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DIE FURCHE 09.02.2023

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DIE FURCHE · 6 14 Literatur 9. Februar 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 13 Vogelhandlung kaum vermutet. Es gab im Haushalt Bücher, und der Vater schrieb neben Artikeln für Fachzeitschriften Gedichte, die er auf Verpackungen von Tierfutter drucken ließ. Vera besuchte nach der Volksund Hauptschule Abendkurse an der Handelsakademie, half im elterlichen Geschäft mit, das immer schlechtere Erträge abwarf, arbeitete als Laufmädchen in einem Wiener Warenhaus und während des Krieges als Stenotypistin bei einem Architekten. Nach einem landwirtschaftlichen Einsatz in der Wachau im Sommer 1945 trat sie im Festungsverlag eine Stelle als Sekretärin und Lektorin an, wo 1946 und 1947 ein Lyrikband und ihr erster und einziger Roman „Die Sackgasse“ erschienen, der 2022 im Wiener Milena Verlag neu aufgelegt wurde. Veras Bruder Raimund Gregor Ferra war als Maler und Grafiker Mitbegründer der Wiener Schule des phantastischen Realismus und entwarf einige Buchumschläge für seine Schwester. Kein eigenes Zimmer „ In ‚Literarische Luftnummer‘ entwirft sie im Luftakrobaten eine Figur, die selbstironisch die lebensgefährliche Arbeit am Seil mit der Spracharbeit verknüpft. “ 1948 heiratete Vera Ferra den Staatsoperntänzer Ludwig Mikura, im selben Jahr wurde ihre Tochter Elisabeth geboren, 1952 ihr Sohn Ludwig Wolfgang. Die Tochter erinnert sich: „Unsere Wohnung war nicht klein, aber es hatte keiner von uns ein eigenes Zimmer. Meine Mutter schrieb in der Küche neben dampfenden Kochtöpfen, die Werkstatt unseres handwerklich begabten Vaters war ein Durchgangskabinett. [...] Sie selbst ist schon sehr früh aufgestanden, um ungestört schreiben zu können.“ Die Wohnung war auch Treffpunkt für literarische Abende und gesellige Runden mit befreundeten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, unter anderem Christine Busta, Jeannie Ebner, Friedrich Polakovics. Angesichts von über 60 Büchern für Kinder und Jugendliche nimmt sich die Zahl ihrer selbstständigen Publikationen für Erwachsene tatsächlich bescheiden aus, allerdings veröffentlichte sie auch in zahlreichen Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften, unter anderem im Simplicissimus unter den Pseudonymen Veronika Erben und Andreas Krokus. Die ideale Form für ihre Vorliebe für Ironie und Komik, für das Abseitige, Skurrile und den „phantastischen Realismus“, der es ihr erlaubte, mit der Welt wie mit einem Ball zu jonglieren, fand sie in ihrer Lyrik, Kurzprosa und den Kinderbüchern. Sie selbst markiert den Unterschied ihrer Wahl für Kinder- oder Erwachsenenliteratur so: „Was sich für Kinder nicht eignet – Zynismus, Ironie, Boshaftes, Hinterfotziges, Giftiges –, das wische ich in eine Ecke, dort hol’ ich’s dann heraus, wenn ich mich ärgere, wenn mich was bewegt, und mach’ Geschichten für Erwachsene daraus.“ Als charakteristisch für ihre Erwachsenenliteratur sieht der umtriebige Autor und Übersetzer Oskar Jan Tauschinski, der ihr Werk sehr schätzte, die „Dosis heilsamer Beunruhigung, die uns mitten im Leben aufschrecken und innehalten lässt. Scheinbar unterspielend und beiläufig im Plauderton berichtend, öffnet die Ferra jählings verborgene Fenster und Falltüren.“ Und diese Falltüren öffnen sich nicht nur in der zitierten Erzählung „Die Lektion“, sondern auch in vielen anderen Kurzgeschichten. In der Titelgeschichte ihres Erzählbandes „Literarische Luftnummer“ (1971) entwirft sie im Luftakrobaten eine Figur, die selbstironisch die lebensgefährliche Arbeit am Seil mit der Spracharbeit verknüpft. Der Luftakrobat stürzt aus verschiedenen Ursachen oft in die Manege, weil er ein ungeeignetes „Gedankenseil“ benützt oder ein „Worttrapez“ zerbricht. Zu Lebzeiten erhielt Vera Ferra-Mikura seit den 1950er Jahren zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Nach ihrem Tod 1997 würdigten sie die Nachrufe vor allem als Autorin fantastischer Kinderliteratur. Wie so vielen Schriftstellerinnen bot ihr der Kinder- und Jugendbuchbereich mehr Entfaltungsmöglichkeiten, mit den vielfach aufgelegten „Stanisläusen“ ist ihr ein Klassiker gelungen. Vera Ferra-Mikuras Kurzprosa bewahrt bis heute ihre brisante Aktualität und harrt ebenso einer Wiederentdeckung wie ihre vielen anderen Kinder- und Jugendbücher. Die Sackgasse Roman von Vera Ferra-Mikura Milena Verlag 2022 304 S., geb., € 24,50 Lesen Sie dazu „‚Die Sackgasse‘ von V. Ferra-Mikura: Die verlorene Generation nach dem Krieg“ von Erich Klein, 23.11.2022, auf furche.at. FORTSETZUNG VON SEITE 13 „ Im Herbst des Jahres 1933 wusste die ganze Welt, Reinhard Federmann “ dass uns nicht mehr zu helfen war. Nur wir wollten es nicht glauben. genug in der Staatskasse hat, ihre Beamten zu bezahlen, ist am Ende, und eine Regierung, die am Ende ist und doch nicht an ihren Rücktritt denkt, ist gefährlich.“ Gefährlich wird sie zunächst einmal den streikenden Arbeitern, gegen die sie mit voller Härte vorgeht. Gezielt wird Schritt um Schritt die Demokratie abgebaut; der drohende Ton der „Regierungspresse“, die Verhaftung der Gewerkschaftler, die Vorzensur der Arbeiter-Zeitung, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, das Standrecht, die Hinrichtungen … „Auch wenn die Freiheit stirbt, wollen wir das nicht wahrhaben. Im Herbst des Jahres 1933 wusste die ganze Welt, dass uns nicht mehr zu helfen war. Nur wir wollten es nicht glauben.“ Vor allem der 12. Februar 1934 wird aus der Sicht von Bruno Schindler ausführlich beschrieben – und die Tage danach, die Kämpfe, die Schüsse auf Gemeindebauten und Familien, bis Schindler schließlich merkt, dass ihnen das Ausland nicht wie erwartet zur Hilfe kommen wird: „Abends: Die Tschechen waren nicht gekommen, auch die Franzosen nicht, niemand war uns zu Hilfe gekommen, und jetzt endlich wussten wir, dass alles aus war. An diesem Tag, dem 15. Februar, erstürmte Militär den Goethehof, die letzte Bastion der Republik, von der nun nichts mehr übrig geblieben war als die Buchstaben der allseits beschworenen Verfassung auf dem Papier, Flüchtlinge, Gefangene und Tote.“ Die Schubfächer der Archive Schindler flieht zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Sowjetunion. Dort wird er in das unmenschliche System des Stalinismus verstrickt, was er durchaus bemerkt: „Es war meine Pflicht, das Gegenteil von dem, was ich erkannt hatte, deutlich und mit lauter Stimme hinauszuschreien. Es war meine Pflicht, meine Freunde zu verraten. Sie zu beschimpfen. So zu tun, als hätte ich sie nie gekannt. Sie in Ketten zu legen und in ihrem Gestank ersticken zu lassen. Sie zu erschießen. Und als ich mir die scheinbar akademische Frage vorlegte, ob ich das alles im entscheidenden Augenblick wirklich tun würde, sprang mir unversehens die Antwort ins Bewusstsein: Du hast es ja schon getan.“ Es gibt so vieles, „was die rettenden Schubfächer der Archive nie erreicht“. Reinhard Federmann erzählt in Rückblenden und Reflexionen, lässt seinen Erzähler sich selbst und die Glaubwürdigkeit seiner Erinnerungen befragen, thematisiert dabei auch die Bedeutung von Schreiben und Erinnern – und rekonstruiert die Vergangenheit durch Fiktion, indem er etwa be­ schreibt, wie Heinz Rubin in die Gaskammer geschickt wird. Jener Heinz, der wie so viele Juden nach dem Krieg einfach verschwunden sein wird. Die Literatur ist es, die den letzten Gang zu den Mördern mit ihm geht und von ihm erzählt. Und nach 1945? Da sitzen in Wien der Christlichsoziale und der Sozialdemokrat beisammen, als wäre nichts gewesen. „Die beiden verstanden sich gut, und einem Unbeteiligten wäre es nicht im Entferntesten eingefallen zu behaupten, dass hier zwei politische Gegner zusammensaßen, zwei Männer, die irgendeinmal, in ferner Vergangenheit, aufeinander geschossen hatten. Es war nicht viel Unterschied zwischen ihnen: Sie waren zwei freundliche Herren, der eine über fünfzig, der andere knapp darunter, sie sprachen den Jargon der Privilegierten, sie trugen auch ein bisschen Verantwortung, das merkte man an ihren neuen Anzügen und an ihren gemessenen Bewegungen, aber sie machten sich nicht viel daraus, das merkte man an ihrer Lachlust und an der Sorglosigkeit, die ihnen aus den von Falten umkränzten Augen leuchtete. Sie hatten, das war ihnen ohne große Mühe anzumerken, das Schlimmste hinter sich und keine Neigung, sich künftig noch Schlimmes aufzuladen.“ Und Schindler merkt: „Der Fremde war ich.“ Anders als sein Ich-Erzähler Bruno Schindler war Federmann, dessen Vater 1938 als von den Nationalsozialisten so genannter „Halbjude“ als Richter in Wien entlassen worden war, 1942 als Soldat eingezogen worden. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde. Er begann Jus zu studieren und zu schreiben: Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Hörspiele, Essays und Sachbücher, Kriminalromane und Romane. Wie etwa „Das Himmelreich der Lügner“, in dem er sich mit den Auswirkungen totalitärer Systeme – „Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus“ – auseinandersetzte und die Rolle des Einzelnen hinterfragte. Nicht als harte Brüche erscheint bei ihm die Geschichte nach 1933, sondern als eine der Kontinuitäten. Das Himmelreich der Lügner Roman von Reinhard Federmann Picus 2023 528 S., geb., € 30,– GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Rauschhafte Entgrenzungen und präzise Porträtkunst schwimme ich krieche ich rolle ich / Lasse mich in ein Foto fallen“, so hebt der Gedichtband „Schwanen“ an und ab, um gleich „Ich in den ersten beiden Verszeilen poetische Wirklichkeiten zu generieren, die traumhafte, filmische und „reale“ Qualitäten amalgamieren. Diese Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten erzeugen beim Lesen ein anregend beflügelndes Flirren. „Ich hab kein Gehirn / ich habe / Gestirne im Kopf“. In Dominik Dombrowskis Prosagedichten wird mit ungeheuer suggestiver Kraft erzählt und gleichzeitig entstehen vielfältige Haken und Ösen, in die man sich spielerisch einklinken kann. „Es hat lange gedauert, / mir diesen Irrgarten anzulegen“, und dabei begegnet man Namen und Figuren wie unter anderem Albert Camus, Peter Gree naway, John Cage, Edward Hopper und einer unsichtbaren Filmfigur namens Harvey. Die Gedichte sind oft über mehrere Seiten lang, ungebunden und ohne Reim. Jede mögliche und unmögliche Wendung des Geschehens löst eine surreale Dynamik zwischen ironisch existenziellem Nihilismus und fantastisch rauschhafter Erfindungslust aus. Im titelgebenden Gedicht „Schwanen“ heißt es: „Eine finale Metapher, ein Statement des Schwebens der Unentrinnbarkeit / vor dem Tode / bei gleichzeitiger/ vollkommener Gewissheit, dass zu sterben / niemals möglich ist“. Monika Vasik verdichtet und transformiert in ihrem Gedichtband „Knochenblüten“ das Leben von 80 Frauen in 80 Gedichten zu poetischen Porträtfragmenten. Frauen aus unterschiedlichsten Kulturen der letzten acht Jahrhunderte, die mit unglaublichem Mut ihren Weg gingen und damit die Gesellschaft veränderten. „Kann man denn Stummheit ermessen“, so der Beginn eines Gedichtes, das Christine de Pizan gewidmet ist. Es sind Gedichte, die mit den Frauen zu korrespondieren scheinen und gleichzeitig über sie schreiben. Meist interpunktionslos entwickeln sie, ungebunden und ungereimt, eine in sich verschlungene Dynamik, einen Sog, der durch Abbrüche, Ellipsen und Enjambements Tempo und einen ganz eigenen Sound erzeugt. „Ihr Griff zur Feder / resolut setzte sie den Strich / für Strich rüttelte sich was / ohne verzitterten Nachhall“, so die ersten vier Verszeilen eines Gedichtes für oder über Marianne Hainisch. Kursiv gesetzte Zitate erwecken den Eindruck unmittelbarer Präsenz der originalen Stimmen, und die am Ende der Gedichte gesetzten kurzen Informationen über die Frauen stellen eine lexikale Facette dar. In einem Gedicht über Nawal El Saadawi heißt es: „danger has been part of my life / ihre Haut dünn wie Papier / auf dem / atmete sie keimte ritzte Buchstaben / aus dem Zwischen der Zellen … /“. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 14.2.2023) Lyrik vor. Schwanen Gedichte von Dominik Dombrowski edition Azur 2022 80 S., kart., € 18,50 Knochenblüten Gedichte von Monika Vasik Elif Verlag 2022 94 S., kart., € 20,60

DIE FURCHE · 6 9. Februar 2023 Theater 15 Die Adaptation von „Das flüssige Land“ im Kasino am Schwarzenbergplatz überzeugt durch ihre visuelle Sprache und eine gute Ensembleleistung. Von Christine Ehardt Verzerrte Klänge von „Radetzkymarsch“ und „Donauwalzer“ empfangen die Premierenbesucher im Theatersaal des Kasinos am Schwarzenbergplatz schon vor Beginn des Stücks. Keine schlechte Einstimmung auf die Theateradaption des grandiosen Antiheimatromans „Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer. Die Wiener Autorin zerlegte in ihrem 2019 erschienenen Debütroman die Scheinwelt österreichischer Beschaulichkeit mit feiner Klinge. Die kafkaeske Spurensuche nach der nur allzu gern vergessenen österreichischen Vergangenheit im Nationalsozialismus wurde als „avanciert“, „nonchalant“ und in „unerforschte Gebiete der Literatur vorstoßend“ beschrieben. Die überwiegend enthusiastischen Buchbesprechungen waren von zahlreichen Auszeichnungen wie dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb oder der Nominierung auf die Shortlist für den Österreichischen und den Deutschen Buchpreis begleitet. Nun hat die Wiener Regisseurin Sara Ostertag (ihre Inszenierung der Felix-Mitterer-Fassung von „Geierwally“ reüssierte 2022 am Landestheater Linz) gemeinsam mit Jeroen Versteele den Text fürs Theater bearbeitet und daraus eine schwungvolle Dramödie gemacht, die sich vor allem der surreal-satirischen Seite des Romans widmet. Unter den Teppich, ins Loch gekehrt Die Ausstattung ist karg: Zwei Trampoline, Turnmatten liegen auf dem Boden, im hinteren Teil der Bühne ist Platz für die Livemusik von Paul Plut. Der Frontmann der österreichischen Popband „Viech“ begleitet den Abend mit Mundartliedtexten und bekannten Popsongs. Die Protagonistin des Romans, die Physikerin Ruth Schwarz, lässt Ostertag von drei Schauspielerinnen verkörpern: Suse Lichtenberger, Katharina Pichler und Michèle Rohrbach müssen für diese Uraufführung nicht nur viel Text stemmen, sondern auch ihre Fitness unter Beweis stellen. Abwechselnd sprechen sie über die Erlebnisse in Groß-Einland, der mysteriösen Heimatgemeinde von Ruths verunfallten Eltern. In dem pittoresken Ort, der auf keiner Landkarte zu finden ist, gehen seltsame Dinge vor. Ein riesiges Loch droht das Dorf zu verschlucken, doch die Einwohner scheinen mit dieser Tatsache gut leben zu können. Auch die immer wieder zutage tretenden Menschenknochen aus dem ehemaligen Bergwerk beunruhigen sie nicht weiter. Nur der im Dorf gebraute Coca-Cola-Ersatz und die vom hiesigen Fleischer produzier­ Foto: © Marcella Ruiz Cruz Eine sprungvolle Uraufführung te ungarische Salami verärgern bisweilen die Bewohner. Immer tiefer taucht die Icherzählerin in dieses Universum aus seltsam-verschrobenen Eigenheiten, in dessen Zentrum die Dorfbesitzerin und Alleinherrscherin Gräfin Knapp-Korb-Weidenheim, gespielt von Rainer Galke (im ausladenden Reifrock und mit spitzen Fingernägeln in knalligem Rot), steht. Die Erzählungen über Groß-Einland sind von Trampolinsprüngen begleitet und bringen so den erodierenden Boden auf effektvolle Weise zum Ausdruck. Das verlangt den Schauspielerinnen jedoch einiges an Körperkraft ab, da sie den Großteil ihrer Sprechpassagen unentwegt hüpfend absolvieren müssen. Dazwischen tauchen allerlei seltsame Gestalten auf, ebenfalls gespielt von Lichtenberger, Pichler und Rohrbach, wie etwa ein ganz in schwarze Trauerkleider gehüllter Maskenhändler oder der opportunistische Bürgermeister, der mit Holzbrett vorm Kopf agiert. Diese bizarren Auftritte erinnern an den verschrobenen Nachbarn aus der Fernsehserie „Hör mal, wer da hämmert“, geben sie doch ebenso wie dieser nie ihr ganzes Antlitz preis. Das Loch, das sich immer weiter ausdehnt und das all die unter den Teppich gekehrten Geheimnisse über die Rolle Groß-Einlands und der Adelsfamilie während der Nazizeit in sich verbirgt, findet im Gegensatz zur literarischen Vorlage erst spät im Stück Erwähnung. Es sind vor allem die Lieder von Plut, die immer wieder darauf verweisen: „In am Sumpf. An Dreck. An Gatsch / Und wie mit jedem Nieselregen / Mit jeden Tau im Herbst / Mit jedem Blumengießen / Des Loch größer wird“. Die einprägsamsten Momente schaffen aber die visuellen Elemente des Stücks mit ihrer barocken Kostümsprache und der simplen, aber einfallsreichen Ausstattung. Etwa wenn Reifröcke vom Plafond segeln, in die sich die Schauspielerinnen gekonnt gleiten lassen und in denen sie nur durch umständlich verdrehte Bewegun­ „Raphaela Edelbauers Roman ‚Das flüssige Land‘: Tiefenbohrung in die Vergangenheit“ von Christa Gürtler, 3.10.2019, furche.at. „ Die Erzählungen über Groß-Einland sind von Trampolinsprüngen begleitet und bringen so den erodierenden Boden auf effektvolle Weise zum Ausdruck. “ Unter dem Reifrock gen agieren können. Oder wenn eine riesige Plastikplane über das Trampolin gespannt wird, die die unter der Oberfläche wabernden Machenschaften von Groß-Einland verdecken soll. Edelbauers grandiose Verschränkung von realen Orten und Begebenheiten mit surreal-fantastischen Wahrnehmungen machen den Reiz des Buches aus; im Stück überwiegen die kafkaesk-grotesken Momente und die kauzigen Figuren. Den Verweisen auf die in Österreich verübten Verbrechen wird wenig Platz eingeräumt, und auch die theoretischen Auseinandersetzungen über Raum und Zeit bleiben ausgespart. Ebenso wie im Buch bricht Ruth im Stück ihre Nachforschungen ab. Die Plastikplane und mit ihr alle Geheimnisse werden unterm Rock der Gräfin versteckt. Nach knackigen anderthalb Stunden geht eine ansprechende Inszenierung, die zwar etwas harmlos anmutet, aber der Essenz des Buches durchaus gerecht wird, vielbejubelt zu Ende. Das flüssige Land Kasino am Schwarzenbergplatz, 24.2. Die barocke Kostümsprache, die simple, aber einfallsreiche Ausstattung und der Einsatz von Trampolinen prägen die Atmosphäre des Stücks: Rainer Galke in „Das flüssige Land“. SALZBURG Vom Stoffgeschäft zur Weltenpleite Von Franz Mayrhofer Am 11. September 1844 betritt Heyum Lehmann aus Rimpar in Bayern amerikanischen Boden. Das gelobte Land, weil in Europa kein Platz für junge Leute war. Er eröffnete als Henry Lehman in Montgomery, Alabama, ein kleines Stoffgeschäft und schuf damit den Grundstock für einen unvorstellbar rasanten Aufstieg eines Imperiums, das 2008 als amerikanische Bank „Lehman Brothers“ und Diktator der Wall Street zusammenbrach und eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise auslöste, die bis heute andauert. Die 164 Jahre dazwischen zeigen einen Familienbetrieb, der Krisen, Brand und Kriege erfolgreich überstand und Nutzen daraus zog. Die Bereiche Eisen, Öl, Kaffee, Tabak, Eisenbahn bis hin zum Schild „Lehman Brothers, Bank für Alabama“ erobert der Familienclan an der Börse. Das ist ein zeitgeschichtlicher Stoff, aus dem großes Theater entstehen kann. Der italienische Autor, Dramatiker und Regisseur Stefano Massini hat nach drei Jahren Recherche eine Familiensaga daraus gemacht, die als Zeitdokument ebenso tauglich ist wie als Theaterstück. Nach den „Buddenbrooks“ hat sich das Landestheater Salzburg mit dieser internationalen Großpleite eines zweiten ähnlichen Stoffs angenommen, in dem 121 Personen agieren – und aus dem Regisseur Claus Tröger ein Drei-Personen-Stück destilliert hat; mit überzeugender Theaterpranke und ebenso großem Erfolg. Eine Schauspielerin, Britta Bayer, und zwei Schauspieler, Axel Meinhardt und Matthias Hermann, erzählen und spielen die Geschichte sowie die einzelnen Personen und tauschen auch die Rollen gegeneinander aus – es war großartig und ein großer, zu Recht gefeierter Abend in den Kammerspielen des Landestheaters. Von anderem Zuschnitt, grell und schrill, ist „Die Laborantin“ von der englischen Autorin und Schauspielerin Ella Road, ein Stück, das das Schauspielhaus Salzburg in den Kammerspielen zeigt. Es geht dabei um das, was längst überall praktiziert wird: Die Optimierung des Menschen ist aus der Utopie in die Realität umgeschlagen. Im konkreten Fall geht es um Blutproben, die den Gesundheitsstatus und Infektionen oder Defekte an der DNA dokumentieren. Davon hängt auch berufliches Weiterkommen ab. Hilft bei bedrohlicher Diagnose Betteln, die Probe gegen eine gesunde auszutauschen? Dabei jemand anderem zu schaden? Mit den Fälschungen lässt sich ein Geschäft machen. Mit diesen Problemen beschäftigen sich in der Regie von Petra Schönwald Magdalena Oettl (Bea), Enrico Riethmüller (Aaron), Sophia Fischbacher (Char) und Pit-Jan Lößer (David). Über den Applaus sollte man nicht vergessen nachzudenken, wie das hierzulande ist. Foto: © SLT / Tobias WitzgallDownload „Lehman Brothers“ mit Axel Meinhardt, Britta Bayer und Matthias Hermann. Lehman Brothers Salzburger Landestheater, 9., 12., 14., 17., 18.2. Die Laborantin Schauspielhaus Salzburg, 10., 13., 18., 22., 24.2.

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