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DIE FURCHE 08.05.2025

DIE FURCHE · 1912

DIE FURCHE · 1912 Gesellschaft/Bildung8. Mai 2025Die Abschlussprüfungen sind in vielen Familien ein Streitthema.Wie gelingt der Balanceakt zwischen Fürsorge und Vertrauen –und was tun, wenn das Kind nicht besteht?Von Magdalena Schwarzmich fühlt sich die Maturanicht besonders an“, sagtder 17-jährige Wiener Kajetan.„Es ist so, als hätte ich„Fürdrei längere Schularbeiten“.Auch seine Mutter Caroline Culen, Geschäftsführerinder Österreichischen Ligafür Kinder- und Jugendgesundheit, ist einigeTage vor den Abschlussprüfungen desjüngsten ihrer vier Kinder entspannt. Alsihr ältester Sohn damals maturierte, seienalle deutlich nervöser gewesen.Damit ist die Familie eher die Ausnahme,denn für viele bedeutet die MaturazeitStress pur. Gestritten wird über Zeitmanagement,vorwissenschaftliche Arbeiten,Freizeitaktivitäten oder das Handy. Nebendem Leistungsdruck bringt das Maturajahrauch wichtige Zukunftsentscheidungen:Bundesheer oder Zivildienst? Studium oderAusbildung – und wenn ja, welche? Parallelwerden Maturareisen, Abschlussbälle oderder Umzug des Kindes in eine andere Stadtorganisiert. Für die Eltern ist es ein Balanceaktzwischen Fürsorge und Loslassen, dernicht wenige an den Rand der Verzweiflungbringt. „Eigentlich sind die 18-Jährigenjunge Erwachsene, aber aus unserer Sichtsind sie immer unsere Kinder“, bringt esdie Schulpsychologin Zehra Gümüs aufden Punkt. Das wird zur Belastung, geradein Zeiten des Hyperparenting, in denensich vor allem gut situierte Eltern für dasLebensglück ihres Nachwuchses hauptverantwortlichfühlen. Die Wirtschaftslagemacht die Situation nicht besser: DieAnforderungen am Arbeitsmarkt steigen,eine solide Berufsausbildung oder gar einStudium sind in vielen Branchen zur Mindestanforderunggeworden. So werden ausSorgen Streitereien.Die Ursache für viele Konflikte„Es war ein Kampf, auch zwischen unsbeiden“, sagt Caroline Culen. Sohn Kajetanhatte schon die eine oder andere schulischeHerausforderung – die Schularbeitsnotenin Mathematik waren nicht immer befriedigend.Mit dem Stress geht jedes Kind andersum, das weiß die Mehrfach-Mama undPsychologin. Manche verdrängen, anderebekommen psychosomatische Beschwerdenvon Bauchweh bis Kopfweh. Den Druckspüren am Ende alle, selbst die guten Schülerinnenund Schüler, die mit herausragendenNoten glänzen wollen – oder sollen.Dass sich hinter den Konflikten auchAbschiedsschmerz verbirgt, ist Culen bewusst.„Als meine Kinder maturiert haben,dachte ich, dass ich jetzt nichts mehrzu geben habe“. Mittlerweile, beim viertenDurchgang, habe sich diese Sorge relativiert.Aber eine Frage belastet sie dennochin jedem Maturajahr aufs Neue: „Habe ichgenug für mein Kind getan?“ Immer mehrErziehungsberechtigte ringen mit sich, völligverunsichert, was für den Nachwuchsdas Beste ist. Manche orientieren sich anden eigenen Lebenserfahrungen und projizierenihre Wünsche auf ihre Söhne undTöchter. „Viele Eltern kommen mit Vergleichenaus ihrer eigenen Schul- oder Maturazeitdaher – nur ist das 30 oder 40 Jahre her“,erzählt der Kinder- und JugendpsychologeJohannes Achammer, der 25 Jahre langLehrer war. Die eigentlichen Bedürfnisseder jungen Menschen würden des Öfterenins Hintertreffen geraten. „Die sitzen dannbei mir in der Praxis und sagen: Das Architekturstudiuminteressiert mich nicht,aber ich muss es machen,“ erzählt er. EinigeEltern würden die Leistungen ihrerKinder auch mit jenen der Nachbarn vergleichen,das Außenbild spiele nicht selteneine Rolle.Symbolfoto: iStock/ Jamie GrillLesen Sieauch „Matura:Reife Prüfungnach der Krise“(2.4.20) vonErnst Smole auffurche.at.Eltern imMaturastress„ Eine Frage belastet michbei jeder Matura aufs Neue:Habe ich genug für meinKind getan?“Caroline Culen, Mutter von vier KindernNatürlich sei dieses Jahr für die Maturantenund Maturantinnen eine Herausforderung.„Die jungen Menschen wollensich beweisen und fordern gleichzeitigHilfestellung von den Eltern ein“, sagtAchammer. Im Maturajahr passiere viel –äußerlich und psychologisch, von der Identitätsfindungbis zu den Ablösungsprozessen.Gleichzeitig mangle es in der digitalenWelt an stabilen Vorbildern. „Viele denken,wenn ich so wie meine Eltern werde, dannkann ich nicht viel falsch machen, dannwerde ich denselben Lebensstandard haben.Aber die Zeiten haben sich geändert.“Diese Problematik sieht auch Golli Marboe.Er ist Gründer der Initiative „MentalHealth Days“, mit der er und sein Team anSchulen österreichweit über mentale Gesundheitaufklären. In unserem Bildungssystemgelte die Matura am Ende der höherenSchule als Voraussetzung für einStudium – alternative Wege, wie etwa dieLehre mit Matura, seien wenig bekannt.„Die Anforderungen an die jungen Menschensind hoch – ohne Abschluss von derWirtschaftsuniversität kannst du fast nichtmehr in einer Bank arbeiten“, kritisierter. In der Stadt beginne der Maturastressschon in der Volksschule. „Die Eltern wollenunbedingt, dass die Kinder ins Gymnasiumgehen. In den Volksschulen ist einLeistungsdruck zu spüren, wie er widerlichernicht sein kann“, so Marboe. Wenn esnach ihm ginge, dann würde die Zentralmaturawieder abgeschafft. Auch Culenhinterfragt ihre Sinnhaftigkeit, ein Übergangsritualohne Leistungsmessung wäreihr lieber. Zumindest sollte den jungenMenschen vermittelt werden, dass der Bildungswegauch Umwege beinhalten kann.Kajetan wirkt zum Glück noch rechtentspannt. Damit entspricht er laut einerOnline-Umfrage von Lernquadrat aus demJahr 2024 der Mehrheit der befragten 700Maturantinnen und Maturanten: Knapp60 Prozent sagen, sie sind nervös, aber zuversichtlich,gleichzeitig haben immerhin20 Prozent „keine Ahnung, wie sie die Prüfungenschaffen sollen“. Rund 75 Prozentlernen mithilfe des Internets, fast 40 Prozentin der Gruppe, 20 Prozent mit Nachhilfepersonen.Etwa ein Drittel gibt an, beimLernen Hilfe von den Eltern zu bekommen.Kajetan findet allerdings, diese solltendie Prüfungsvorbereitung ihren Kindernüberlassen. Er tauscht sich mit seinenFreunden darüber aus, wie man effizientlernt und nicht die Nerven verliert – Druckvon außen helfe sicherlich nicht. Fast nochmehr beschäftigen den zukünftigen Zivildieneraber die anstehenden sozialen Veränderungenin seinem Leben. „Ich warjetzt zwölf Jahre lang in der Schule. Nachder mündlichen Matura erlebe ich das ersteMal einen Sommer ohne die Aussicht aufSchule im Herbst“. Bisher hätten der Unterrichtund damit verbundene Verpflichtungenseinen Tagesablauf vorgegeben. Aufein „Danach“ sei er kaum vorbereitet.Hier sieht seine Mutter auch die Schulenin der Verantwortung. Einerseits würdenmanche Lehrkräfte ab Tag eins der Oberstufenur mehr von der Matura sprechen,ohne zu bedenken, dass sie 14-Jährige vorsich sitzen haben. Gleichzeitig gebe es geradeim letzten Schuljahr wenig Informationfür die Eltern. „Für jedes Sportfest gibtes einen Elternabend“, sagt Culen, aber imMaturajahr würden Erziehungsberechtigtenur kontaktiert, wenn alle Strickereißen. Sie sieht auch einen Widerspruchzwischen den Erwartungen an junge Menschenvor und nach der Matura: „Bis dahinsollen sie funktionieren, im Unterricht ruhigsein, ihre Hausaufgaben abgeben, Leistungenerbringen. Nach der Matura sollensie plötzlich individuell, innovativ undselbstbewusst sein und ihre Talente entdecken.Von angepasst zu herausragend, unddas über Nacht.“ Andererseits lobt Culendie Lehrkräfte, die sich sehr um die Schülerinnenund Schüler bemühen. Bei ihreneigenen Kindern hat sie gesehen, wie vieleLehrkräfte die Schüler durch ihr Engagementlangfristig stärken.Und wenn es schiefgeht?Letztendlich seien es die Schülerinnenund Schüler, die sich rechtzeitig vorbereitenmüssen, am besten mithilfe einesLernplans, sagt die SchulpsychologinZehra Gümüs vom Wiener Bildungsministerium.Bei Nervosität empfiehlt sie Entspannungs-und Atemtechniken, Sportund Spaziergänge. Die Aufgabe der Elternsei es vor allem, zuhause die richtigenRahmenbedingungen zu schaffen.„Sie nehmen eine stabilisierende Rolle ein,indem sie Sicherheit und Präsenz vermitteln.“Konkret bedeutet das, den Familienalltagzu strukturieren, und zwar nichterst ein paar Wochen vor der Matura: Die

DIE FURCHE · 198. Mai 2025Gesellschaft/Bildung13jungen Menschen brauchen Lernroutinenund Räumlichkeiten ohne technische Ablenkungen.Außerdem sollten familiäreTermine gut koordiniert werden, ein spontanerBesuch oder große Feste sollten inakuten Lernphasen vermieden werden.Die Botschaft ist: „Ich sehe, wie hart duarbeitest und es ist egal, wie es ausgeht,ich bin für dich da.“ Eltern müssen nichtalle Probleme lösen,sondern da sein undzuhören, sagt Gümüs.Beratungsangebote,Informationenund den Kontaktzu externer psychologischerHilfe bekommenKinder wieEltern bei der Schulpsychologie.Gümüs’Ratschläge entsprecheneiner Metapher, die auch die SoziologenKeith Robinson und Angel L. Harrisin ihrem Buch „The Broken Compass: ParentalInvolvement with Children’s Education“beschreiben: Eltern sollen lediglichals Bühnenbildner agieren. Das heißt,sie schaffen die Rahmenbedingungen fürschulischen Erfolg, ohne an den Lernprozessender Kinder direkt beteiligt zu sein.Ein paar Tage noch bis zur schriftlichenMatura. Wie wäre es für Caroline Culen,„ Ich bin mir sicher, dass es meinenEltern nicht gepasst hätte, wenn ich dieSchule abgebrochen hätte. “Maturant Kajetan„ Eltern vermittelnPräsenz und Stabilität,indem sie zuhauselernfreundliche Rahmenbedingungenschaffen. “Schulpsychologin Zehra Gümüswenn ihr Sohn plötzlich entscheiden würde,doch abzubrechen? Beim ersten Kindhätte sie das noch nicht akzeptieren können,jetzt aber schon, sagt sie. Kajetan dreht sichverwundert zu ihr: „Ich bin mir sicher, dasses weder meiner Mutter noch meinem Vatergepasst hätte – auch nicht, wenn ich inder 6. oder 7. Klasse aufgehört hätte“. Culenschmunzelt. „Gut, vielleicht hätte ich gesagt:Du bist schon soweit gekommen, reißdich zusammen undzieh es durch.“Trotz Bemühen undLernen, nicht allewerden die dieswöchigeMatura bestehen.Enttäuschungund andere Gefühlezuzulassen und anzusprechensei in demFall wichtig, sagt die Psychologin ZehraGümüs. Danach sollten Eltern mit ihrenKindern das weitere Vorgehen planen: Wasgenau ist schiefgelaufen? Lag es an mangelnderVorbereitung, Lernschwierigkeitenoder Prüfungsangst? Braucht der Schüleroder die Schülerin jetzt Nachhilfe oderpsychologische Unterstützung? Vertrauenstatt Kontrolle, Ermutigung statt Druck. Elternschaffen die Bühne – Auftreten müssendie Kinder aber selbst.Foto: Clemens FrauscherMUTTERTAGPlaudern gegen Einsamkeitwer hier sitzt unterhältsich gerne“ steht auf weißenSchildern, die an zwei Bänken „Plauderbankerl,des St. Barbara Friedhofs in Linz angebrachtsind. Zwischen blumengeschmücktenGräbern und neben einem plätscherndenBrunnen befinden sich die zwei zentralgelegenen Sitzbänke. Eine Initiative gegenEinsamkeit, die kommenden Muttertag am11. Mai – einem der besucherstärksten Tagedes Jahres – trauernde Menschen dazueinlädt miteinander ins Gespräch zu kommen.„Die Beziehung zur eigenen Mutterist für viele Menschen etwas ganz Besonderes– auch wenn diese schon verstorbenist“, erzählt Clemens Frauscher, Verwalterdes Friedhofs. An Feier- und Gedenktagenkann die Trauer über den Verlust geliebterMenschen besonders schwer sein.Inspiriert von ähnlichen Wiener Initiativen,entstand die Idee, einen Ort der Begegnungund des Austausches für einsameMenschen zu schaffen. Seit Allerheiligen2024 stehen die zwei Plauderbankerlnnun im 90-Grad-Winkel zueinander. Siewurden bewusst zentral in den Friedhofsraumintegriert, um Besucher zu ermutigen,miteinander zu sprechen. „Wer dortsitzt, zeigt, dass sie oder er gerne mit anderenMenschen in Kontakt tritt“, so Frauscher.Damit macht das Projekt deutlich,dass ein Friedhof nicht nur ein Ort des stillenTrauerns ist, sondern auch des Austausches.Kommenden Sonntag wird es andiesem Platz deshalb für Mütter und all jene,die ihre Mama besonders vermissen,eine „blühende Überraschung zum Mitnehmen“geben. (Tabea Mausz)An verschiedenenOrten in Linz undWien laden „Plauderbankerln“zumAustausch ein. Geradean Feiertagenspüren vieleMenschen den Verlusteines geliebtenAngehörigen –ein Gespräch kannhelfen.Free speech?Presse- und Meinungsfreiheit sind elementareGrundrechte unserer Demokratie. Wenn Pressefreiheitund Journalismus verdrängt werden und Algorithmenentscheiden, was relevant ist, verkommt Meinungsfreiheitzur Illusion. Die Demokratie verliert so ihreStimmenvielfalt und ihr Gehör.3. Mai 2025Internationaler Tag der Pressefreiheit.

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