5 · 2. Februar 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Dass bei der Niederösterreichwahl in Gemeinden mit geringer Durchimpfungsrate die FPÖ besonders gute Ergebnisse erzielen konnte, ist von daher keine Überraschung, aber doch bemerkenswert. Der Gipfel des gefährlichen Grolls wird erreicht, wenn radikale Impf- und Maßnahmengegner in sozialen Netzwerken das Von Doris Helmberger Motto „Niemals vergessen“ posten, es revanchistisch umdeuten und sich dadurch ie einen sehen Österreich in einer „Zeitmaschine“ oder gar derkehr der Freiheitlichen – und ihr Durch- Derlei Geschichtsklitterung ist unerträg- Dennoch schockiert die neuerliche Wie- auf dieselbe Stufe wie Schoa-Opfer stellen. „Zeitschleife“ gefangen, andere zitieren den bekannten Film- auf Platz drei verdrängt, hat nach eintägifallverweigerung, als Bundespräsident marsch auf den zweiten Platz. Die SPÖ, lich. Ebenso wie die jüngste blaue Bei- Titel „Und täglich grüßt das ger Schrecksekunde doch noch den glücklosen Franz Schnabl gegen die neue rote bungsrede mahnte, „die dunkelste Seite Alexander Van der Bellen bei seiner Angelo- Murmeltier“. Allen gemein ist jedenfalls der erschütterte Glaube an die Lernfähigkeit des Menschen – bzw. an die Gedächtnis- bisherigen AMS-Chef Sven Hergovich, ausonalsozialismus mit seiner mörderischen Zukunftshoffnung, den erst 34-jährigen unserer Geschichte, der verheerende Natileistung der Wählerinnen und Wähler über getauscht. In der ÖVP glaubt man indes, Ideologie, [dürfe] sich niemals wiederholen“. ein paar Schlagzeilen, Tage und Wochen nach Verlust von knapp zehn Prozent der Was aber folgt aus alledem? Empörung hinaus. Wie sonst, fragt man sich, kann Stimmen ohne Konsequenzen auszukommen. Ratlos hinsichtlich des Umgangs mit in die innenpolitische Geschichte, können und Abgrenzung allein, so zeigt ein Blick das ziemlich durchschaubare (rechts-) populistische Muster à la FPÖ nach jeder der blauen Renaissance ist man freilich den Rechtspopulismus nicht stoppen. Auch Phase blauer Selbstzerstörung – von Knittel- hier wie dort. der Versuch, blaue Themen zu kapern, ist feld über diverse Liederbücher bis Ibiza – nicht zwingend erfolgreich – wie das ÖVPimmer wieder fruchten? Blaue Alleinstellungsmerkmale Nein zum Schengenbeitritt von Bulgarien Tatsächlich ist die Verstörung nach der Wie sie möglich war, ist nach Ansicht der und Rumänien kurz vor der Landtagswahl sonntäglichen Landtagswahl in Nieder- meisten Polit-Analysten leicht nachzuvollziehen: Zum einen begünstigt allgemeine truktive Politik – die authentisch und über- zeigt. Am ehesten hilft stringente, konsösterreich groß. Zwar war der Verlust der absoluten Mehrheit der ÖVP in Landtag und Unzufriedenheit von jeher rabiate Anti- zeugend kommuniziert wird. Landesregierung angesichts der allgemeinen Krisenstimmung und des fehlenden anderen haben die Freiheitlichen mittler- oder auch Kärntens Peter Kaiser (vgl. Seiten Establishment-Parteien wie die FPÖ. Zum Ob Karl Nehammer, Pamela Rendi-Wagner Rückenwinds durch die Bundespartei erwartet worden; auch schien absehbar, dass sche Alleinstellungsposition entwickelt – lebt die Hoffnung, dass in diesem Land weile bei zahlreichen Themen eine politi- 6–7) das gelingt, wird sich zeigen. Doch noch weder die Zugkraft von „Landesmutter“ Johanna Mikl-Leitner noch die jahrzehnte- sie schneidig zu kommunizieren. Jene gewinnt. und schaffen es in Person von Herbert Kickl, nicht die kollektive Amnesie die Oberhand lang erprobte Gleichsetzung von Land und im Bereich Flucht und Migration ist legendär; jene zum Ukraine-Krieg und den Co- doris.helmberger@furche.at Partei ausreichen würden, um die Stimmung in Richtung Aufbruch zu drehen. rona-Maßnahmen kam verstärkend hinzu. @DorisHelmberger Wir leben in einer multiplen „Zeitenwende“. Die gravierendste hat sich am 24. Februar 2022 vollzogen; fast ein Jahr danach spitzt sich die Frage der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine dramatisch zu. Brigitte Quint und Jan Opielka haben dazu unterschiedliche Meinungen. Innenpolitisch ist die FPÖ wieder auf Siegeskurs – und ÖVP wie auch SPÖ sind unter Druck. Was der gerade wahlwerbende Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser dazu sagt, lesen Sie im Interview. Eine eigene „Zeitenwende“ erlebt die Theologie angesichts drastisch schwindender Studierendenzahlen. Otto Friedrich fragt im aktuellen Fokus „Theologie am Ende?“, woran das liegt. Und Gregor Maria Hoff beleuchtet das versuchte Ausbremsen des deutschen „Synodalen Wegs“ im Kompass. Dort geht es auch um existenzielle Zeitenwenden: um persönliche Assistenz, die wegen Arbeitskräftemangels fehlt; oder um das Reden über eine Krebserkrankung. Einen besonderen Blick auf das Älterwerden von Frauen als Zeitenwende wirft das Buch „Wechselhafte Jahre“: Was die Schriftstellerin Alida Bremer dazu denkt, lesen Sie im Feuilleton als Vorabdruck. Ebenso finden Sie hier mehr zur Frage, ob künstliche Intelligenz tatsächlich Lebenshilfe bieten kann. Überraschung: Wirklich klug oder gar weise ist sie noch lange nicht. (dh) Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 6 12 Forum 9. Februar 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Berta Karlik Lecture VORTRAG Mit der Berta Karlik Lecture würdigt die ÖAW die Leistungen der Physikerin und ersten Frau im Kreis der wirklichen Mitglieder der ÖAW. Zudem werden aus Anlass des Weltfrauentags weibliche Mitglieder der ÖAW ihre unterschiedlichen Forschungsfelder vorstellen. Berta Karlik Lecture ÖAW Wien 8. März, 17.30 Uhr www.oeaw.ac.at Zersiedelung: Boden für Alle AUSSTELLUNG Durch die fortschreitende Zersiedelung wird immer mehr Natur zerstört, was sich in der Klimakrise rächt. Die Ausstellung „Boden für Alle“ hinterfragt die politischen Gründe für die Umwidmung von Grün- in Bauland und wie die Ressource Boden geschont wird und wie gute Architektur dabei helfen kann. Boden für Alle Architektur Haus Kärnten Bis 28. Februar www.azw.at Mehr als alles auf der Welt THEATER Eine Graphic Novel auf der Bühne: Die 13-jährige Kim steckt nicht nur im Trubel des Erwachsenwerdens, sie hat auch eine sehr außergewöhnliche Familie. In ungeduldig erwarteten Briefen berichtet Vater Eddie Kim von seinen fantastischen Abenteuern und einem rätselhaften Auftrag. (Ab acht Jahre) Mehr als alles auf der Welt Akademietheater Wien 12. Februar und 27. Februar www.burgtheater.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at NIEDERösterreich Die große Amnesie Von Doris Helmberger Nr. 5, Seite 1 Wie gelähmt starren wir Oberösterreicher auf Niederösterreich und das dortige Emporkommen ganz dunkler Mächte. Ja, das Wahlvolk hat diese dunklen Figuren aus den Niederungen der Geschichte wieder einmal demokratisch legitimiert. Mit grauslicher, menschenverachtender Rhetorik hat es bereits einmal angefangen. Das erstickende Ende dieser geschichtlichen Trauma-Reise kennen wir. Leider wurde in OÖ vom Parteivorsitzenden der führenden Landtagspartei nach den Wahlen 2021 ein Arbeitsübereinkommen mit derartigen Gebrüdern eingefädelt. Zum Fremdschämen! Fritz Baumgartner St. Georgen/Gusen FPÖ: Wurzeln nie abgelegt wie oben Fakt ist, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sind eine Bedrohung für eine plurale Gesellschaft. Eine Partei, die eine „Festung Österreich“ errichten möchte, die Angelobungsrede und Mahnung unseres Bundespräsidenten, dass sich der menschenverachtende Nationalsozialismus mit seiner blutigen Ideologie niemals wiederholen darf, mit verächtlichem Gesichtsausdruck und Beifallsverweigerung quittiert, in Zuwanderern und Asylsuchenden ihre Sündenböcke sucht, missliebigen Zeitungen keine Information erteilen will, die Europäische Menschenrechtskonventionen anzweifelt und deren Chef erklärt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht umgekehrt die Politik dem Recht, stellt zweifelsohne eine Gefahr dar. De facto bedeuteten all die zuvor genannten Aspekte nichts anderes, als dass der FPÖ-Chef den Rechtsstaat nicht respektiert. Frau Helmberger hofft, dass die kollektive Amnesie nicht die Oberhand gewinnt, was natürlich wünschenswert wäre. Doch ich frage mich: Sind die vielen FPÖ-Wähler tatsächlich nur „Denkzettel-Wähler“, oder ist es nicht vielmehr so, dass diese Partei ihre Wurzeln aus dem Deutschnationalismus und Nationalsozialismus nie ganz abgelegt hat und für deren heutige Wähler keine Hemmschwelle mehr darstellen oder Tabu bedeuten? Für ein Leben in Würde Viele Menschen mit Behinderung finden keine persönlichen Assistent(inn)en mehr. Das bringt sie in lebensgefährliche Situationen. · Seite 9 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Die große Amnesie D DI (FH) Franz Josef Dorn, BEd 8733 St. Marein-Feistritz VP verlor ein Fünftel! wie oben Im Leitartikel vom 2. Februar 2023 findet sich eine Darstellung des Ergebnisses der jüngsten Landtagswahl, die eine Korrektur verlangt. Der Stimmenverlust für die ÖVP NÖ bei der letzten Landtagswahl betrug nicht zehn Prozent, wie erwähnt, sondern zehn Prozentpunkte. In Prozent bedeutet das jedoch einen Verlust von 20 Prozent oder von einem Fünftel Close, but no cigar „Doch war mein bestes Alter nicht zwischen zwanzig und dreißig?“ – Schriftstellerin Alida Bremer über das Älterwerden. · Seiten 17–18 „ Das Motto ,Niemals vergessen‘ der Impfgegner ist eine Chuzpe. Darauf Antworten finden muss man dennoch. “ Einst Gründungswissenschaft von Universitäten, kämpft die Theologie heute mit Relevanzverlust und Studierendenschwund. Als „andere“ Wissenschaft bleibt sie wichtig. Theologie am Ende? Nicht nur Dankbarkeit, auch Erinnerung ist in der Politik keine Kategorie: Das zeigt die ewige Wiederkehr der FPÖ. Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Am ehesten hilft glaubwürdige Politik. Spiegel der Menschheit Die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz kamen schneller als erwartet. Kann sie sogar Sinnfragen beantworten? · Seiten 22–23 Foto: iStock/shiyali (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Waffenlieferungen als Strategie für den Frieden? Ein Pro und Contra · Seite 5 „Demokratie ist nicht einfach“ Nach Niederösterreich folgt am 5. März die Landtagswahl in Kärnten. Im FURCHE-Interview spricht Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) über die Lehren aus St. Pölten, die Stärke der FPÖ, die Schwäche der Bundes- SPÖ und Olaf Scholz. Seiten 6–7 INTRO furche.at der Stimmen von 2018 (!) – was im Übrigen an den allgemein publizierten Diagrammen optisch gut ablesbar ist. Erstaunlicherweise tauchte diese Zahl in der gesamten medialen Berichterstattung nicht auf. Dr. Friedrich Schindegger per E-Mail Coronamaßnahmen: Fehler! wie oben Es gibt nicht nur radikale Impfgegner. Ibiza und dergleichen war widerlich, hat aber die Menschen nicht persönlich betroffen. Dagegen waren die Impfpflicht und der Lockdown für Ungeimpfte für viele eine tiefe persönliche Kränkung, und auch viele, die keine Impfgegner waren, haben das so gesehen. Es hätte Alternativen gegeben, z. B. finanziellen Anreiz wie beim Mutter-Kind-Pass. Das hat die Regierung aus Angst vor Neidgenossenschaft abgelehnt. Es waren schwere politische Fehler. Die Regierung, aber auch die SPÖ haben sich dafür nie entschuldigt, daher dauert die Kränkung noch an und daher können es viele nicht verzeihen. Das war wohl mit ein wesentlicher Grund für den Wahlerfolg der FPÖ. Dr. Stefan Malfèr 1140 Wien Ausverkauf, stillschweigend Fokus „Theologie am Ende?“ Nr. 5, Seiten 2–4 Ihr (mit einem Fragezeichen zu lesender) Befund „Theologie am Ende?“ scheint mir lediglich den unverkennbaren Trend zu bestätigen, dass der religiöse Glaube in unserem westlichen Kulturkreis auch im akademischen Umfeld weitgehend verdunstet, d. h., nur noch in verkümmerten „geistesgeschichtlichen Restbeständen“ vorhanden ist – das zeigt sich besonders auch im gegenwärtigen Status der „Theologie“ an den Universitäten: Ein stillschweigender Ausverkauf der substanziellen Gehalte des Christentums ist m. E. auch im universitären „Theologie-Betrieb“ unübersehbar – oftmals bzw. weithin „aktionistisch“ unterstützt. Eine denkerische Bemühung um noch „ungehobene semantische Potenziale der religiösen Tradition“ (die etwa der „Agnostiker“ Habermas wiederholt erwähnt und auch erfragt!) ist jedoch theologischer- und kirchlicherseits weithin zu vermissen. „Wissenschaftliche Theologie“ stürzt sich hingegen stattdessen begierig in entlastende Ausweichmanöver und verwandelt sich weithin stillschweigend zu Sonder- bzw. Subdisziplinen der Kultur-, Geschichts-, Literatur-, Kunst- und Sozialwissenschaften bzw. sucht in einer zunehmenden „NGOisierung“ ihrer Themen (Klimawandel, Krieg, Armut, Menschenrechte usw.) „Aktualität“. Nicht, dass dies nicht sehr, sehr wichtige Themen sind! Jedoch der Preis für diese – in einer „Flucht nach vorne“ – erkaufte „Aktualität“ und „Wissenschaftlichkeit“ ist freilich hoch – läuft dies doch de facto auf eine völlige Preisgabe der eigentlich theologischen Themen hinaus … Univ. Prof. i. R. Dr. Rudolf Langthaler per E-Mail Die Freitagsziehung von Lotto „6 aus 45“ bringt wieder 300.000 Euro extra. Lotto Bonus- Ziehung am 10. Februar Teresa Vogl feierte mit ihrer Live-Moderation des Neujahrskonzerts gleich zu Jahresbeginn eine aufregende Premiere. Bevor sie am 16. Februar das Moderationsteam des Opernballs 2023 in der Wiener Staatsoper komplettiert, dürfen wir sie am kommenden Freitag, den 10. Februar auf die Lotto Bühne begrüßen, denn sie übernimmt als Gastmoderatorin die Ziehung der „sechs Richtigen“ sowie der Zahlen von LottoPlus und Joker. Der „Bonus“ in Form von 300.000 Euro wird wie immer im Anschluss an die Ziehung unter allen mitspielenden Lotto Tipps der Runde verlost. Als komplette Spielrunde gliedert sich die Ziehung in den Ziehungsrhythmus ein, auch eventuelle Jackpots werden in die Runde mitgenommen. Annahmeschluss für die Bonus-Ziehung ist am Freitag, den 10. Februar um 18.30 Uhr, die Ziehung ist um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Teresa Vogl im Lotto Studio Foto: © Hans Leitner/ORF Wie Identitäten entstehen Jeden Tag bilden wir Identitäten. Auf der einen Seite die eigene, aber auch die der anderen. Identität besteht aus Ein- und Ausschlüssen. FURCHE-Feuilleton-Chefin Brigitte Schwens-Harrant und der Philologe Daniel Wendt erklären, wie Identitäten in der Literatur und der Kulturgeschichte entstehen und wie man sie für einen sinnvollen Diskurs nutzen kann, der vereint, statt zu spalten. furche.at/chancen
DIE FURCHE · 6 9. Februar 2023 Literatur 13 Vor 100 Jahren wurde Vera Ferra-Mikura in Wien geboren. Ihre brisante Kurzprosa wartet auf Wiederentdeckung. Vera Ferra- Mikura Geboren am 14. Februar 1923 in Wien, gestorben am 9. März 1997: Bekannt wurde die Schriftstellerin vor allem durch ihre Kinder- und Jugendliteratur. Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Votava Foto: Privat Reinhard Federmann Geboren am 12. Februar 1923 in Wien, gestorben am 29. Jänner 1976: Der Schriftsteller und Übersetzer gehörte zu jenen, die gegen das Schweigen anschrieben. Vor 100 Jahren wurde Reinhard Federmann geboren. Auch sein Werk widerlegt die These vom Nachkriegsschweigen. Mögliche Wirklichkeit „Der Fremde war ich“ Von Christa Gürtler In Vera Ferra-Mikuras einzigen längeren Erzählung „Die Lektion“ (1959) werden zwei alte unverheiratete Frauen vorgeführt, die nach einem arbeitsreichen Leben als Inhaberin einer Papierhandlung und Angestellte im Telegrafenamt ihre kleinbürgerlich zwanghafte Ordnung von allen Seiten bedroht sehen; etwa von der zukünftigen Braut ihres einzigen Neffen Robert oder einer Rechtsordnung, in der zwischen Notwehr und Mord unterschieden wird, denn für sie gibt es „keinen schuldlosen Mörder“. Als Agnes und Klementine eines Abends nach Hause gehen, fühlen sie sich wieder einmal besonders unbehaglich und versteigen sich in die Illusion, dass sich in ihrer Wohnung ein Verbrecher aufhält. Aus Angst sperren sie den vermeintlichen Täter im Kleiderschrank ein. Doch die Lektion, die sie ihm erteilen wollen, verkehrt sich ins Gegenteil, als sie am nächsten Tag zwar kein Geräusch mehr, aber Leichen geruch wahrzunehmen glauben. Sie ziehen in ein Hotel und beschließen schließlich, den Schrank und ein Pianino mit einem Übersiedlungstransport zu einem nahegelegenen Stausee zu bringen und zu versenken. Klementine hofft noch: „‚Aber wir leben‘, sagte sie, ‚und er wird untergehen!‘“ Doch beim Anblick des schwimmenden Kastens wird sie verrückt und beginnt unentwegt zu lachen. Wach-Sein fürs Erwachsen-Sein Die Angst und Furcht vor einer möglichen Bedrohung wird in der grotesken Handlung desavouiert. „Vera Ferra-Mikura versteht es, das Unwahrscheinliche, Absurde, unmerklich zur möglichen Wirklichkeit zu lassen“, lobt Johann Gunert die „ Die Autorin kritisiert die Verlogenheit einer Moral, die in den 1950er Jahren Nationalsozialismus und Krieg verdrängt ... “ Novelle in seiner Einleitung zum Band „Schuldlos wie die Mohnkapsel“ (1961). Die Autorin kritisiert in „Die Lektion“ die Doppelbödigkeit und Verlogenheit einer Moral, die in den 1950er Jahren Nationalsozialismus und Krieg verdrängt und Hoffnungen auf einen kritischen Neuanfang obsolet erscheinen lässt. Die Menschen identifizieren sich lieber mit der Schuldlosigkeit der Natur wie im titelgebenden Gedicht des Bandes: „Schuldlos wie die Mohnkapsel [...] so schuldlos möchten wir sein / an unserer Existenz.“ Was auffällt am literarischen Werdegang von Vera Ferra-Mikura, geboren am 14. Februar 1923 in Wien, ist der beinahe gleichzeitige Start mit Erwachsenen- und Kinderliteratur, die gleichermaßen die Verbindung von sozialkritischem Blick auf die Realität und fantastischer Übersteigerung auszeichnet. Die Autorin plädiert in ihrem Werk für eine genaue Wahrnehmung der Verhältnisse, für das Erwachen als Kennzeichen des Erwachsen-Seins. Ihre Neigung zum Schreiben sah die Schriftstellerin in der literarischen Atmosphäre des Elternhauses begründet, die man bei den Besitzern einer Tierfutter- und FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE LINKS Von Brigitte Schwens-Harrant Es ist eine hartnäckig immer wieder und immer noch vertretene These, dass die österreichische Nachkriegsliteratur erst ab den 1960ern die damals nahe Vergangenheit thematisierte. Evelyne Polt-Heinzl, die wie kaum eine andere die Mythen und Legenden über diese Zeit aufdeckt und jahrzehntelang Überliefertes durch gründliche Recherchen kritisch hinterfragt, listet in ihrer Studie über die Literatur nach 1945 („Die grauen Jahre“, Sonderzahl 2018) hingegen zig literarische Titel auf, die bis 1965 erschienen und sich mit der Zeitgeschichte auseinandersetzten. In dieser beachtlichen Liste, in der man viele vergessene Autorinnen und Autoren entdecken kann, findet sich auch Reinhard Federmanns Roman „Das Himmelreich der Lügner“. Darin werden nicht nur detailliert politische Entwicklungen der 1930er Jahre beschrieben, vor allem die Vorgänge im Februar 1934, ein Kapitel imaginiert auch die Vernichtung eines jüdischen Protagonisten in der Gaskammer. Von einem Verschweigen kann hier keine Rede sein, ganz im Gegenteil thematisiert dieser 1959 erschienene Roman die Notwendigkeit des Erinnerns. Von den 1930er Jahren bis 1956 Reinhard Federmann, der am 12. Februar 1923 in Wien geboren wurde, lässt in diesem nun im Picus Verlag neu aufgelegten Roman seinen Ich-Erzähler Bruno Schindler sich erinnern. Ausgangspunkt ist der Dezember 1956, der Ungarnaufstand wurde soeben mit voller Gewalt niedergeschlagen. Schindler hat seine eigenen Notizen aus dem Jahr 1934 wiederbekommen, er liest sie, versucht sich an das politische Geschehen zu erinnern und auch seine eigene Rolle und die seiner sozialdemokratischen Freunde zu reflektieren. Er wollte damals nicht mehr Zuschauer sein, meint Schindler, und wurde daher Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Es beginnt damit, dass Nationalsozialisten seinen Freund Heinz in Wien niedergeschlagen haben, es beginnt damit, dass der Jusstudent Bruno noch an Recht und Gerechtigkeit glaubt und einen Anwalt engagiert, um dann ernüchtert feststellen zu müssen: Vor diesem Gericht wird nicht der Jude recht bekommen. Das alles wird erst ein Anfang gewesen sein. „ Den 1930er Jahren widmet Reinhard Federmann in seinem Roman ‚Das Himmelreich der Lügner‘ ein besonderes Augenmerk. “ Den 1930er Jahren widmet Federmann in diesem Roman ein besonderes Augenmerk. Sehr konkret werden Daten und Orte erzählt, Geschehnisse, die zur Ausschaltung des Parlaments im März 1933 führten. Auch die soziale Lage kommt in den Blick: Die Armen „waren ausgesteuert. Der Staat verlangte nichts von ihnen und half ihnen nicht, er rechnete nicht mehr mit ihnen.“ Und: „Eine Regierung, die nicht mehr Geld FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE RECHTS
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