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DIE FURCHE 08.05.2025

DIE FURCHE · 196 Das

DIE FURCHE · 196 Das Thema der Woche Zwischen den Zeiten8. Mai 2025Der 8. Mai 1945 gilt auf dem Papier als Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Aber wie ging es den Menschen in den Monaten danach?Über Hunger in den Städten, die Tücken des Wiederaufbaus und die Suche nach einem neuen Alltag.Trümmer und ErbsenspendenVon Astrid WenzHarry S. Truman, der durchdas Weiße Haus streift, dasvielmehr einer Bruchbude alsdem Domizil eines US-Präsidentengleicht. Die BerlinerinElse Tietze, die in ihrem Tagebuch die Gerüchtefesthält, die nach dem Tod Adolf Hitlersdurch die Stadt schwirren. Der SchriftstellerAlfred Döblin, der aus seinem Exilin Los Angeles an Freunde schreibt: „Dassdiese Bestie endlich daliegt, gut, aber washat sie angerichtet.“Es sind zahlreiche Episoden, mit denender Autor Oliver Hilmes die Zeit des Kriegsendesin Europa im Frühling 1945 abbildet.In seinem Buch „Ein Ende und ein Anfang.Wie der Sommer 1945 die Welt veränderte“springt er in kurzen Berichten von Berlinnach Los Angeles, von Paris nach Londonund wieder retour. Was sich im Buch wiekurze Erzählungen liest, ist von Hilmes genaurecherchiert, wie das dichte Quellenverzeichnisim Anhang zeigt.HeimatlosEr versucht dabei, den Sprung zwischenden Mächtigen, die über das Kriegsende aufdem Papier verhandeln, und den Menschenin der Bevölkerung, die nach sechs JahrenKrieg auf eine bessere Zukunft hoffen, abzubilden.Im Nachhinein betrachtet sindes wenige Worte, die diese Zeit heute in Geschichtsbüchernabbilden: Kriegsende inEuropa, 8. Mai 1945. Dass ein sechsjährigerKrieg mit Millionen Toten und Vertriebenennicht von einem Tag auf den anderen vorbeiund überstanden ist, wird in der Retrospektiveoft übersehen. In ganz Europa waren indiesem Frühjahr tausende Menschen aufder Suche nach einer neuen Heimat. Der Begriff„Displaced Persons“ (vertriebene Personen)entstand, er bezeichnet verschlepptePersonen wie ehemalige Zwangsarbeiter,Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, die sichnach Kriegsende außerhalb ihrer Heimatländerbefanden. Österreich wurde für vielezu einer Drehscheibe, von der aus sie weiterzogenoder aus Europa auswandern wollten.Um sich die Dimensionen vorstellenzu können: Allein aus dem KZ Mauthausenund seinen Nebenlagern befreiten alliierteTruppen rund 25.000 Jüdinnen und Juden.Sie kamen in Displaced-Persons-Campsunter, die landesweit eingerichtet wurden,zum Beispiel im ehemaligen Rothschild-Spital in Wien.Unterstützung für die Einrichtungengab es unter anderem von der UNRRAKein Abo?Jetzt DIE FURCHE4 Wochen gratis lesen• frisch gedruckt vor die Haustür• online inkl. E-Paper für unterwegs• alle Artikel seit 1945 imFURCHE-NavigatorPssst!Erzählen Siees gerneweiter ;)Hier anmeldenfurche.at/abo/gratis+43 1 512 52 61 -52aboservice@furche.atEin Ende undein AnfangWie der Sommer45 die WeltveränderteVon Oliver HilmesSiedler 2025288 S., geb.,€ 26,50(United Nations Relief and RehabilitationAdministration), die Österreich einenKredit in Höhe von 59 Millionen Dollargewährte. Bis Mitte 1947 lieferte dieOrganisation auch Lebensmittel an Österreich.Denn die Versorgung mit ebendiesenwar vor allem in Wien nach der Befreiungdurch die Rote Armee ein riesigesProblem. Die sowjetischen Truppen hattendie Kriegsrationierung beendet, wasallerdings dazu führte, dass die BevölkerungLebensmittel hamsterte. Die Versorgungbrach zusammen. Mit Mais- undErbsenspenden stellte die Rote Armee sicher,dass der größte Hunger in der Bevölkerunggestillt wurde. Die Stadtbevölkerungerinnert sich vor allem daran, dassviele der Konserven von Ungeziefer undWürmern befallen waren. Der spätereFernsehkoch Franz Ruhm machte sich bereitsin dieser Hungerphase einen Namen:Er veröffentlichte in den folgenden Jahrenmehrere Rezeptbroschüren, die erklärten,wie man mit halb verdorbenen undunbekannten Zutaten oder Ersatzlebensmittelnkochen konnte.„ Dass diese Bestie endlichdaliegt, gut, aber was hat sieangerichtet.“Alfred DöblinLesenMit der Aufteilung Wiens und der Bundesländerin die Sektoren Russlands,Frankreichs, Großbritanniens und derUSA im Juli 1945 wanderte die Lebensmittelversorgungin die Zuständigkeit der jeweiligenBesatzungsmacht. Einen Überschussan Lebensmitteln im eigenen Landhatten zu diesem Zeitpunkt nur die USA,die Versorgung unterschied sich daherin den Zonen stark voneinander. Überallwurden Lebensmittelkarten ausgegeben,die nur im eigenen Sektor gültig waren.Immer wieder kam es zu Diebstählen vonLebensmitteln von Feldern und öffentlichenGärten. Der Schwarzmarkt blühteauf, in Wien wurde im Resselpark vor derKarlskirche und am Naschmarkt rege illegalgehandelt.Die Ernährungslage blieb allerdings vorallem in Wien schlecht, im Mai 1946 drohtesie sich zuzuspitzen: Die Tageskaloriensätzepro Person wurden von 1.500 Kalorienauf 950 Kalorien hinuntergesetzt.Zum Vergleich: In Friedenszeiten lag derKaloriensatz pro Person bei 2.550 bis 2.900Kalorien. Es braucht daher Hilfe aus demAusland: Im November 1945 wurde in denUSA die private Hilfsinitiative CARE (Cooperativefor American Remittances to Europe)gegründet. Im Juli 1946 trafen erstmalsNahrungsmittelpakete in Österreichein. Deren Inhalt: 22 Kilogramm Lebensmittel,insgesamt 35.000 Kalorien Nährwert,dazu Zigaretten, Seife oder Medikamente.Zunächst schickten Amerikanerdie Pakete an einzelne ihrer Verwandten inEuropa, später konnten sie mit einer Spendevon zehn Dollar ein Paket an „eine hungrigePerson in Europa“ senden. Am WienerSchottenring 18 erinnert heute eine Gedenktafelan die Hilfspakete, dort befandsich bis 1958 das Zentralbüro von CARE.Unfreiwillige HelferNeben der Ernährungssicherheit war derWiederaufbau der durch die Luftangriffezerstörten Häuser und der Infrastrukturdas größte Projekt der unmittelbarenNachkriegsmonate. Obwohl das Ausmaßder Zerstörungen in Österreich hier in einenKontext gesetzt werden sollte: Überstandenin der gesamten Kölner Altstadtnur 113 Häuser den Krieg – zwei Prozentder Vorkriegsbebauung – sprach das WienerStadtbauamt in einer Auswertung 1946davon, dass 21 Prozent der Häuser Wiensdurch Luftangriffe der USA und Großbritannienszerstört wurden.Es sollte dann doch schneller gehen,auch durch die Mithilfe vieler freiwilligerund unfreiwilliger Helfer. In Österreichist heute oft vom Mythos der sogenanntenTrümmerfrauen zu hören, die Schutt wegräumtenund beim Wiederaufbau halfen.Wie zuletzt ein Forschungsteam der ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaftenzeigte, standen hinter diesem vermeintlichenfreiwilligen Dienst allerdings vor allemehemalige NSDAP-Mitglieder, die zurArbeit zwangsverpflichtet wurden – sowohlFrauen als auch Männer. Für ihre Recherchenhaben Martin Tschiggerl, Lea vonder Hude und Patricia Seifner unter anderemGerichtsakte aus den Jahren 1945 und1946 verwendet. 7000 Zwangsverpflichteteverklagten die Stadt Wien und die Republik,1951 bekamen sie vom Obersten GerichtshofRecht und wurden entschädigt.Im Nachhinein wurde aus der Zwangsarbeitder Mythos der freiwilligen Helfer desWiederaufbaues konstruiert. Teils inszenierteAufnahmen der arbeitenden Frauenwurden in Schulbüchern abgedruckt,im kollektiven Gedächtnis kamen sie abererst in den 90er Jahren an. Der neue Mythosder Trümmerfrauen ersetzte nach derWaldheim-Affäre den alten Opfermythos.Eines sind sie aber beide: historisch nichtbelegbar und schlichtweg falsch.Foto: picturedesk.com / Roger ViolletNächste Wocheim Fokus:WasüberbliebIn Wien wurden 21Prozent der Häuserdurch Luftangriffezerstört. Der größteTeil des Schuttswurde aber maschinellentfernt,nicht mit bloßenHänden, wie Fotosaus der Zeit oftsuggerieren.Sie auchein Interview mitHugo Portisch(6. Mai 2020)über seineErinnerungen andas Kriegsendeauf furche.at.„Habemus Papam“: Wohinsteuert die katholische Kirchenach dem Konklave? Was istvom neuen Papst zu erwartenund was eher nicht? Analysenund Interviews zu den Auswirkungender Papstwahl aufdie Weltkirche und die Katholikinnenund Katholiken inÖsterreich.

DIE FURCHE · 198. Mai 2025International7WiderstandAuf den Protestplakaten,die inden Fenstern angebrachtsind, istetwa “Wenn wiraufgeben, verlierenwir” („Akoodustanemo izgubićemo“)oder“Verantwortung istSicherheit” („Odgovornostje Sigurnost“)zu lesen.Foto: Dennis MiskićVon Dennis Miskić • BelgradSeit dem Einsturz eines Bahnhofsvordaches in Serbien portestieren Studierende in großem Stil gegenautoritäre Strukturen, Wahlbetrug und Repression. Ein Stimmungsbild aus Belgrad.Der tägliche Mut unddie Angst vor RacheZu hören ist nur dasrhythmische Tickender Ampel. Die Menschenstehen 16 Minutenlang regungslosda, auch die Autos bleiben stehen.Nach 16 Schweigeminuten umarmensie sich.So sieht seit einigen Monaten dieRealität in Serbien jeden Tag um11.52 Uhr aus. Es ist der genaueZeitpunkt, an dem am 1. November2024 ein Bahnhofsvordach inNovi Sad eingebrochen war und 16Menschen das Leben gekostet hatte.Für jedes Opfer wird eine Minutelang geschwiegen.Bis zum Juli 2024 war das Vordachrenoviert worden. Die Arbeitensollen aber unter Missachtunggebotener Bauvorschriftenund mit billigem Material durchgeführtworden sein. „Korruptiontötet“ („Korupcija ubija“) ruft undliest man deshalb auf den StraßenSerbiens.Der Einsturz war schließlichder Auslöser für das, was heuteals die größten Proteste in derserbischen Geschichte betiteltwird. Über die Jahre hatte sichaufgrund von Menschenrechtsverletzungen,Propaganda undKorruption Wut aufgestaut – imNovember schien das Glas übergelaufenzu sein. Damals hattenStudierende in Novi Sad undBelgrad begonnen, ihre Fakultätenzu blockieren. Viele andereschlossen sich an. Ana, eine22-jährige Studentin aus Belgrad,kann sich noch gut an den Tag erinnern,als die philologische Fakultätin Belgrad beschloss zuprotestieren: „Ich war sehr verwirrtund strikt dagegen, weil ichdachte, dass das nicht der richtigeWeg ist, um unsere Unzufriedenheitauszudrücken“, sagt sieim Gespräch mit der Furche. Alssie sich dann mit ihren Kommilitonenaustauschte, änderte sie ihreMeinung. „Ich dachte mir, wirkönnen nicht mit gutem Gewissenweiterhin in der Vorlesung sitzen,nachdem 15 Menschen gestorbensind (mittlerweile ist die Zahlder Opfer auf 16 gestiegen; Anm.d. Red.). Etwas muss sich ändern,jemand muss doch dafür verantwortlichgemacht werden“.Präsident überhöht seine RolleDie Studenten organisierensich hier basisdemokratisch. Siedebattieren ihre Entscheidungenin einem Plenum, bevor etwas andie Öffentlichkeit getragen wirdoder Aktionen geplant werden.Dazu gibt es thematische Arbeitsgruppen.Plenum und Arbeitsgruppentreffen sich täglich, oftfür mehrere Stunden.„Viele von uns sind schon müdeund hätten nicht gedacht, dassdie Regierung nach fünf Monatenunsere Forderungen weiterhinnicht erfüllen möchte“, sagt dieStudentin. Sie betont, dass es sichbei ihren Forderungen um dasMinimum handelt. Nämlich darum,dass die staatlichen Institutionendie Arbeit machen, für diesie vorgesehen sind.Denn gegenwärtig führt PräsidentAleksandar Vučić im Landdie Regie. Er hat die Medien festin der Hand und hält oft täglichstundenlange Pressekonferenzenzu verschiedenen Themenab, egal ob wirtschaftliche, politischeoder gesellschaftlicheFragen. Sein politisches Überlebensetzt er mit dem des Staatesgleich. Das alles, obwohl der Präsidentlaut Verfassung nur einerepräsentative Funktion hat. DieDemonstrierenden erwähnen ihnLesen Siehierzu auch dieAnalyse: „VučićsMedienmasche“von Vedran Dzihic(12.7.2024)auf furche.at.„ Provokativ, kreativ, mit einem SchussHumor – das ist der Stil, mit dem die Studentenihr Aufbegehren verstanden wissen wollen.“daher kaum. Zu Beginn der Protestenannten sie ihn eine „nichtzuständige Institution zeremoniellenCharakters“ und richtetendann ihre Forderungen an jene,die zuständig sind.Lokalaugenschein vor demEingang der philologischen Fakultätin Belgrad: Ana und ihreMitstudenten kleben Poster mitverschiedenen Nachrichten andie Fassade. „Kann jemand umVergebung bitten und gleichzeitigden Nutzen aus dem Verbrechenbehalten?“, zitieren sie ShakespearesHamlet frei auf einem derAushänge. Die hier vorbeiführendeStraße gehört zu einer der ältestender Stadt. Im historischenZentrum tummeln sich hunderteMenschen. Viele von ihnen bleibenstehen, lesen sich die Protestplaktean der Fassade durch oderschauen hinauf zu den Fenstern,wo weitere angebracht wurden.Provokativ, kreativ, aber auchmit einem Schuss Humor ‒ dasist der Stil, mit dem die Studentenihr Aufbegehren verstanden wissenwollen. „Wir bekommen häufigBriefe, die wir dann auch andie Fenster oder Fassade kleben“,sagt Ana stolz. Vor allem die Unterstützungaus dem Ausland habesie diesbezüglich überwältigt.In das Gebäude mit der beigenNatursteinfassade darf nicht jedermanneintreten. Immatrikuliertemüssen vor Ort den Ordnernden Index – also Studierendenausweis‒ vorzeigen. Dennochmutet die Atmosphäre locker an.Man sitzt hier versammelt, diskutiertoder vertreibt sich die Zeitzwischen den Plenumssitzungenmit Kartenspielen. Zutritt für Mediengibt es dieses Wochenendenicht. Erst neulich schlich sichein Reporter in die medizinischeFORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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