DIE FURCHE · 32 18 Wissen 8. August 2024 Die Olympischen Spiele werden zur Bühne genderideologischer Kämpfe. Eine Analyse einer oft menschenverachtenden Debatte, angeheizt von Desinformation. „Richtige“ Frauen Von Rosa Diketmüller Menschen sind schnell verunsichert, wenn sich ein Gegenüber nicht eindeutig in die binäre Struktur „männlich“ oder „weiblich“ einordnen lässt. Schließlich sind an diese Kategorisierung viele Normen und Erwartungen geknüpft. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass auch der Wettkampfsport seine Bewerbe aufgrund geschlechterspezifischer körperlicher Unterschiede nach dieser Dualität ausrichtet. Die aktuelle Debatte um die vermeintliche Un-/Klarheit des Geschlechts der beiden Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-Ting verwundert daher nicht. Die Diskussion ist nicht neu, die Olympischen Spielen bieten ihr lediglich eine große Bühne. Ein Kernthema liegt in der „visuellen Empirie“, wonach das vermeintlich „männliche“ oder zumindest nicht ausreichend „weibliche“ Aussehen der beiden Athletinnen als eindeutiger Beweis dafür genommen wird, dass sie keine „normalen“ Frauen sind. Das Problem dabei ist nicht das Stellen von Fragen, wie es auch der IOC-Präsident formuliert. Das Problem ist die Polarisierung zwischen „richtigen“ und „falschen“ Frauen, wobei „falsch“ wahlweise für „vermännlicht“, „männlich sozialisiert“, intersexuell, oder trans etc. steht. (Einige Politikerinnen und Politiker, wie der amerikanische Präsident Donald Trump oder die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, versprechen sich Wählerstimmen durch ihre Unterstützung „richtiger“ Frauen.) Auch die Medien dürfen wild mutmaßen, ohne um Details und Entwicklungshintergründe der betroffenen Personen zu wissen, ohne die richtigen Begriffe für die Benennung vermuteter Phänomene zu kennen und oft auch ohne die Wahrung jeglichen Respekts. Dabei ist die wissenschaftliche Evidenz, auf die man sich in den diversen Grundsatzdebatten bezieht, gar nicht so eindeutig. Als schwierig erweist sich die Debatte auch für Feministinnen: Sich für die Mehrheit der Frauen zu entscheiden, schließt die Vielfalt der Frauen aus. Sich für die beiden Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-Ting einzusetzen, eröffnet möglicherweise Nachteile für die im „ Politikerinnen und Politiker sowie Medien dürfen wild mutmaßen, ohne die Fakten oder die richtigen Begriffe zu kennen – und oft ohne die Wahrung jeglichen Respekts. “ Sport ohnehin diskriminierte „Genusgruppe der Frauen“. Der Internationale Boxsportverband äußert sich noch drastischer: „Dies zerstört den Frauenboxsport“. Eine für alle zufriedenstellende Lösung scheint sich nicht abzuzeichnen. Hormongrenzen sind keine gute Lösung Khelif bezieht sich in ihrer Forderung nach einem Ende der Genderdebatte auf die olympischen Prinzipien und die Olympische Charta, die auf der Freude an der Leistung aufbaut. Sportteilhabe als Menschenrecht sollte für jeden Menschen ohne Diskriminierung jeglicher Art, ungeachtet Rasse, Religion, Geschlecht, oder Nation, möglich sein. Das erfordert gegenseitiges Verstehen, Freundschaft, Solidarität und Fairplay. Selbst die Gegnerinnen der beiden Boxerinnen haben dies betont und respektieren laut Medienberichten die Betroffenen, da diese den Teilnahmekriterien entsprechen und nur bei den Olympischen Spielen sind, um zu kämpfen. Lösungen wie Obergrenzen bei Testosteronwerten für die Teilnahme an Frauenbewerben sind durchaus kritisch zu sehen. Es gibt eine ganze Reihe an Athletinnen, zum Beispiel viele afrikanische Sportlerinnen, die von Natur aus höhere Testosteronwerte haben. Durch Obergrenzen würden sie unter Druck geraten, ihre gesunden Körper medikamentös zu manipulieren, um an Frauenbewerben teilzunehmen. Grundlegende olympische Ziele, wie den Sport in den Dienst einer harmonischen Entwicklung des Menschen unter Wahrung der Menschenwürde zu stellen und Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Athletinnen und Athleten zu stärken und zu unterstützen, sind damit unvereinbar. Mit Blick auf die olympischen Werte sieht Khelif ihren Gewinn einer Medaille als Sieg für alle Frauen an und fordert zu Recht mehr Menschenwürde in der Diskussion ein. Es bleibt aber auch Aufgabe von Gesellschaften, wie sie mit Geschlechtervielfalt jenseits von Polarisierungen, und das nicht nur im Sport, umgehen. Die Autorin ist Assistenzprof. am Inst. für Sportwissenschaft der Univ. Wien und Präsidentin von „100% Sport“ (Öst. Zentrum für Genderkompetenz und Safe Sport). Foto: picturedesk.com / AP / Vadim Ghirda Lesen Sie hierzu auch den Text „Erik(A) Schinegger: Der Mann, der Weltmeisterin war“ (13.1.05) von Otto Friedrich auf furche.at. Die algerische Boxerin Imane Khelif ist seit 2018 im Frauenboxsport. Die Debatte rund um ihre Geschlechtsidentität entbrannte erst 2023. Laut Associated Press (AP) stecken auch mit Russland verknüpfte Desinformationsnetzwerke hinter dem Online-Hass gegen Khelif. Ihr FURCHE-Abo Als FURCHE-Leser:in schätzen Sie Journalismus mit Sinn: unterschiedliche Standpunkte und neue Perspektiven, am Menschen ausgerichtet, verantwortungsbewusst und tiefgründig. Ihre Abovorteile auf einen Blick Für die entspannte Lektüre am Wochenende die gedruckte FURCHE ab Donnerstag in Ihrem Briefkasten E-Paper für unterwegs und uneingeschränkter Zugang zu allen digitalen Inhalten auf furche.at Mit dem FURCHE-Navigator Zeitgeschichte entdecken – alle Artikel seit 1945 online Tägliche oder wöchentliche FURCHE-Newsletter, jetzt neu: jeden Tag ein Thema in unseren neuen Ressort-Newslettern, 7× pro Woche Mehr Infos furche.at/abo +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Viel vor. Viel dahinter. 35 · 31. August 2023 Illustration: Rainer Messerklinger Das Thema der Woche Seiten 2–5 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Israel – ein Gottesstaat? „Wissenschaft ist das, was uns retten wird“ Fundamental anders Gastkommentator Ben Segenreich stößt sich an Medizinethikerin Alena Buyx über den aktuellen Die heurige Architekturbiennale in Venedig versteht der Berichterstattung zur israelischen Justizreform. „One Health“-Ansatz, Arbeitszeitreduktion und den sich als Labor für die Zukunft und richtet ihren Blick Eine Positionierung. · Seite 6 Klassenkampf im Klimaschutz. · Seite 12 vor allem auf Afrika. · Seite 17 Während Bayerns Vizeministerpräsident von seiner Schulzeit eingeholt wird, offenbart ein Video der freiheitlichen Jugend den – ganz aktuellen – Abgrund der FPÖ. Ein Offenbarungseid. Mehr als Jugendsünden „ Wer auch immer mit autoritären Denkens. Man sei „die letzte Generation, die sich das Land zurückholen Kickls FPÖ koaliert oder könne“, raunte eine Stimme – optisch unterlegt von der Regenbogenfahne und der brennenden Kathedrale Notre-Dame. Fackelzug- sie gar inhaltlich kopiert, sequenzen mit strammen Burschen und „Grüne Arbeit sichert unser Dasein“ Um „Green Jobs“ zu fördern, braucht es ein Zusammenspiel von Politik, Unis und Wirtschaft. Wie die grüne Wende gelingt. · Seiten 7–8 Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Demokratie? Und welche Gefahren gehen mit TikTok und Co einher? Antworten vom Europäischen Forum Alpbach. Politik zum Einloggen Jetzt Newsletter bestellen: furche.at/ newsletter AUS DEM INHALT Die Wehen des Krieges In der Ukraine ist die Geburtenrate um 28 Prozent eingebrochen. Aber nicht alle legen ihre Lebensplanung auf Eis. Ein Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew. Seite 9 Lernen bei AD(H)S Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sind keine „Allrounder“, sondern Spezia listen. Eltern haben einen Knochenjob – können aber viel erreichen. Seite 11
DIE FURCHE · 32 8. August 2024 Wissen 19 Seit Tagen überschattet die Debatte über das Geschlecht der algerischen Boxerin Imane Khelif die Olympischen Spiele von Paris. Am 1. August hatte ihre Gegnerin Angela Carini nach nur 46 Sekunden im Ring aufgegeben. Als Grund nannte die Italienerin die Stärke von Khelifs Schlägen. Die Vorgeschichte: 2023 durfte Khelif nicht beim WM-Finale antreten – aufgrund eines Tests, der Zweifel rund um ihr Geschlecht aufwarf. Vor allem online wurden viele Fehlinformationen verbreitet. Eine Einordnung inmitten eines ideologisch aufgeschaukelten Diskurses. Primus 2024 Die Aufregung um Imane Khelif zeigt: Das Interesse am fairen Sport ist mit den Rechten der Sportlerin nicht ganz in Einklang zu bringen. Plädoyer für eine pragmatische Sichtweise. Im Bann des Testosterons Von Kurt Kotrschal Biologisch gesehen gibt es zwei Geschlechter: Das Weibliche ist durch Eier, das Männliche durch Spermien gekennzeichnet. Solch spezialisierte Geschlechtszellen entstanden früh in der Evolution durch „disruptive Selektion“, weil „ein bisschen“ Ei- oder Samenzellen gegen die echten Spezialisten nicht konkurrenzfähig waren. Und in der Biologie versteht man unter „Sex“ auch nicht den Geschlechtsverkehr, sondern die Verschmelzung einer Ei- und Samenzelle zu einem neuen Individuum. Die reale sozio-sexuelle Welt ist allerdings nicht bloß binär, sondern zumindest bei den Menschen sehr divers (LGBTQ+). Bei der überwiegenden Mehrheit deckt sich allerdings das biologische Geschlecht (sex) mit dem sozialen (gender). Aber Mehrheiten obliegt es, Minderheiten zu respektieren und zu schützen – in allen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich Sport. Das kann aber kompliziert werden, wie bei der algerischen Olympia-Boxerin Imane Khelif. Ihr Fall wirft Fragen auf, zu Geschlecht und Identität, grundsätzlich zu Frauen- und Männersport, und so weiter. Dass diese Boxerin enorm viel Interesse erregt, liegt an einem Gemisch, welches Hollywood nicht besser hinbekommen hätte: Eine Gladiatorensportart, ausgeübt von Frauen, angereichert mit dem emanzipatorischen Durchsetzen gegen eine patriarchale Umgebung, gewürzt mit sehr viel Genderphobie und Wokeness. Ein gefundenes Fressen also, für rechte und linke Ideologen aller Spielarten. „ Um absolut faire sportliche Verhältnisse herzustellen, dürfte man nur geklonte Frauen und Männer antreten lassen. Auch der Sport wird erst in aller Vielfalt spannend. “ Große physiologische Bandbreite Khelif boxt seit Jahren als Frau, mit wechselndem Erfolg. Bei den Weltmeisterschaften wurde sie wegen Zweifel an ihrem Geschlecht gesperrt, das olympische Komitee (IOC) aber ließ sie zum Wettkampf zu, was natürlich misstrauisch machte. Die Erregung kochte jedoch erst über, als ihre Gegnerin Angela Carini nach weniger als 50 Sekunden ziemlich theatralisch aufgab. Sofort sekundierten empörte rechte Politiker mit anti-woker Agenda, von Matteo Salvini bis Donald Trump, wie unfair es sei, Frauen gegen einen Mann boxen zu lassen. Das androgyne Erscheinungsbild von Imane Khelif schien den Vorwurf zu bestätigen. Wäre auch tatsächlich unfair, weil als Mann aufgewachsene Menschen gegenüber geborenen Frauen athletisch im Vorteil sind. Genau deswegen treten in den meisten Sportarten Frauen und Männer getrennt an. Im Fall von Imane Khelif liegen die Fakten aber anders – soweit man sie kennt: Als Mädchen geboren und als Frau erwachsen geworden, ergaben Tests dennoch relativ hohe Werte an männlichen Geschlechtshormonen. Aus dem Boxverband verlautete es zudem, dass sie auch männliche Chromosomen hätte – also XY statt des weiblichen XX. Unbekannt bleibt, ob sie Eierstöcke und/oder Hoden trägt. Aufgrund eines solchen basalen genetischen Merkmals könnte man Imane Khelif als männlich (sex) einstufen, wie offenbar der Boxverband. Ihre Lebensgeschichte weist sie aber als Frau (gender) aus, was für das IOC offenbar ausschlaggebend war. Eine Geschmacksfrage, wären mit dem biologischen Geschlecht nicht auch Leistungsmerkmale verbunden. Imane Khelif wäre sozusagen „biologisch gedopt“ und sollte aus Gründen der Fairness nicht gegen andere Frauen antreten. Ihr selbst gegenüber wäre das aber diskriminierend, sollte sie sich, ähnlich wie die ehemalige Sprinterin Caster Semenia, als Frau mit gewissen Besonderheiten sehen. Das Interesse an einem fairen Sport ist also mit den individuellen Rechten der Sportlerin nicht ganz in Einklang zu bringen. Man sollte sich aber pragmatisch abregen, denn selbst innerhalb von Frauen und Männern ist die Variabilität bezüglich der Hormone bzw. generell Physiologie und mentalen Einstellungen groß: Das Spektrum reicht von männerähnlichen Frauen bis zu frauenähnlichen Männern. In Analogie haben etwa in Sprintbewerben weiße Athleten nichts mehr zu melden, weil die Physiologie Schwarze begünstigt; das kann aber nicht dazu führen, letztere einfach zu sperren. Um absolut faire sportliche Verhältnisse herzustellen, dürfte man also nur geklonte Frauen und Männer antreten lassen. Das ist aber weder möglich noch sinnvoll. Auch der Sport wird erst in Vielfalt spannend. Der Autor ist Professor i. R. am Department für Verhaltensbiologie der Uni Wien. Ehre, wem Ehre gebührt! Sie wollen zeigen, wie herausragend Ihr Unternehmen arbeitet? Dann bewerben Sie sich jetzt in einer unserer 5 Kategorien für den Primus Wirtschaftspreis der Kleinen Zeitung. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir zeigen, was Wirtschaft in der Steiermark zu bieten hat. Jetzt noch bis 23.09.24 bewerben: kleinezeitung.at/primus2024 Mit freundlicher Unterstützung von:
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE