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DIE FURCHE 08.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 32 6 International 8. August 2024 Von Susanne Glass Im Nachhinein klingt es wie eine Prophezeiung. Mein Gespräch mit dem ehemals ranghohen Mossad-Offizier Rami Igra vor Kurzem in Tel Aviv geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Igra war beim Auslandsgeheimdienst der Leiter der Abteilung für gefangene und vermisste Personen. Wir trafen uns, um über die Chancen zu sprechen, die noch verbliebenen weit mehr als hundert israelischen Geiseln aus der Hamas-Hölle im Gaza-Streifen herauszuholen. Aber rasch brachte Igra das Gespräch auf den Politchef der Terrororganisation, Ismail Hanija – der zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war und sich von seinem Wohnsitz Katar aus frei in der arabischen Welt bis hin zur Türkei auf Reisen machte, um dort befreundete Machthaber zu treffen. Hanija war auch ein wichtiger Verhandler in Sachen Geiseldeal. Sinngemäß sagte der Mossad- Mann, Israel sei in der Lage, Hamas-Anführer wo immer auf der Welt zu eliminieren. Aber damit könne man diese nicht ängstigen, eher im Gegenteil. Nach der Logik der islamistischen Terroristen werden diese im Tod zu Märtyrern, zu Vorbildern für die nächste Generation. Am Nachwuchs mangle es also nicht. Härte als Lebensversicherung Foto: Getty Images / AFP / Mohammed Abed Lesen Sie dazu auf furche.at von Ulrich H. J. Körtner: „Hamas-Terror: Die böse Saat wahnhafter Religion“ (8.11.2023). Nach Israels gezielter „Eliminierung“ der Spitzen von Hamas und Hisbollah herrscht nun banges Warten auf Vergeltung. Eine Analyse auf Basis eines Gesprächs mit einem Ex-Mossad-Offizier. Schlag auf Schlag An dieses Gespräch musste ich denken, als Mittwoch vergangener Woche die Nachricht von der Tötung Hanijas in Teheran kam. Erst kurz zuvor hatte Israel auch den ranghöchsten militärischen Befehlshaber der Schiitenmiliz Hisbollah, Fuad Schukr, in der Nähe von Beirut nach eigenen Angaben „ausgeschaltet“. Schukr soll auch für den tödlichen Raketenangriff auf die von Israel annektierten Golanhöhen verantwortlich sein, bei dem mindestens zwölf Kinder und Jugendliche getötet wurden. Ebenfalls in diesen Tagen hat Israel die Eliminierung von Hamas-Militärchef Mohammed Deif im Gaza-Streifen bekanntgeben. Zuletzt – aber sicher nicht als Letzten – traf es im Gaza-Streifen den Hamas- Wirtschaftsminister, Abed al-Sariei, der wohl auch für die Waffenbeschaffung zuständig war. Auch Hanijas mittlerweile bestimmter Nachfolger, Jahja Sinwar, berüchtigter Hamas-Führer in Gaza und Drahtzieher des 7. Oktober, soll nun „schnell eliminiert“ werden. Die israelische Regierung arbeitet ihre Eliminierungslisten nicht ab, weil sie hofft, wenn erst all die Schurken tot seien, würde sich Frieden in Nahost einstelle. Im Gegenteil. In Jerusalem weiß man um das Eskalationspotenzial. Entscheidend war für Israels Premier Benjamin Netanjahu vielmehr, den Schlächtern der Hamas mit der Tötung ihres Politchefs und weiterer Führungspersonen einen schweren Schlag zu versetzen. Genauso wie der Hisbollah in Bezug auf Schukr. Im Falle Hanijas kommt noch hinzu, dass Israel damit den Erzfeind Iran maximal gedemütigt hat, weil das iranische Regime nicht in der Lage war, Hanija im eigenen Gästehaus zu beschützen, nachdem er als Staatsgast an der Zeremonie zur Vereidigung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian teilgenommen hatte. Nach der Tötung Hanijas wird der Iran reagieren müssen, wenn das Regime nach der Logik der arabischen Welt nicht Ehre und Gesicht verlieren will. (Bis Redaktionsschluss ist es bei der Ankündigung eines Vergeltungsschlages geblieben.) Aber warum nimmt die israelische Regierung diese gefährliche Eskalation bewusst in Kauf, ja provoziert sie sogar? Zunächst entspricht dieses Vorgehen der Strategie, mit der der jüdische Staat seine bedrohte Existenz seit jeher verteidigt. Absolute Härte gegenüber allen Feinden und gnadenlose Vergeltungsschläge. Ein Gleichgewicht des Schreckens, das dem kleinen, aber – vor allem auch dank US-Hilfe – militärisch starken Staat Israel inmitten seiner vielen Feinde innerhalb der arabischen Welt das Überleben bisher sicherte. Und schon kurz nachdem die Hamas mit ihrem Terrorüberfall vom 7. Oktober den Gaza-Krieg provoziert hatte, war klar, dass auch im Norden Israels, an der Grenze zum Libanon, ein Krieg immer wahrscheinlicher wird. Israel hat dort mehr als 40 Ortschaften evakuiert, die nahe der Nordgrenze liegen. Davon betroffen sind rund 60.000 Menschen. Sie leben mit finanzieller Unterstützung des Staates bei Verwandten, Freunden oder in Hotels. An eine Rückkehr ist nicht zu denken, weil die Hisbollah aus dem Libanon dieses Gebiet fast jede Nacht und oft auch tagsüber beschießt. „ Von sieben Fronten gleichzeitig könnte Israel angegriffen werden. So etwas hat es seit der Staatsgründung nicht gegeben. “ Der Libanon im Chaos Längst wird in Israel offen darüber diskutiert, dass man diese zunehmenden Provokationen der Schiitenmiliz nicht länger hinnehmen könne. Deren zunehmende Stärke geht auf einen Anlass zurück, der sich am vergangenen Sonntag zum vierten Mal jährte: Die Explosion, die den Hafen von Beirut mitsamt umliegender Stadtteile zerstörte, hat das Land in eine katastrophale wirtschaftliche Situation und ins politische Chaos geführt. Seitdem hat die Hisbollah im Libanon leichtes Spiel und wird mit ihrem beängstigenden Waffenarsenal zu einer immer größeren Bedrohung für Israel, auf die das Land reagieren muss. Die Eliminierungsschläge, die Premier Netanjahu und die mit ihm koalierenden rechtsextremen Hardliner derzeit in Auftrag geben, dürften aber noch ein zutiefst eigennütziges Interesse haben. Netanjahu will den Krieg in Gaza möglichst lange fortsetzen. Denn nur solange sich Israel im kriegsbedingten Ausnahmezustand befindet, ist der Machterhalt seiner umstrittenen Regierung einigermaßen sicher. Nach der Eliminierung von Hanija sind Waffenstillstandsverhandlungen oder gar eine Freilassung der Geiseln erst einmal vom Tisch. Aber an wie vielen Fronten will und kann Israel noch gleichzeitig kämpfen? Der Iran hat in der gesamten Region Verbündete, über die er die angekündigte Vergeltung austragen lassen kann. Von sieben Fronten gleichzeitig könnte Israel angegriffen werden. Eine solche Situation hat es seit der Staatsgründung nicht gegeben. Neben dem Gazastreifen sind das der Libanon, das Westjordanland, Tod in Teheran Ismail Hanija, „Chefdiplomat“ der Terrororganisation Hamas (hier auf einem Archivbild aus 2005 in Gaza Stadt), wurde am 31. Juli in Irans Hauptstadt gezielt getötet. Mittlerweile wurde Gaza-Führer Jahja Sinwar, der als Drahtzieher des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 gilt, zu Hanijas Nachfolger bestimmt. Israel will nun auch ihn „schnell eliminieren“. der Jemen, Irak, Syrien und Iran selbst. Das israelische Militär warnt die Regierung, es gebe keine Strategien für einen solchen Mehrfronten-Krieg. Und offenbar hat auch US-Präsident Biden die Geduld mit Netanjahu verloren. Beim letzten Telefonat soll Biden Netanjahu gewarnt haben, er solle die Rückendeckung des amerikanischen Präsidenten nicht für selbstverständlich halten und damit aufhören, ihm Quatsch zu erzählen. Letztere Bemerkung bezog sich auf Netanjahus Versicherung, die Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen kämen voran. Wo doch vielmehr das Gegenteil der Fall ist. Womit sich der Kreis zu Mossad- Mann Rami Igra schließt. Denn derselbe, der zuvor über die Eliminierungen gesprochen hatte, sagte zum Abschied auch Folgendes: In schwierigen Situationen sei es am besten, sich ruhig zu verhalten und nach Verhandlungsmöglichkeiten zu suchen. Es gibt also durchaus warnende, mäßigende Stimmen in Nahost. Nur gehen sie im derzeitigen Explosionsgetöse leider unter. Die Autorin war sechs Jahre lang Korrespondentin in Israel und ist nun Redaktionsleiterin „Ausland und politischer Hintergrund“ beim Bayerischen Rundfunk.

DIE FURCHE · 32 8. August 2024 International 7 Die NATO sieht in ihrem neuen Generalsekretär einen großen Verbinder. Doch der im Juni offiziell ernannte und ab 1. Oktober amtierende Mark Rutte zeigte in den Niederlanden wenig Affinität zum Militär – bis zum Abschuss der MH17, der als Wendepunkt seines Lebens gilt. Ein Porträt. Bruchpilot oder Brückenbauer? Von Tobias Müller Mark Rutte verließ den Scherbenhaufen auf dem Fahrrad. Fröhlich winkend schwang er sich am Ende seines letzten Arbeitstags vor dem Amtssitz, der nun nicht mehr seiner ist, in die Pedale. In der offenen Tür stand sein Nachfolger als niederländischer Premier, Dick Schoof, ebenfalls winkend. Rutte hatte wieder dieses gewinnende Grinsen im Gesicht. Pünktlich zu seinem Abschied nach 14 Jahren an der Spitze der Regierung erschienen erste Kommentare, die zugaben, sie würden ihn tatsächlich vermissen. Letzteres hat natürlich damit zu tun, dass nun die rechtspopulistische PVV in Den Haag das Zepter schwingt. Zu dem Unmut, der sie an die Macht brachte, trug Rutte freilich entscheidend bei. Am Ende seiner Amtszeit hatten laut Umfragen nur noch gut 20 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in Politik und Parlament. Rutte, an dem Skandale früher einfach abzuprallen schienen, was ihm den Spitznamen „Teflon-Mark“ einbrachte, wurde in den letzten Jahren zur Personifizierung einer grassierenden Politikverdrossenheit. Sein Grinsen überdauerte auch dies. Lehrer für Gemeinschaftskunde Die nächste Bestimmung auf seiner Karriere-Route ist nun Brüssel. NATO-Generalsekretär, dieser Posten liegt nicht unbedingt auf der Hand, wenn man die erheblichen Einschnitte in den Verteidigungsetat der Niederlande zu Beginn der Rutte-Ära in Betracht zieht. Oder die sogenannte NATO-Vorgabe von mindestens zwei Prozent des BIP, die erst an deren Ende ein konkretes Haushaltsziel und heuer erstmals erreicht wurde. Auch verdingte Rutte sich vor seiner Zeit als Premier nicht auf außen- oder verteidigungspolitischem Terrain. Was den 57-Jährigen in der turbulenten aktuellen Konstellation für die NATO interessant macht, Lesen Sie schon FURCHE-Newsletter? Ihre ausgewählten Lieblingsthemen ab sofort täglich in Ihrer Mailbox. Jetzt neu: tägliche Ressort- Newsletter Jetzt anmelden: furche.at/newsletter ist seine immense Erfahrung auf internationalem Parkett. Dazu kommt, dass er sich auf 111 EU- Gipfeln eine Reputation als Brückenbauer mit großen Vermittler- Qualitäten erarbeitet hat. Solche sind dringend nötig angesichts einer strukturell instabileren Beziehung mit den USA, die unter einem Präsidenten Trump unvorhersehbar werden könnte. Auch innerhalb Europas gilt es, die unterschiedlichen Positionen zum Ukraine-Krieg zu koordinieren. Gerade hier hat sich Rutte verdient gemacht. Charles Michel, der ebenfalls scheidende EU- Ratspräsident, rühmte ihn nach seinem letzten Brüsseler Gipfel als „wesentlichen Bestandteil des Europäischen Rats und der EU- Entscheidungsfindung seit 2010“. Auf niederländisch nennt man die Rolle, die Rutte in den letzten Jahren in Brüssel spielte, oliemannetje. Ein „Öl-Männchen“ hat in seinem Werkzeugkoffer Schmiermittel für Beziehungen, die ansonsten rostig werden und eintrocknen, ist pragmatisch, kompromissorientiert und zugänglich. Ruttes unkomplizierte Jovialität kennen Regierungschefs ebenso wie Journalisten und Menschen, die er auf der Straße oder bei Arbeitsbesuchen trifft. In all den Jahren als Premier unterrichtete er wöchentlich eine Stunde Gemeinschaftskunde an einer weiterführenden Schule in Den Haag. Rutte in Den Haag und Rutte in Brüssel, der Bruchpilot und der Brückenbauer, das scheinen auf den ersten Blick also zwei verschiedene Welten. Selbst die Wochenzeitung EW, die seiner liberalrechten Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) in der Regel geneigt ist, nannte ihn zum Abschied „ambivalent“. Neben der Kritik an „unverantwortlichen“ Kürzungen im Verteidigungsetat und „wenig Affinität mit Militärs“ formulierte man hier Folgendes: „Die wahre Art von Rutte ist selbst nach seiner langjährigen Amtszeit als Rekord-Premier nicht deutlich.“ Ist er am Ende eine Art von Prophet, der im eigenen Land nichts gilt? „ Diese internationale Erfahrung ist nötig angesichts einer strukturell instabileren Beziehung mit den USA, die mit einem Präsidenten Trump unvorhersehbar werden könnte. “ Journalismus mit Sinn. Unbeliebt machten ihn dort vor allem zwei Skandale: die „Kindergeld-Affäre“, bei der tausende Leistungs-Empfänger zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigt und mit horrenden Rückzahlungsforderungen in existenzielle Probleme getrieben wurden; und die fortgesetzte Erdgasförderung in der Provinz Groningen. Obwohl diese zu zahlreichen Erdbeben führte, setzten sich Rutte-Kabinette über die Ängste der lokalen Bevölkerung hinweg und erhöhten die Fördermenge noch, bevor das Gasfeld schließlich geschlossen wurde. Hinzu kommt Ruttes kreatives Verhältnis zur Wahrheit. Mehrfach behauptete er in Bedrängnis, an die fragliche Situation „keine aktive Erinnerung“ mehr zu haben und machte sich damit ethisch teils untragbar. Wilders’ Lieblingsfeind Ambivalent war Rutte, der in einem reformiert-protestantischen Haushalt als jüngstes von sieben Geschwistern aufwuchs und vor der politischen Karriere als Unilever-Manager tätig war, auch im Verhältnis zum zunehmenden Rechtspopulismus. Geert Wilders, dem Chef der Freiheitspartei (PVV), galt er vielfach als Lieblingsfeind und Vertreter des Establishments. Nicht selten versuchte Rutte aber auch, Wilders mit markigen populistischen Ausfällen das Wasser abzugraben und sich als Mann des Volkes in Stellung zu bringen. Teils erinnerte dies an entsprechend unbeholfene Versuche der jungen Angela Merkel, die wie Rutte anfangs gerne unterschätzt wurde und sich die Hausmacht in der eigenen Partei erst erarbeiten musste. In Ruttes Fall richteten sich solche Tiraden gelegentlich auch gegen „Brüssel“ und die politische Integration Europas. Er war ein knallharter Verfechter von Austerität gegenüber Griechenland in der Euro-Krise, forderte strikte KLARTEXT Foto: APA/ AFP / John Thys Haushaltsdisziplin von südeuropäischen Mitgliedstaaten und sperrte sich lange gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens. Noch während der Covid-Krise war Rutte ein Protagonist der „Sparsamen Vier“ und verwahrte sich gemeinsam mit Österreich, Dänemark und Schweden dagegen, zum Wiederaufbau der EU-Volkswirtschaften Schulden aufzunehmen. Dabei war er zu jenem Zeitpunkt den Schuhen des bockigen, geizigen Nein-Sagers, als der er in Südeuropa oft gesehen wurde, bereits entwachsen. 2014, nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ost-Ukraine, lernte er den Wert europäischer und internationaler Kooperation schätzen. Als niederländischer Regierungschef fehlte ihm schlicht das Druckmittel, um gegenüber Moskau Aufklärung zu fordern. Viele Beobachter sehen „MH17“ daher als Wendepunkt in Ruttes Auftritten auf dem internationalen Parkett. Während seiner live im Lesen Sie hierzu auf furche.at ebenfalls von Tobias Müller „Die Rutte- Dämmerung“ (12.7.2023). Venezuela: Exil statt Stimme? Neuer an der Spitze Der designierte NATO-Generalsekretär Mark Rutte war der am längsten amtierende Ministerpräsident in der niederländischen Geschichte. TV ausgestrahlten Abschiedsrede nannte er den Abschuss das „einschneidendste und emotionalste Ereignis“ seiner vier Amtszeiten. In den Niederlanden, von wo 193 der 289 Opfer stammten, machte dies den politischen Diskurs zugleich besonders sensibel, was das russische Vorgehen in der (Ost-) Ukraine betraf. Auch deshalb beschloss Den Haag bereits im Frühjahr 2022, Panzerfahrzeuge an Kyiv zu liefern. Inzwischen zählen sie zu den stärksten europäischen Befürwortern, der Ukraine auch F16-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen; was gerade in Osteuropa Ruttes Position stärkte, als er sich für seinen neuen Posten an der Spitze der NATO in Stellung brachte. Kurz vor seinem Abschied aus Den Haag telefonierte er noch einmal mit Wolodymyr Selenskyj. Dieser machte später bekannt, er habe „seinem Freund Mark Rutte für alles gedankt, was er, seine Regierung und das niederländische Volk für die Ukraine getan haben“. Von Julia Mourão Permoser Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 28. Juli, die der autokratische Amtsinhaber Nicolás Maduro nach offiziellen Angaben mit 51,2 Prozent der Stimmen gewonnen haben soll, explodieren in Venezuela die Proteste. Bereits ein Dutzend Menschen wurden dabei getötet, Tausende inhaftiert. Dabei ist die Wahl auch von großer internationaler Bedeutung: wegen der demokratiepolitischen Stabilität Lateinamerikas – und auch wegen der wachsenden Flüchtlingsströme. Mehr als 7,7 Millionen Menschen, rund 20 Prozent der Bevölkerung, haben das Land bereits verlassen. Das macht Venezolaner zur drittgrößten Gruppe von Geflüchteten weltweit. Wie uns Albert O. Hirschman in seinem Klassiker „Exit, Voice and Loyalty“ lehrt, kann Emigration für unzufriedene Staatsbürger eine Möglichkeit sein, Kritik an ihrer eigenen Regierung zu äußern. Dort, wo Mitsprache (Voice) nicht möglich ist, kann also Emigration (Exit) den Stimmzettel ersetzen. Manchmal können Exit und Voice in einer transnationalen Welt auch gemeinsam ausgeübt werden – etwa durch das Auslandswahlrecht und die Arbeit politisch engagierter Diasporas. Doch nicht umsonst hat die Maduro- Regierung vor der Wahl die Registrierung im Ausland erschwert. Von den 7,7 Millionen venezolanischen Auslandsstaatsbürgern konnten sich nur 69.000 für die Wahl registrieren. So wie die Einbürgerung von Minderheiten im Ausland als Wahlwaffe eingesetzt werden kann (à la Putin und Orbán), so kann auch die Schaffung von Hindernissen für das Wahlrecht von im Exil lebenden Bürgern zuweilen als Wahlwaffe fungieren. Obwohl das viele linke Politikerinnen und Politiker weltweit noch immer nicht eingestehen wollen, verwendet Maduro mittlerweile jede Waffe des autoritären Arsenals gegen seine eigene Bevölkerung. Das Ergebnis wird wohl ein noch massiverer Exodus als bisher sein. Dort, wo Menschen keine Mitsprache haben, wählen sie eben mit den Füßen. Die Autorin ist Professorin für Migration und Integration an der Donau Universität Krems.

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