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DIE FURCHE 08.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 19 24 8. Mai 2024 Von Manuela Tomic Von Manuela Tomic Illu: Rainer Messerklinger MOZAIK Erdbeerland Mit sechs Jahren entzifferte ich eines meiner ersten deutschen Wörter: „Erdbeere“. Es prangte in roten Lettern auf dem großen Marmeladetopf aus Plastik, der im Zielpunkt im Dauerangebot war. Ich schmierte mir das glibberige Gelee, das Erdbeeren nur spurenweise enthielt, dick aufs Brot und wiederholte mit vollem Mund und rollendem r immer wieder dasselbe Wort. In meiner Volksschulzeit fuhr ich mit Mutter gerne ins Erdbeerland. Oft holte sie mich dabei vom schrecklichen Zahnarztstuhl ab und beförderte mich direkt ins Beerenglück. Mit angeschwollener Backe und blutigen Watteröllchen, die mir immer noch im Mund steckten, sammelte ich glücklich aufgeplusterte Beeren. Eines Tages besuchten wir in Klagenfurt den Minimundus, eine Miniaturwelt, die geschrumpfte Sehenswürdigkeiten enthielt. Kaum angekommen, packte ich Mutters Erdbeerbrot aus und nahm hastig einen Bissen. Da flog eine Wespe in meinen Mund. Reflexartig spuckte ich ein halbzerbissenes Stück Beerenbrot auf den Eiffelturm. Mutter nahm mich bei der Hand, und schamvoll schlichen wir uns davon. Als ich viele Jahre später in Paris vor dem echten Eiffelturm stand, stellte ich mir vor, dass auf seiner Spitze eine Riesenerdbeere stecke. Ich hielt Ausschau nach einer Wespe und googelte das französische Wort für „Erdbeere“. Fraise klingt aus meinem Mund wie „Fresse“. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Es ist das Jahr 1854. Mitten im Krimkrieg stellen sich französische und britische Truppen auf die Seite des Osmanischen Reichs und damit gegen Russland. Die Truppen machen sich auf den Weg zum osmanischen Hafen Warna im heutigen Bulgarien. 60.000 Briten und Franzosen warten auf ihren Einsatz. Doch bevor sie überhaupt kämpfen können, erkranken tausende Männer wegen fehlender sanitärer Anlagen an Cholera, Dysenterie und anderen Durchfallerkrankungen. Der Krimkrieg gilt als der erste Medienkrieg. Mithilfe der Telegrafie, die nur wenige Jahre zuvor erfunden worden war, konnten Kriegsberichterstatter die britische Öffentlichkeit über die Geschehnisse auf der Krim informieren. Die Menschen in Großbritannien waren geschockt. Florence Nightingale war einer dieser Menschen. Doch Foto: Wikipedia (gemeinfrei) für die wohlhabende Britin, die gegen den Wunsch ihrer Eltern dem Pflegeberuf nachgeht, wurde dieser Krieg wegweisend. Sie packte ihre Koffer, ließ ihre Kontakte, die bis in die britischen Ministerien reichten, spielen und reiste mit 40 Krankenschwestern auf die Krim ins Militärkrankenhaus von Skutari. Einige von ihnen werden nie wieder zurückkehren. Im Militärkrankenhaus warteten katastrophale Zustände auf die Schwestern. Die Patienten trugen seit Wochen dieselbe Kleidung und lagen in ungeheizten Räumen auf Strohmatratzen. Die Läuse machten ihnen zu schaffen, und es fehlte an praktisch allem. Nightingale ließ sich davon aber nicht abschrecken. Mittels einer Spendenaktion in Großbritannien kaufte sie Hemden, Socken und Trinkbecher und errichtete eine Wäscherei. Sie führte Regeln wie Hände waschen, Bettwäsche wechseln, warmes Wasser verwenden und lüften ein. Maßnahmen, die auch in der Corona-Pandemie gebetsmühlenartig von Ärzten in den Medien wiederholt wurden. Obwohl sie die medizinischen Hintergründe nicht genau kannte, merkte sie, dass bessere Hygiene zu einer niedrigeren Sterblichkeit führt. Stundenlang saß sie vor Papierhaufen und notierte, woran die Männer starben. Sie führte Buch, sie analysierte. Und sie zog da raus Schlüsse für die Architektur und Organisation moderner Krankenhäuser. Tochter aus gutem Hause In ihrem Heimatland pochte Night in gale auf Reformen und katapultierte die Pflege damit ins nächste Jahrhundert. Ihr Wirken schlug Wellen und war etwa Vorbild für Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes. Mittlerweile gibt es weitere Nightin gales: Catherine Bramwell-Booth, die Enkelin des Gründers der Heilsarmee, William Booth, wurde ebenso vor allem durch ihre Fürsorge für die britischen Truppen im Zweiten Weltkrieg bekannt und als „zweite Florence Nightingale“ gerühmt. Noch heute wird zu Nightingales Geburtstag am 12. Mai der Internationale Tag der Pflege gefeiert. Mit ihren neuen Regeln rettete sie etlichen Soldaten das Leben, und die Zustände in dem Mi- „ Obwohl sie die medizinischen Hintergründe nicht genau kannte, merkte sie, dass bessere Hygiene zu einer niedrigeren Sterblichkeit führt. “ litärkrankenhaus besserten sich enorm. Die Männer nannten sie den „Engel von Sewastopol“. In Großbritannien kennt jedes Kind die erste Krankenschwester der Geschichte, Florence Nightingale. Frauen wurde zu ihrer Zeit nicht zugetraut, in Militärkrankenhäusern zu arbeiten, weil sie die Schrecken des Krieges doch nicht ertragen würden. Brutale Militärärzte liefen mit blutigen, ungewaschenen Schürzen durch die Gänge, der Ton war rau. Als Kaufmannstochter hatte Nightingale es nicht nötig, so einen harten Job zu machen. Doch schon mit 17 Jahren glaubte die junge Frau, Gott persönlich habe sie zu dieser Mission aufgerufen. Nightingales Eltern waren Anhänger des Unitarismus. Zentral waren der Dienst an der Gemeinschaft und eigenständiges Denken. Zweifelsohne war die junge Nightingale von dieser Ethik beeinflusst. Doch dass sie diese so wörtlich nehmen würde, damit haben ihre Eltern nicht gerechnet. Sie lehnten Nightingales Pläne ab, doch mussten sie ziehen lassen. Es folgten Aufenthalte im Diakonissenhaus von Pastor Fliedner in Kaiserswerth am Rhein und bei Familien in Florenz. 1853 übernahm Nightingale die Leitung eines Pflegeheims in London. Im Krimkrieg brachte sie es mit ihrer Heldinnentat im Militärkrankenhaus zu Ruhm. „Die Dame mit der Lampe“ und „Mutter der Verwundeten“ wurde sie respektvoll genannt, weil sie jede Nacht durch die Gänge ging, um nach den Kranken zu sehen. Nach dem Fall von Sewastopol am 8. September 1855 blieb sie noch so lange in Skutari, bis der letzte Soldat das Lazarett verlassen hatte. Ihre Mission war erfüllt. Viele ihrer Schwestern starben, sie selbst erkrankte während ihres Dienstes wahrscheinlich an Brucellose. Die Infektionskrankheit wurde zum chronischen Leiden, das sie für Berufung im Krimkrieg Die Britin Florence Nightingale verbesserte 1854 die Zustände im Militärkrankenhaus von Skutari im heutigen Albanien. In ihrem Heimatland setzte sie daraufhin Reformen in Gang. Händewaschen und Lüften galten in der Coronazeit als Um und Auf. Diese Regeln gehen zurück auf die Britin Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Pflege. Der Engel von Sewastopol den Rest ihres Lebens begleitete. 1856 kehrte Nightingale, in ihrem Heimatland längst eine Legende geworden, nach London zurück und beschäftigte sich in den nächsten Jahren eingehend mit der Anwendung ihrer Erfahrungen aus der Kriegszeit auf das Sanitätswesen in Großbritannien. Eines ihrer Bücher trägt den Titel „Notizen für die Krankenpflege“. 1860 wurde in London eine nach ihr benannte Schwesternschule eröffnet. Der Mythos Doch das ist lange her. 1999 sollte mit dem Mythos Nightingale aufgeräumt werden: Die Delegierten der Pflegegewerkschaft Unison entschieden auf ihrer Jahreskonferenz in Brighton, dass Nightingale nicht mehr zeitgemäß sei und die „negativen und rückwärtsgewandten Aspekte der Krankenpflege“ repräsentiere. Sie sei für eine untergeordnete Rolle von Krankenschwestern gegenüber Ärzten eingetreten und habe sich gegen eine fundierte dreijährige Ausbildung gewandt. Wendy Wheeler, eine der Sprecherinnen bei der Konferenz, sagte in der Times: „An der Schwelle zum neuen Jahrtausend müssen wir mit dem Mythos der Florence Night in gale aufräumen.“ Heute weiß man: Pflegerinnen und Pfleger sind keine „Engel“ und „Helden“. Auch sie haben Bedürfnisse. Heute, nach der Corona- Pandemie, sind diese Bedürfnisse wieder in den Hintergrund gerückt. Die berühmteste Krankenschwester der Welt starb am 13. August 1910 im Alter von 90 Jahren. Einem Staatsbegräbnis in der Westminster Abbey stand ihr Wunsch entgegen, in aller Stille begraben zu werden. Auf ihrem Grabstein steht schlicht „F.N. Born 1820 Died 1910“.

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