DIE FURCHE · 32 20 8. August 2024 Von Manuela Tomic Tennis- (schw)arm Illu: Rainer Messerklinger MOZAIK In der Hauptschule fuhren wir auf Sommersportwoche. Im Reisebus Richtung Millstätter See verteilte die Lehrerin Sunkist und eine Liste mit Sportarten. Da ich mich vor dem tiefsten See Kärntens fürchtete, wählte ich Tennis und Tanz. Am nächsten Morgen begrüßte uns kaugummikauend Michi, der 20-jährige Tennislehrer. Er trug dunkelblaue Shorts und eine fluoreszierende Sonnenbrille, in der wir uns wie in einem Fischauge spiegelten. Von der ersten Sekunde an waren ich und meine Freundinnen in ihn verknallt. Um unsere Liebe zu beweisen, strengten wir uns wahnsinnig an. Nach dem Training kaufte Michi „seinen Mädels“ ein Eis. Mit hochrotem Kopf und schokoladenverschmierten Mündern schmachteten wir ihn an. Bei der großen Abschiedsparty im Partykeller wollte ich Michi meine Liebe gestehen. Mit toupierten Haaren und in knappen Blümchentops schwangen wir „Mädels“ schüchtern unsere Hüften auf der Tanzfläche, indes ein Song von den Gorillaz ertönte. Doch Michi stand draußen vor dem Club und schäkerte mit Chrissy, einer sexy Maturantin. Er schenkte mir nicht einmal einen Blick, als ich mich von ihm verabschiedete. Auf der Rückreise dröhnte aus meinem silbernen Diskman: „I ain’t happy, I’m feeling glad / I got sunshine in a bag / I’m useless but not for long.“ Unter Tränen und mit schmerzendem Tennisarm saugte ich verzweifelt einen Sonnenstrahl aus dem Sunkist: „The future is coming on, is coming on, is coming on.“ Vor hundert Jahren starb der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad. Als Seemann eignete er sich mit 19 die englische Sprache an. Stationen eines ungewöhnlichen Lebens. „Ich sah sie im Fahrtwind wehen“ Von Manuela Tomic Im Sommer 1867 nimmt sein Onkel Tadeusz den kleinen Józef mit nach Odessa. Dort sieht der Bub zum allerersten Mal das Meer. Er sieht, wie internationale Handelsschiffe anlegen, wie der Leuchtturm flackert, wie Pferdekutschen samt Transportgut die Wege säumen. Józef ist sich sicher: Er will Seemann werden. Wenige Jahre später wird er von Küste zu Küste schaukeln, mit 19 Jahren Englisch lernen und schließlich Weltliteratur schreiben. Aus dem Polen Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski wird der britische Schriftsteller Joseph Conrad. „Ich habe angefangen auf Englisch zu denken, lange bevor ich die bloß gesprochene Sprache gemeistert hatte – vom Stil will ich nicht reden (den habe ich noch immer nicht gemeistert).“ Das schrieb Conrad 1918 in einem Brief an den Romancier Hugh Walpole. Der Autor erzählt, er müsse sich der englischen Sprache nicht fügen, sondern werde von ihrem Genius adoptiert. Vielleicht ist es gerade dieses „Meistern“, das Conrad förmlich dazu zwang, ein Buch nach dem anderen zu schreiben. Wer in einer Sprache nie ankommt, kann sie immer wieder bereisen, sie neu entdecken. „Du bist ohne Land“ Als Kind liest der gebürtige Pole heimische Literatur. Sein Vater übersetzt viele Klassiker ins Polnische. Mit 16 Jahren geht Conrad nach Marseille, um Seemann zu werden. 1878 kommt er nach Großbritannien, zehn Jahre später erhält er die britische Staatsbürgerschaft und wird Kapitän der „Otago“. Seine Jahre auf hoher See lassen ihn immer wieder auf den Grund des Menschseins laufen. Dem Meer entlockt Conrad jene Freiheit, die sein patriotischer Vater für das von Russen besetzte Polen erträumte. Im Vakuum, der endlosen Weite, die ihm vor Augen erscheint, knüpft Conrad seine Tragödien. Im Juni 1890 erreicht der Seemann auf einem Flussdampfer die kongolesische Hafenstadt Matadi. Auf dem Seeweg geht es nicht weiter, denn das Wasser des Kongo-Flusses ist reißend und schnell. So macht sich Conrad zu Fuß auf den Weg in die Hauptstadt Léopoldville, das heutige Kinshasa. Massengräber und verstümmelte Leichen säumen seinen Weg. Jahre später wird er diese Eindrücke in seinem Hauptwerk „Herz der Finsternis“ verarbeiten. In der Erzählung beobachtet der Seemann Charlie Marlow, wie brutal die Kolonialherren mit den Einheimischen umgehen. Enttäuscht muss er feststellen, dass es den Kolonialherren gar nicht um die Zivilisierung, sondern nur um Gewalt und Ausbeutung geht. Den Kolonialismus an sich stellt der Protagonist Marlow aber nicht infrage. Ausgerechnet der Sohn eines polnischen Patrioten, der sein Leben lang gegen den russischen Imperialismus gekämpft hat, schlägt sich auf die Seite des Kolonialismus. Als Kind musste Conrad mitansehen, wie das Leben im politischen Untergrund seine Eltern auszehrte. Die Gefahr war sein ständiger Begleiter. 1862 werden seine Eltern von einem Militärgericht verurteilt und ins russische Wologda verbannt, wo der kleine Józef schwer erkrankt. Schon bei seiner Geburt widmet ihm der Vater ein düsteres Gedicht: „Kleiner Sohn, sage dir / Du bist ohne Besitz, ohne Liebe / ohne Land, ohne Volk, / Solange Polen – deine Mutter im Grabe liegt (...)“. Am 25. Juli 1914 besucht Joseph Conrad mit seiner Familie den Literaturwissenschaftler Józef Retinger in Krakau. Conrad, mittlerweile ein gefeierter Schriftsteller, begeistert mit seinem jüngsten Roman „Spiel des Zufalls“, rund um die junge Flora de Barral, Tochter eines Finanzbetrügers und dem verschlossenen Kapitän Roderick Anthony. Mit „Spiel des Zufalls“ gelingt ihm der internationale Durchbruch. Nach 40 Jahren betritt Conrad erstmals wieder polnischen Boden. Zwei Tage lang flaniert er mit seiner Familie durch die Gassen Krakaus, besucht die berühmte Wawel- Kathedrale und das Grab seines Vaters. Jenes ewig kranken Vaters, den Conrad als Kind in dieser Stadt dahinsiechen sah. Und, der in so mancher Romanfigur wieder auftaucht. Für die Reise in die Vergangenheit bleibt ihm nicht viel Zeit. Nach nur zwei Tagen muss Conrad abreisen. Einen Monat zuvor wurde der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo ermordet. Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Conrad wird seine Heimat nie wiedersehen. „Wie ein gehetzter Hase“ „ Seine Jahre auf hoher See lassen Conrad immer wieder auf den Grund des Menschseins laufen. Im Vakuum, der endlosen Weite, knüpft er seine Tragödien. “ Am 21. April 1923 reist der Schriftsteller auf dem Dampfschiff Tuscania nach New York. „Je weniger ich daran denke, desto besser, sonst sterbe ich noch aus reinem Schiss, bevor ich einen Fuß an jene ferne Küste setze“, schrieb er an seinen Freund, den Verlagslektor Edward Garnett kurz vor der Reise. In New York angekommen wird der 66-Jährige wie ein Star gefeiert. Journalisten stürzen sich auf ihn und löchern ihn mit Fragen. Am 10. Mai hält Conrad in Manhattan eine seiner letzten Lesungen, die er später als „großartiges Erlebnis“ bezeichnen wird. Doch eine Zuhörerin, die ungarische Gräfin Palffy, erinnert sich anders an diesen Abend: „Er sah aus wie ein gehetzter Hase, bevor ihm ein Wilderer den Hals umdreht. Sein Atem ging keuchend, seine Stimme zitterte. (...) Leider war seine Aussprache so schlecht“. Conrad blieb ein Exot, sowohl in England als auch in den USA. So unangepasst, wie die Sprache in seinen Romanen, wie der Stoff, die Figuren. Am 9. Juni kehrt er, der Weltstar, nach London zurück. Bald wird Conrad seine Texte mit letzter Kraft diktieren. Conrad hinterlässt ein wirkmächtiges literarisches Vermächtnis. Zu seinen bekanntesten Werken zählen wohl die Romane „Lord Jim“, „Nostromo“ und „Herz der Finsternis“. Am 3. August 1924 stirbt Conrad, an seinem Arbeitsplatz sitzend, an Herzversagen. Die Seefahrt ließ der Schriftsteller in der Mitte seines Lebens hinter sich. Der Bann seiner Sprache lebt weiter. Seine Reiseerinnerungen schließt er mit Worten des Ankommens: „Ich sah sie plötzlich hoch am Mast im Fahrtwind wehen. Die Red Ensign, (...). Die englische rote Flagge – ein Stückchen Kattun, symbolisch, schützend und warm, das über allen Meeren weht und so viele Jahre lang das einzige Dach über meinem Kopf sein sollte.“ Bericht über mich selbst Von Joseph Conrad, Kiepenheuer 1979, 166 S., geb., nur mehr antiquarisch erhältlich Hören Sie mehr über Conrads Leben in den „Gedanken für den Tag“, die Manuela Tomic auf Ö1 von 5. bis 10. August gestaltet. Viele Facetten Geboren in eine polnische Kleinadelsfamilie, war der schon zu Lebzeiten erfolgreiche Schriftsteller Joseph Conrad geplagt von körperlichen Gebrechen und Depressionen. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Collage: Canva / Manuela Tomic (gemeinfrei) Lesen Sie dazu auch den Artikel „Reise ins Grauen: Joseph Conrads ‚Herz der Finsternis‘“ von Brigitte Schwens- Harrant (27. Juni 2024) auf furche.at.
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