlboro“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Er erzählt, wie der Journalistikstudent Zlaja aus Sarajevo während des Kriegs zu seiner Freundin Elena nach Zagreb kommt und dort verzweifelt nach Lehmtöpfen sucht, um den perfekten „Bosanski Lonac“ zu kochen. Zu kaufen gab es die Töpfe nicht, weder in Zagreb noch in Sarajevo. Aber in Sarajevo, erzählt Jergović, hatte jeder so einen Lehmtopf zu Hause. Wer keinen hatte, dem wurde einer geliehen. Und so saßen am Ende alle zusammen, tranken und redeten. Dieses laute Chaos, es prägte auch meine Welt. Für das Schweigen hatte meine Familie keine Verwendung. Erst Jahre später, als ich selbst zu schreiben begann, dachte ich wieder an die kalte Stube, die einen bei sich selbst bleiben lässt – ohne den Klang kochender Töpfe, ohne Wort geflechte. Beim Schreiben ergab das Schweigen Sinn. Das innere Durcheinander wurde aufgeräumt, in Bahnen gelenkt. Und das schaffte nur die Kärntner Stube, diese Stille im Ohr meiner Kindheit. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/newsletter Von Andrea Krieger Dass aus heiterem Himmel ein Musikstück im Kopf ertönt, klingt für die meisten Menschen bekannt. Der Zeitpunkt und die Art des Ohrwurms lösen dagegen schon einmal Verwunderung aus. Laut einer finnischen Umfrage bei 12.000 Personen erleben neun von zehn Menschen zumindest einmal wöchentlich einen Ohrwurm, rund 25 Prozent sogar mehrere pro Tag. Was oft den Eindruck eines beliebigen Songs zu einem x-beliebigen Moment macht, hängt in Wirklichkeit stark von der Situation, dem individuellen Typ und der Art der Musik ab. Zwölftonmusik und Free Jazz eignen sich wenig zum Ohrwurm, Dave Brubecks „Take Five“ schon mehr. „Der 5/4-Takt sorgt für einen Überraschungseffekt. Ebenfalls typisch für einen Ohrwurm sind eine leicht zu merkende Melodie, Wiederholungen und kleine Intervalle“, sagt Christoph Reuter vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien im Gespräch mit der FURCHE. Zu seinen eigenen wiederkehrenden – und höchst willkommenen – Ohrwürmern zählt Reuter „Die Trompeten von Mexiko“ von Helge Schneider. Im Allgemeinen besitzen Lieder ein höheres Ohrwurmpotenzial als rein Instrumentales. Der Mix aus Text und Musik wird zugleich im neuronalen Hör- und Sprachzentrum verankert und verfestigt sich daher leichter im Hirn. Erst recht bei einem vielsagenden Text. „ Neben Musikern und Musikfans neigen introvertierte Menschen verstärkt zu Ohrwürmern, weil sie auch im übertragenen Sinn mehr in sich hineinhören. “ Bereits seit den 1950ern beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Phänomen, seit dem Jahr 2000 passiert dies verstärkt. Was einen Ohrwurm ausmacht, interessiert nicht zuletzt die Musikindustrie, die punktgenauere Hits produzieren will. Die deutsche Band Wise Guys jedenfalls konnte mit dem Song „Ohrwurm“ einen solchen landen. „Nach dem aktuellen Forschungsstand handelt es sich um eine Warteschleifenmusik im Gehirn“, sagt Reuter über die Ohrwürmer im Kopf. Beste Bedingungen dafür bieten Zeiten des Müßiggangs, Routinetätigkeiten wie Duschen und Kochen, aber auch Wie entstehen musikalische Ohrwürmer – und was verraten sie über die eigene Persönlichkeit? Vor allem aber: Wie stellt man nervige Melodien wieder ab? Die inneren Geigen rhythmische Bewegungen wie Gehen oder Joggen. Denn das Hirn ist dabei wenig gefordert. Was dann passiert, beschreibt Reuter als Mustererkennungsprozess: „Aus zufälligen elektrischen Signalen bilden sich Muster, die das Gehirn zu interpretieren versucht.“ Die Denkstube sucht sozusagen zum Muster Passendes im musikalischen Langzeitspeicher. „Man kann das mit Figuren vergleichen, die wir sehen, wenn wir nur lange genug in den bewölkten Himmel schauen“, sagt der Musikwissenschafter. Für einen Ohrwurm ist also nicht unbedingt ein Input von außen nötig. Dazu passt, dass insbesondere Schwerhörige von Ohrwürmern ein Lied singen können: Ist das Hörareal permanent unterbeschäftigt, weil zu wenig von außen hineinkommt, werden Eigengeräusche eben verstärkt wahrgenommen. Die englische Musikpsychologin Diana Deutsch sah im Ohrwurm Botschaften aus dem Unbewussten: Dieser verrate innere Konflikte und verschwinde, sobald man sich ihnen stelle. „Dafür gibt es allerdings keine Belege“, sagt Christoph Reuter. Sehr wohl aber kann sich die Gefühlslage in Ohrwürmern widerspiegeln. Einfache Assoziationen sind ebenfalls mögliche Auslöser, selbst dann, wenn sie unbewusst sind. So könnte blauer Stoff im Gesichtsfeld etwa zum 1960er-Jahre-Hit „Blue Velvet“ und der Gedanke an die Maturareise umgehend zur Lieblingsnummer von damals führen. Das Lauftempo wiederum mag das Hirn anregen, eine Begleitmusik im passenden Rhythmus zu liefern. Läutet das Telefon, während Beethovens „Ode an die Freude“ läuft, stehen die Chancen gut, dass sich die Nervenzellen das Chorstück danach noch einmal vorknöpfen und es weiterspielen. Der Grund: Das Gehirn neigt zur Vervollständigung. Längst nicht immer stößt der Ohrwurm im Kopf auf Gefallen. Immerhin 30 Prozent sind laut dem Hannoveraner Musikmedizinforscher und Ohrwurmexperten Eckart Altenmüller unerwünscht. 2017 fragte ein deutsches Wochenmagazin seine Leserschaft auf Facebook nach den schlimmsten Ohrwürmern. Am häufigsten wurde „Thüringer Klöße“ vom Typus Volkslied genannt. Der banale Text: „Thüringer Klöße, die mag ich sehr. Sie schmecken mir am besten.“ Kaugummi schafft Abhilfe Verständlich, wenn man derlei Ohrwürmer nicht unbedingt an die große Glocke hängt. Aber wie kommt es überhaupt, dass die ungebetenen Töne manchmal auch noch übel klingen? Fakt ist, dass das Gehirn im Zuge des Mustererkennungsprozesses auf alle Musikstücke unseres Langzeitgedächtnisses zurückgreifen kann. Und dort landet häufig Gehörtes ebenso wie jede Musik, die uns stark berührt – auch im negativen Sinn. Aktiv Musizierende und Musikfans oder ganz generell Menschen, denen Musik besonders nahegeht, bekommen am häufigsten Ohrwürmer. Außerdem tendieren introvertierte und besorgte Menschen verstärkt dazu, weil sie auch im übertragenen Sinn stärker in sich hineinhören. Darüber hinaus geben Frauen öfter an, dass ihnen Ohrwürmer zu schaffen machen. „Warum das so ist, weiß man derzeit aber noch nicht“, sagt Musikwissenschafter Reuter. Nagen die Ohrwürmer an den Nerven, gibt es Abhilfe: Für Erleichterung sorgen etwa anspruchsvolle Tätigkeiten oder reale Musik. Unterwegs kann ein Kaugummi helfen. Denn die Kaubewegungen unterbrechen nachweislich jene Nervenzentren im Gehirn, die beim Ohrwurm aktiv sind.
DIE FURCHE · 6 9. Februar 2023 Wissen 19 Aufgrund des medizinischen Fortschritts werden Hunde heute deutlich älter. Dadurch wird auch Demenz bei den Tieren häufiger. Was man über diese noch zu wenig beachtete Erkrankung wissen sollte. Würdevoller Abschied Von Dominique Klompmaker Es bellt, rhythmisch und monoton. Nachts um halb drei: Mischlingsrüde Maximilian steht in meinem Flur und: bellt. Und bellt. Und bellt. Und bellt … Dies ist bereits die zweite „Unterbrechung“ heute Nacht. Es wird nicht die letzte sein. Ich gehe zu ihm, berühre ihn an der Brust, halte ihn, und nun merkt Maximilian wieder, wo er ist. Und wohl auch, wer er ist … Maximilian ist einer von überraschend vielen Hunden, die an einer kognitiven Dysfunktion („Cognitive Dysfunction Syndrome“, CDS) erkranken. Auch als Demenz oder Alzheimer beim Hund bezeichnet, können sich bei großen Tieren bereits im Alter von fünf, bei kleineren ab circa zehn Jahren erste Zeichen eines Verlusts geistiger Funktionen bemerkbar machen. Wo rauf ist in diesem Fall zu achten? Der Hund entwickelt vielleicht plötzlich eine Trennungsangst, entwickelt neue Ängste vor seiner Umgebung, wirkt häufig orientierungslos und/oder wandert nachts ziellos umher. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört – so wie man das auch von Menschen mit Alzheimer-Demenz kennt. Beim Menschen ist Demenz ein Oberbegriff für krankhafte Veränderungen des Gehirns, die zu Beeinträchtigungen im Denken, der Orientierung und Lernfähigkeit etc. führen. Bei einigen Demenzformen kann es auch zu Veränderungen der Persönlichkeit kommen. Die häufigste Demenz ist die Alzheimerkrankheit. Die Erforschung der verschiedenen Demenzformen bei den Tieren steckt noch in den Kinderschuhen. Typisches Nachtwandeln Hund Maximilian zeigt fast alle der oben beschriebenen Symptome. Er ist 17 Jahre alt; das ist auch für einen mittelgroßen Hund ein durchaus stolzes Alter, denn nur acht Prozent der Hunde werden älter als 15 Jahre. Das Tier scheint in seiner eigenen Welt zu leben. Er löst sich häufig im Haus, obwohl man gerade erst draußen war – wie gut, dass es die Rüdenwindel gibt! Und er dreht nachts seine Runden: Das Nachtwandeln gehört zu den typischen Erkennungszeichen einer Demenz. Dann bleibt Maximilian meist irgendwo stecken, denn die betroffenen Hunde können ihre Körpergrenzen oft nicht mehr richtig wahrnehmen. Er bellt dann rhythmisch, bis man ihn aus seiner Fordernde Begleitung Ein dementer Hund braucht letztlich eine Rundumbetreuung. Heute gibt es auch Hospize, wo Hunde in der letzten Lebensphase begleitet werden. misslichen Lage befreit. Das kann schon mehrmals pro Nacht der Fall sein. Im schlimmsten Fall erkennt der Hund aufgrund der degenerativen Veränderungen in seinem Gehirn nicht einmal mehr seine eigenen Menschen und reagiert aufgrund von Verwirrtheit vielleicht sogar aggressiv. Auch dieses Symptom ist niemandem fremd, der einen oder eine demente(n) Angehörige(n) pflegt. Solche Verhaltensstörungen sind in der Medizin unter dem Kürzel BPSD beschrieben („Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia“). All das ist eine starke Belastung für Hundehalter(innen). Zudem eine große Herausforderung für berufstätige Personen, da ein dementer Hund, ebenso wie ein Mensch, auch tagsüber eine Rundumbetreuung braucht. Mittlerweile gibt es auch eigene Hospize, wo Hunde in der letzten Lebensphase begleitet werden. Die Ursachen der Demenz sind bei Mensch und Hund vermutlich ähnlich: Ebenso wie es sich in der humanen Alzheimerforschung abzeichnet, gibt es auch bei Hunden Ablagerungen verschiedener Stoffe im Gehirn, die zu einem allmählichen Verlust von Nervenzellen führen. Entscheidend scheinen Ablagerungen des Eiweißes Beta-Amyloid beteiligt zu sein. Ob diese Foto: iStock/Atlantagreg „Mit Haustieren durch dick und dünn“ (30.11.2022): Biologe Kurt Kotrschal über den Wert der Kumpantiere, auf furche.at. „ Bei den über siebenjährigen Hunden zeigen bis zu zwei Drittel Anzeichen einer Demenz. Die Symptome sind bei den Hundehaltern aber noch wenig bekannt. “ Eiweiß plaques aber nun Ursache oder Folge der Erkrankung sind, ist bislang nicht eindeutig geklärt. Bei den über siebenjährigen Hunden zeigen bis zu zwei Drittel Anzeichen für eine Demenzerkrankung. Beim Tierarzt werden die Veränderungen, die man im Verhalten des eigenen Hundes wahrnimmt, leider noch selten adressiert. Die Symptome sind wenig bekannt; die Demenz beim Hund ist noch nicht so richtig in die breite Bevölkerung durchgedrungen. Fragt man Tierärzte und -ärztinnen, sind die Früherkennung und ein möglichst früher Beginn der Behandlung absolut sinnvoll. Viele der eingangs genannten Symptome können allerdings auch durch andere Stoffwechselerkrankungen verursacht werden. Daher ist eine gründliche Anamnese von tierärztlicher Seite unerlässlich. Ist die Diagnose dann sicher gestellt, fragt man sich als Besitzer(in): Was kann ich denn nun dagegen tun? Die schlechte Nachricht: Die Schäden an den Nervenzellen sind letztendlich nicht aufzuhalten. Durchblutungsfördernde Medikamente oder Psychopharmaka können zwar Symptome lindern, tragen aber auch das Risiko von Nebenwirkungen. Antioxidantien und bestimmte Vitamine werden bei den Tieren als Nahrungsergänzung empfohlen, ebenso das Zufüttern von Ginko biloba. Für dieses Pflanzenpräparat gibt es erste wissenschaftliche Hinweise auf einen positiven Effekt. Ebenso wie beim dementen Menschen hilft „Kopfarbeit“ auch dem Hund, die geistigen Leistungen so lange wie möglich zu erhalten. „Wer rastet, der rostet“ ist auch hier die Devise. Mit Futtersuchspielen, neuen „Gassi“-Routen oder dem Einüben neuer Tricks zum „Hirntraining“ können Halter(innen) ihrem dementen Hund etwas Abwechslung bieten. Damit regen sie gezielt die grauen Zellen an. Vor allem sollten sie mit ihrem Hund einen festen, gleichbleibenden Tagesrhythmus leben, um ihm Sicherheit zu geben. Zwischendrin kann man ihn dann mit „Denksport“ beschäftigen. Der wichtigste Rat für betroffene Hundehalter(innen) ist aber letztlich: Versuchen Sie das Schicksal zu akzeptieren, und lieben Sie Ihren Hund so wie vor der Demenz! Gemeinsam altern Wie ging es nun mit Maximilian weiter? Ich hatte ihn damals für zwei Wochen betreut, weil seine Besitzerin selbst ins Krankenhaus musste und meine Hilfe brauchte. Einen dementen Hund auch nur für zwei Wochen aufzunehmen, bedeutet eine enorme Kraftanstrengung und viele Einschränkungen – das möchte man nicht jedem zumuten. Die hündische Gesellschaft durch meinen Dackel tat Maximilian sichtlich gut, und in seinen hellen Momenten schien er regelrecht glücklich zu sein. Als seine Halterin dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, durfte er endlich in sein altes Leben zurück. Die Dame, die aus gesundheitlichen Gründen in Frührente war, wurde mit dem Hund gemeinsam alt. Maximilian hatte das Glück, dass seine Halterin ihn bis zuletzt voller Liebe gepflegt hat. Sie war selbst nicht mehr „ganz so fit“ und sagte immer: „Wir halten uns gegenseitig am Laufen: Ich muss mit Maximilian regelmäßig vor die Tür, und er schenkt mir oft viel Freude. Er war mir über viele Jahre der treueste Wegbegleiter. Ich bin es ihm einfach schuldig, dass er in Würde altern darf – auch mit der Demenz.“ Mit einem Alter von 18 Jahren verstarb der Hund dann in ihren Armen. Geschichten wie diese zeigen, dass es möglich ist, auch dementen Tieren ein würdevolles Ende zu ermöglichen. Die Autorin ist Diplombiologin und selbstständige Hundetrainerin bei „Hund.Verstehen.Lernen.“ in Osnabrück. KREUZ UND QUER Furche23_KW06.indd 1 01.02.23 11:02
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