DIE FURCHE · 6 10 Diskurs 9. Februar 2023 ÖKUMENISCHE FRIEDENSREISE NACHRUF Hitlerjunge Salomon In seinen ersten 16 Lebensjahren war Salomon Perel der „Jude Sally“. Von 1941 bis Kriegs ende diente er getarnt als Hitlerjunge Josef „Jupp“ Perjell bei der Hitlerjugend. Geboren 1925 in Niedersachsen, flüchtete Perel in den 30er Jahren mit seiner Familie nach Łódź in Polen. Als die Eltern zu schwach für die Flucht wurden, schickten sie Sally und seinen älteren Bruder allein weiter: „Vergiss nie, dass du Jude bist“, mahnte der Vater. „Geh! Du sollst leben“, verabschiedete sich seine Mutter von ihm. Mit 16 Jahren wurde Sally Perel gemeinsam mit tausenden Juden nahe Minsk von der deutschen Wehrmacht gefangengenommen. Die Gefangenen standen in einer Schlange, Juden wurden aussortiert, aus dem Wald hörte man Schüsse, erzählt Perel später. Als er an die Reihe kam, antwortete er auf die Frage, ob er Jude sei: „Ich bin doch kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“ Der Offizier glaubte ihm – wie durch ein Wunder musste Perel im Gegensatz zu den anderen nicht die Hose hinunterlassen, um die Unbeschnittenheit zu beweisen. Er tarnte sich als der volksdeutsche Hitler junge Jupp und verbrachte die letzten vier Kriegsjahre als Russisch-Übersetzer nahe der Front, in einer HJ-Schule und als Soldat des Volkssturms. Die Mahnung des Vaters musste er vergessen, der Aufforderung der Mutter konnte er folgen. „Die Juden waren Opfer und die Deutschen Täter, ich war beides.“ So fasste Perel später seine Zwiegespaltenheit zusammen. Diese Ambivalenz durchzog sein ganzes Leben – noch 2015 berichtete Perel im FURCHE-Interview: „Ich bin weiter in einem Doppelleben.“ In der Rolle des „Jupp“ weinte er mit seinen HJ-Kameraden, als die Deutschen in Stalingrad kapitulierten, „ich habe mich total mit dieser Ideologie identifiziert“, gab Perel zu. Als Jude habe er sich wiedererkannt, „als ich den ersten Juden getroffen habe, der in Auschwitz war“. Erst vierzig Jahre nach Kriegsende schrieb Perel, seine Geschichte nieder. 1992 erschien „Ich war Hitlerjunge Salomon“ auf Deutsch, schon 1990 verfilmte Agnieszka Holland die Geschichte unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“. Perel verbrachte die folgenden 30 Jahre mit Vorträgen und Lesungen, in denen er einmahnte: „Auschwitz darf nicht vergessen werden.“ Am 2. Februar verstarb Sally/Jupp mit 97 Jahren in Israel. Philipp Axmann Sally Perel überlebte die Naziherrschaft getarnt als volksdeutscher Hitlerjunge. Seine Geschichte ging unter dem Titel „Ich war Hitlerjunge Salomon“ um die Welt. Foto: APA / dpa / Marijan Murat Foto: APA / AFP / Tiziana Fabi Kirchenobere beschwören Frieden im Südsudan Vom freien Flug der Geister NUSSBAUMERS WELT Heinz Nußbaumer Herausgeber Gründe, die wieder Anlass zum Optimismus geben“ titelte „Sieben der KURIER jüngst – und der Leser spürte die klare Absicht: um die Depression zu überwinden, die derzeit über unserem Land liegt. Die Zeit drängt, denn – so stand es anderntags im FURCHE-Leitartikel von Doris Helmberger-Fleckl: „Noch lebt die Hoffnung, dass in diesem Land nicht die kollektive Amnesie die Oberhand gewinnt.“ Was das ORF-Fernsehen zunächst als einen innenpolitischen Arbeitsauftrag deutete: „Welche Lehren müssen unsere Parteien ziehen, um wieder attraktiver zu sein?“ Aber reicht das? Geht die aktuelle Verstörung nicht weit über die geballte Last von Krieg und Teuerung, von Wahldebakel und freiheitlichen „Jenseitigkeiten“ hinaus? Und wer weiß, wie unser angeschlagenes Selbstverständnis samt Zukunftsfähigkeit aufgefrischt werden könnten? Der Zufall hat mir dieser Tage einen Text in die Hand gelegt, mit dem mein Herausgeberkollege Wilfried Stadler schon vor 15 Jahren an dieser Stelle den Finger auf diese Wunde unserer Republik gelegt hat. In Alternativen denken können Er fragt da, wo die kreativen Mit-Denker zu finden wären, die unser Land „jetzt“ (das war 2008!) bräuchte, um einer ausgelaugten politischen Klasse die Suche nach zukunftsorientierten Lösungen zu erleichtern – und „um die Vorratslager für tragfähige Ideen aufzufüllen“. Wo die rot-weiß-roten Ideenplattformen wären, die – unbeeindruckt von Einzelinteressen – in Alternativen zu denken verstünden? Und wo die Experten(innen)runden, die nicht das fabrizieren, was von diversen Hauptquartieren bestellt würde? Einen „Weisenrat“ im Vorfeld des Parlaments hat Stadler schon damals vorgeschlagen. Einen Senat von freien Geistern, an denen es ja in Österreich durchaus nicht „ Aber reicht das? Geht die aktuelle Verstörung nicht weit über die geballte Last von Krieg und Teuerung, von Wahldebakel und freiheitlichen ‚Jenseitigkeiten‘ hinaus? “ Sie waren auf einer ökumenischen Friedensreise im Südsudan: Eindringlich beschworen Papst Franziskus, der Erzbischof von Canterbury und Anglikaner- Primas Justin Welby sowie der Moderator der presbyterianischen Kirche von Schottland, Iain Greenshields, die Politiker des Südsudan, der Gewalt abzusagen und endlich Frieden in dem Land zu schließen. Am 4. Februar beteten die drei Kirchenführer gemeinsam beim Mausoleum des Freiheitskämpfers John Garang in Juba für den Frieden – Zehntausenden waren gekommen (Bild). „Mein Herz bricht vor Trauer um den Südsudan“, so Erzbischof Justin Welby angesichts der Gewaltwelle, die den jüngsten Staat Afrikas (der Südsudan wurde erst 2011 unabhängig) weiterhin überzieht. Erst am 2. Februar wurden bei einem Massaker im Dorf Kajo-Keji, rund 100 Kilometer von der Hauptstadt Juba entfernt, 27 Menschen getötet, unter ihnen vier Freiwillige des Roten Kreuzes. „Damit dieses Land nicht zu einem Friedhof verkommt“, seien ein Ende der Kämpfe und eine ehrliche Verpflichtung zum Frieden alternativlos, appellierte Papst Franziskus an die verfeindeten Politiker des Landes. Staatspräsident Salva Kiir ordnete dementsprechend an, 71 Gefangene zu begnadigen – rund die Hälfte davon war zum Tode verurteilt worden. „Wo eine Frau oder ein Mann in ihren Grundrechten verletzt werden, wird Christus verletzt“, mahnte Papst Franziskus. (ofri) mangelt. Die aber kaum mehr gefragt würden – und die es längst aufgegeben hätten, sich selbst zu Wort zu melden. Gelernte Österreicher würden ja zur Furcht neigen, parteipolitisch ausgegrenzt oder eingemeindet zu werden. Beim Lesen sind mir manche Reiseerfahrungen eingefallen, etwa unterwegs durch Washington – damals, als die USA noch nichts von den Niederungen der Trump- Ära wussten. Staunend habe ich dort etwa im Lift des State Departement gelesen, was sich andere Demokratien zutrauen können: In der Herzkammer amerikanischer Außenpolitik wurden die Mitarbeiter zu einer abendlichen Diskussion geladen, Thema: „Was wir im Nahen Osten alles falsch machen“. Man stelle sich Ähnliches in einem heimischen Regierungsgebäude vor! Und doch: Wie erfrischend! Bisweilen wirken unsere Medien wie letzte Schauplätze politikbegleitender Nachdenklichkeit. Umso schlimmer, wenn sich zeigt: Selbst prominente Kollegen können parteipolitischer Verlockung erliegen. „Je kleiner ein Land, desto größer muss es denken“, heißt eine zentrale politische Erkenntnis. Deshalb: Wir brauchen den „freien Flug der Geister“ – nicht zur Unterwanderung demokratischer Gremien, sondern als mutig-kraftvoller Beistand schwieriger Entscheidungen, die ein neues Zeitalter eben auf uns zutreibt. Medieninhaber (Verleger): Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Herausgeber: Prof. Heinz Nußbaumer, Dr. Wilfried Stadler Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Anzeigen: Georg Klausinger (01) 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Aboservice: (01) 512 52 61-52 aboservice@furche.at Alle: 1030 Wien, Hainburger Straße 33 (01) 512 52 61-0; vorname.nachname@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Das Abonnement kann frühestens zum Ende der Mindestbezugs dauer – unter Einhaltung einer sechswöchigen Kündigungsfrist – jederzeit schriftlich abbestellt werden. Wenn keine entsprechende Kündigung erfolgt, dauert das Abonnement ein weiteres Jahr bzw. im Falle eines Halbjahresabos weitere sechs Monate. Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. www.furche.at
DIE FURCHE · 6 9. Februar 2023 Diskurs 11 IKG-Präsident Oskar Deutsch findet sie „untragbar“. Andere Stimmen verteidigen die aktuelle Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Ein Gastkommentar dazu aus Sicht des christlich-jüdischen Dialogs. Heftige Kontroverse um „100 Missverständnisse“ großer Teil des jüdischen Publikums empfindet die Ausstellung ihrer jetzigen Form als untragbar“, konstatierte Oskar Deutsch, „Ein der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), und nicht nur Paul Lendvai verlangte sogar die Schließung der Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“, die noch bis 4. Juni im Jüdischen Museum Wien (JMW) läuft. Laut Barbara Staudinger, seit Juli 2022 Direktorin, steht diese Ausstellung „programmatisch für die Neuausrichtung des JWM“. Die Kontroverse eskalierte bis zu persönlichen Angriffen auf die Historikerin und Judaistin, sodass neun österreichische Holocaust-Überlebende, darunter Robert Schindel, in einem veröffentlichten Brief nach Sachlichkeit rufen und „Toleranz und Respekt“ fordern. Die Ausstellung rückt „Stereotype augenzwinkernd in den Fokus, parodiert kitschige Klischees und beschreitet neue Wege des Erinnerns, die aus dem Rahmen einer vermeintlich ‚angemessenen‘ Erinnerungskultur fallen“. Missverständnisse sind etwa „die Überhöhung des ‚jüdischen Familiensinns‘, des ‚jüdischen Lernens‘, einer klischeehaften Vorstellung ‚jüdischen Lebens‘ oder die Traurigkeit, die allem, was ‚jüdisch‘ ist, anhaftet“. Es werden aber auch Missverständnisse unter Jüdinnen und Juden aufgegriffen. Als „erste ihrer Art, die sich dezidiert dem Philosemitismus“ widmet, der „zweiten Seite der Medaille des Antisemitismus“ (Staudinger), ist sie für das christlich-jüdische Gespräch von großer Relevanz, sind doch Romantisierung, Idealisierung und Typisierung des angeblich „Jüdischen“ in „gutmeinenden“ christlichen Kreisen zu weit verbreitet. Zu vielen ist das Lachen vergangen Über weite Strecken löst die Ausstellung ihr Anliegen ein, bringt bemerkenswerte (Kunst-) Werke erstmals nach Wien, regt zum Nachdenken, besonders über sich selbst, und zum Schmunzeln an. „Lachen wir doch gemeinsam über Missverständnisse“, wollte Staudinger erreichen. Doch zu vielen ist beim Besuch das Lachen vergangen. Einige Kunstwerke provozieren, was ja auch Aufgabe von Kunst ist, durch Tabubruch, um etablierte Praktiken und Einstellungen aufzubrechen. Das trifft besonders für das Video der australischen Künstlerin Jane Korman „Dancing Auschwitz“ aus 2009 zu, in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder Foto Jäggle: Katholische Hochschule Freiburg Foto Weisz: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Martin Jäggle und Willy Weisz „ Als Beitrag zum Dialog sollte man religiöse Aussagen oder solche zu jüdischem Leben von Juden gegenlesen lassen. “ in Auschwitz und anderen Vernichtungsorten auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen. In Wien, das als „Täter-Hauptstadt“ bis heute kein Schoa-Museum hat, wo die Errichtung der „Shoah Namensmauern“ 2021 nur durch den 20-jährigen Einsatz des aus Wien vertriebenen Kurt Yakov Tutter möglich geworden ist, wo es bei Schulexkursionen nach Auschwitz wiederholt zum Eklat kommt, ist nachvollziehbar, dass „Dancing Auschwitz“ zu viele primär empört. Das Video führt vor Augen, alles wäre möglich und kann so eine Haltung der Gleichgültigkeit fördern. Die Intention der Verantwortlichen korreliert zu wenig mit der Reaktion von Besucher(inne)n, vielleicht auch, weil es nicht das einzige provozierende Kunstwerk ist. Die Collagen eines Bildes von Leichen aus den Todeslagern mit dem eines nackten Frauenhintern oder eines Bildes von ausgemergelten KZ-Insassen mit der Werbung für ein Getränk sind nicht mehr provokant, sondern wegen ihrer Pietätlosigkeit nur verstörend. Im Video bei Nr. 45 wird ein Kind in eine bizarre Maschine geschoben. Nach einiger Zeit verspritzt der Betreiber mit einem an die Maschine angeschlossenen Schlauch Blut. Schließlich präsentiert er strahlend den von der Maschine pro- duzierten Stapel Mazzes. Dem Besucher lag das Gesehene im Magen – vielleicht auch inmitten der aktuellen Kindermissbrauch-Berichte über Teichtmeister und Co. Wie geht es erst jemandem, der oder die das Thema nicht erkennt, das sich hinter „Jüdinnen und Juden sind überempfindlich“ (Nr. 45) verbirgt: Der israelische Künstler Tamir Zadok parodiert den Ritualmordvorwurf, wonach Jüdinnen und Juden christliche Kinder töten würden, weil sie deren Blut für die Herstellung von Mazzes brauchen. Die Ritualmordlegende ist nicht – wie beschrieben – auf Europa und das 20. Jahrhundert beschränkt, sondern besteht im 21. Jahrhundert weiter und ist außerhalb Europas in islamischen Ländern präsent. Verkürzte Darstellung von „Missverständnis“ Die Beziehung des Textes zum jeweiligen Missverständnis erschließt sich nicht immer. „Jüdinnen und Juden dürfen Israel nicht kritisieren“ (Nr. 52) wird erläutert mit: „Wenn Jüdinnen und Juden es wagen, zu widersprechen“, was eigentlich einer Bestätigung gleichkommt. Die dortigen „antizionistischen Begleitschilder“ (laut Staudinger „leider durchgerutscht“) mussten aufgrund der Kritik abgeändert werden. Nr. 38 („Der christlich-jüdische Dialog ist ein Dialog“) wird klassisch museal abgehandelt. Das abgebildete „Kennenlernquiz“ des „lesbischfeministischen Schabbeskreises“ aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hilft heute noch, Unsicherheit in der Begegnung mit Jüdinnen und unangemessene Erwartungen aufzudecken, verdeckt aber den Stand des christlich-jüdischen Dialogs im 21. Jahrhundert und führt so in die Irre. Das vielleicht größte Manko der Ausstellung ist die verkürzte Darstellung dessen, was als Missverständnis angeprangert werden soll. Manchmal zeigt sich einfach ein Mangel an Recherche. Als einen Beitrag zum Dialog sollte man religiöse Aussagen oder solche zu jüdischem Leben von Juden gegenlesen lassen. Dies könnte einige falsche Aussagen verhindern. Staudinger selbst hat angekündigt, in die Ausstellung in den kommenden Wochen „eine weitere textliche Kontextebene“ einzuziehen. Martin Jäggle ist katholischer Religionspädagoge und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Verständigung, Willy Weisz ist dessen jüdischer Vizepräsident. Eine Langversion dieses Gastkommentars findet sich auf furche.at sowie auf christenundjuden.org. Ein Albtraum im Albtraum QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Der Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary hätte seine Worte treffender nicht wählen können: „Man kann sich das Leben dieser Menschen kaum vorstellen. Dort leben drei Millionen syrische Binnenflüchtlinge. Die wurden in den letzten Jahren aus ihren Häusern vertrieben, leben zum großen Teil unter der Armutsgrenze, wurden immer wieder bombardiert – von russischer Seite, vom Regime. Letztes Jahr gab es einen Cholera-Ausbruch. Und jetzt eben dieses Erdbeben. Das sind Desaster, die passen nicht in ein Leben, sondern vielleicht in 100 Leben, und ich frage mich, wie das diese Menschen überhaupt noch aushalten können, ohne zusammenzubrechen.“ El-Gawhary sprach über die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Eine Region, in der seit zwölf Jahren Bürgerkrieg herrscht: Gegenüber der Zivilbevölkerung in den mehrheitlich kurdischen Gebieten besteht seit August 2022 eine Blockade. Verhängt vom syrischen Machthaber Assad. Er verwehrt seinen Landsleuten den Zugang zu Treibstoff, lebenswichtigen Gütern, medizinischer Versorgung. Gegenwärtig erschwert nicht nur ein heftiger Wintersturm die Bereitstellung humanitärer Hilfe, sondern auch sein Regime. Dieses hat trotz der Katastrophe keine weiteren Grenzübergänge zur Türkei geöffnet. Der einzige bestehende Übergang wird nun zum Nadelöhr für die Hilfe der Erdbebenopfer – die Straßen dorthin sind beschädigt, der nächstgelegene Flughafen außer Betrieb. Für die kommenden Tage sind Schnee und heftiger Regen angesagt. Gegenwärtig sind nur die „Weißhelme“ vor Ort. Eine private Zivilschutzorganisation, die seit 2013 in dem von der Opposition kontrollierten Gebiet aktiv ist. „Diesmal werden wir wenigstens bei der Arbeit nicht bombardiert, wie das normalerweise der Fall ist“, kommentierte der Chef der „Weißhelme“ die Lage. „Das sind Desaster, die passen nicht ein Leben, sondern vielleicht in 100 Leben, und ich frage mich, was diese Menschen überhaupt noch aushalten können, ohne zusammenzubrechen“. Karim El-Gawhary hätte seine Worte treffender nicht wählen können. ZEITBILD Minuten, die verstreichen Foto: APA / AFP / Adem Altan Ein Vater, Mesut Hancer. Der Mann in der orangen Jacke sitzt in den Trümmern eines eingestürzten Hauses. Vermutlich jenes Hauses, in dem er mit seiner Familie gelebt hat. Er steht nicht auf, hält die Hand seiner fünfzehnjährigen Tochter Irmark. Sie ist tot, verschüttet. Hier in der türkischen Provinz Kahramanmaras, in einem der Epizentren des Erdbebens vom 6. Februar 2023. Irmark ist eines von tausenden Todesopfern. Behörden sprechen von mindestens 9400 Toten, zehntausenden Verletzen, tausenden Vermissten im syrisch-türkischen Grenzgebiet. Der Katastrophenschutz geht davon aus, dass die Zahlen um ein Vielfaches steigen werden. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, befürchtet, dass tausende Kinder darunter sein dürften. Nach Schätzungen des Pacific Disaster Center, einer US-Organisation für Katastrophenhilfe, sind insgesamt rund 23 Millionen Menschen betroffen. Das Beben der Magnitude 7,8 im Grenzgebiet Türkei/Syrien gilt als das schwerstes seit einem Beben ähnlicher Stärke im Jahr 1999. „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit“, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Jede Minute, jede Stunde, die verstreicht, schmälert die Chancen, noch jemanden lebend zu finden.“ Zuletzt war eine Frau nach 52 Stunden aus den Trümmern geborgen worden. (bqu)
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