DIE FURCHE · 19 22 Wissen 8. Mai 2024 Wird die eigene Meinung bedroht, entsteht kognitive Dissonanz. Politische „Zündler“ spielen damit ihr destruktives Spiel. Konstruktive Kräfte hingegen sollten darin eine Chance sehen. Reflexionen zum Superwahljahr 2024. Was tun, wenn das Weltbild wackelt? Von Herbert Hopfgartner Menschen fühlen sich sichtlich wohl, wenn die Welt sich so darstellt, wie sie es vermuten; wenn ihre Freunde ähnlich „ticken“ wie sie und man in der Gruppe zu den wesentlichen Fragen der eigenen Befindlichkeit oder der allgemeinen Weltlage einer Meinung ist. Von diesen offenkundig „richtigen“ Überzeugungen, aber auch einer konstruierten Realität möchte man sich auch nicht mehr trennen. Unerwartet passiert dann das Malheur: Man wird mit Fakten, abweichenden oder sogar gegensätzlichen Meinungen konfrontiert – Tatsachen, die den eigenen Wahrnehmungen völlig zuwiderlaufen! Diese „Unstimmigkeiten“ wollen natürlich schnell gelöst und in eine „Konsonanz“ übergeführt werden. Dabei stellt man in der Folge nicht etwa die eigenen Ansichten infrage, sondern sucht, ohne zu zögern, den Fehler bei den scheinbar irrigen, absurden und völlig abwegigen Anschauungen des beziehungsweise der anderen. Schwadronieren gegen Andersdenkende „Warum wir radikal aufrichtig sein sollten“ (27.9.2023): Martin Tauss plädiert für existenzielle Redlichkeit als neues Bildungsideal, nachzulesen auf furche.at. Foto: iStock / Getty Images Plus / ArtemisDiana „ Populistische Politiker zeigen ‚dissonante‘ Probleme auf und bestimmen rasch Schuldige. Eine Lösung des Problems bleiben sie indes schuldig. “ Der eher nüchterne Fachterminus für diese Erfahrung lautet „kognitive Dissonanz“: Unvereinbare mentale Ereignisse erzeugen Konflikte, die möglichst rasch überwunden werden wollen. Schon eine Fabel von Äsop demonstriert das Dilemma vorzüglich: Ein Fuchs kann die über ihm hängenden, verheißungsvoll prallen Trauben nicht erreichen. Jeder Versuch scheitert. Anstatt sich über den entgangenen Genuss zu ärgern, redet er schließlich die Trauben schlecht: Indem sie ihm gar sauer erscheinen, sind sie es nicht mehr wert, gepflückt beziehungsweise geerntet zu werden. Seine Erfolglosigkeit steht damit nicht mehr zur Disposition. Die Beharrlichkeit des Menschen, eigene Positionen nicht aufgeben zu wollen oder Fehler nicht eingestehen zu können, ist groß – und währt auch erstaunlich lange. Eingefahrene Traditionen und liebgewonnene Gewohnheiten möchte man keinesfalls leichtfertig gegen unbekannte und unerprobte Handlungen tauschen. Auch das menschliche Gehirn arbeitet nach den Grundsätzen der Erfahrung und Routine. Neue und ungewohnte Einsichten und Erkenntnisse werden nur zögerlich zur Problemlösung herangezogen. In den (un)sozialen Medien sorgen Algorithmen dafür, dass man mit „zufällig“ empfohlenen In- Klimakonferenz der Zivilgesellschaft Globart, Solektiv Festival für Gegenwartskultur 30.4.–6.10.2024 9.5.–11.5. Tipping Time Festivalpass um EUR 50 Gültig für alle Bereiche und Veranstaltungen von Tipping Time Datum/Uhrzeit Eröffnung 9.5.2024 17:00 Uhr 10. und 11.5.2024 jeweils 13:00 Uhr Ort Sonnenpark St. Pölten TangenteSt.Pölten
DIE FURCHE · 19 8. Mai 2024 Wissen 23 halten versorgt wird, die eine kognitive Dissonanz weitgehend ausschließen: Auf diversen Plattformen trifft man erstaunlich schnell Geistesverwandte, mit denen man dieselben Inhalte teilt und schon deshalb gegen Andersdenkende bedenkenlos schwadronieren kann. Das eigens aufgebaute „Glaubenssystem“ wird untermauert, wobei den Menschen in der Blase nicht bewusst ist, in welcher Abschottung sie sich eigentlich befinden, wie selektiv sie die Welt wahrnehmen und wie immun sie gegen andersgeartete Argumente bzw. gegenteilige Erkenntnisse handeln. In diesem Zusammenhang ist an den „Dunning-Kruger-Effekt“ zu erinnern, der die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis mancher Menschen beschreibt, die das eigene Wissen und Können gerne überschätzen. Diese Anlage beruht nicht zuletzt auf der Unfähigkeit, sich selbst mittels „Metakognition“ objektiv zu beurteilen. Das Unbehagen, das einen befällt, wenn sich die eigene Meinung als möglicher Irrtum zeigt, begegnet uns täglich in vielerlei Gestalt: Ein egozentrisches Denken verhindert oft genug den Prozess des Lernens, auch wenn Fakten oder objektiv bessere Problemlösungen die eigene Ansicht längst in Zweifel gezogen haben. Nachdem die kognitive Dissonanz das eigene Selbstbild mitunter massiv infrage gestellt hat, muss die entstandene Kluft zwischen Selbsteinschätzung und Realität durch fadenscheinige Rechtfertigungen und Ausreden oder Schuldzuweisungen gegenüber anderen verringert werden. Wenn etwa Beziehungen scheitern oder der Partner bzw. die Partnerin die eigenen, völlig offenkundigen Vorzüge nicht und nicht bemerken will: Fast immer sucht man voreilig den Fehler beim anderen. Statt unangenehmen Wahrheiten zu begegnen, flüchtet man zu angenehmen Unwahrheiten. In der Politik ist das Phänomen der kognitiven Dissonanz ein besonders heikles Thema: Verschiedene Ideologien, ein „Freund-Feind-Schema“ und ein Schielen auf Umfragewerte lassen fast jedes Thema zum großen – und medial inszenierten – Konflikt werden, wobei populistisch agierende Politiker gerne „zündeln“ und in ständiger Medienpräsenz Auseinandersetzungen provozieren. Sie zeigen „dissonante“ Probleme auf und bestimmen rasch Schuldige. Eine Lösung des Problems bleiben sie selbst indes schuldig. Auch an einem politischen Kompromiss – also einer Vermittlung der unterschiedlichen Standpunkte – sind sie nicht interessiert. Damit treiben sie einen Spalt in die Gesellschaft, wobei die vergiftete und emotional hoch- DIE FURCHE EMPFIEHLT Forschung hautnah erleben Die „Lange Nacht der Forschung“ findet in ganz Österreich an circa 270 Ausstellungsorten statt. Mit über 2800 Stationen, Führungen, Workshops, Vorträgen, Live-Präsentationen und Experimenten zum Mitmachen ist die Veranstaltung für verschiedenste Zielgruppen konzipiert. Auf der Website kann man gezielt nach Themen und Orten suchen. Lange Nacht der Forschung Freitag, 24. Mai, 17–23 Uhr langenachtderforschung.at geschaukelte Atmosphäre die gegenteiligen Ansichten nur noch verhärtet. Sie, die „Zündler“, tragen nie die Verantwortung für eine Eskalation, obwohl nur sie diese bewusst und beabsichtigt herbeigeführt haben. Stattdessen schüren sie nach dem Prinzip divide et impera („teile und herrsche“) im Volk den Unfrieden. Große Teile in der Bevölkerung durchschauen diese Durchtriebenheit anscheinend nicht. Statt gemeinsam gegen die Unfähigkeit eines Populisten zu protestieren, streiten sie sich und schwächen sich damit nur gegenseitig. Der Zwietracht Säende und zu einer anständigen Politik gar nicht Fähige regiert womöglich dann mit vollmundigen Ankündigungen ein Land, dessen Einwohner in Kleinkriege verwickelt sind und gar „ An einem politischen Kompromiss, einer Vermittlung unterschiedlicher Standpunkte, sind Populisten nicht interessiert. Damit treiben sie einen Spalt in die Gesellschaft. “ nicht Zeit und Lust haben, sich mit lösungsorientierter Politik zu beschäftigen. Auch die Wissenschaft ist vor dem Problem nicht gefeit: Zum einen sind Forscher und Wissenschafter auch nur Zeitgenossen mit menschlichen Schwächen, die den gleichen kognitiven Biases wie z. B. Verfälschungen und Verzerrungen in der Datenerhebung und psychologischen Mechanismen wie z. B. Vorurteilen, falschen Erwartungshaltungen oder Interpretationen unterworfen sind – Unzulänglichkeiten also, die alle Menschen aufweisen. Zum anderen sorgt die vorherrschende Mentalität in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, publish or perish („veröffentliche oder gehe unter“), dafür, dass ständig Publikationen herausgegeben werden müssen, um in der Szene präsent zu sein, einen Arbeitsplatz oder einen Forschungsauftrag zu behalten. Hannah Arendt meinte dazu schon 1972 (!), dass „dieses Publish or perish-Geschäft eine Katastrophe ist. Die Leute schreiben Dinge, die niemals hätten geschrieben werden dürfen und die niemals gedruckt werden sollten. Niemanden interessiert das. Aber damit sie ihren Job behalten und die richtige Beförderung bekommen, müssen sie es tun. Es erniedrigt das ganze geistige Leben.“ Selbstreflexion und Lernfähigkeit Wie kann man eine kognitive Dissonanz nicht nur verdrängen, sondern nachhaltig lösen? Zuallererst ist wohl eine gehörige Portion an Selbstreflexion nötig, um eingefahrene Denkwege oder verkrustete Anschauungen zu überwinden. Wenn man sich der Wirklichkeit stellen will, muss man ohnehin Vorurteile und eigene Eitelkeiten beiseiteschieben und sich auf neue, vielleicht auch unbequeme Meinungen und Standpunkte anderer einstellen. Besonders Mutige können die Unstimmigkeiten und Missklänge auch durch sensibel geführte Gespräche – z. B. in Supervision, Mediation oder in einer Gesprächstherapie – auflösen. Fazit: Widersprüchliche Weltsichten lassen sich nicht allzu leicht beseitigen. Man sollte nicht den üblichen Fehler begehen und die sympathischere Sichtweise behalten, sondern die Anschauung akzeptieren, für die sich mehr empirisch nachprüfbare Belege finden lassen. Auch wenn es Missverständnisse in der menschlichen Kommunikation immer wieder geben wird, sollte man es mit René Descartes halten, der meinte: „Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mich vehement dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Der Autor ist Musikwissenschafter in Salzburg und betreut interdisziplinäre Crossover-Projekte. Wochenausblick DIE FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben diese Themen in den Fokus*: Schreckgespenst AfD Nr. 21 • 23. Mai Auch Deutschland kippt längst nach rechts – und die Lage wird sich zuspitzen, wenn gewichtige Wahlen im Osten anstehen. Die AfD greift in Brandenburg, Sachsen und Thüringen nach der Macht. Was sind die Folgen? Kaputte Demokratie Nr. 23 • 6. Juni Die EU-Wahl bildet den Auftakt für ein Superwahljahr, in dem nicht nur Parteien auf dem Prüfstand stehen, sondern das ganze politische System. Die Demokratie muss sich einer ernsthaften Selbstkritik unterziehen. Die Kunst des Streits Nr. 25 • 20. Juni Ein Wahlkampfsommer in einer ohnehin stark polarisierten Gesellschaft steht an. Konflikte aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten drohen auch im persönlichen Leben. Wie können wir zivilisiert streiten? Der Provokateur Nr. 27 • 4. Juli Am 1. Juli 2024 übernimmt Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft. Das Land wird seit Jahren vom Anti-Europäer Viktor Orbán regiert. Für die einen ein Vorbild, ist er für die anderen eine Gefahr für den Zusammenhalt in der EU. 90 Jahre Putsch Nr. 29 • 18. Juli Am 25. Juli 1934 um 12.53 Uhr stürmen 150 SS-Männer das Bundeskanzleramt in Wien. Der beim Angriff schwer verletzte Kanzler Engelbert Dollfuß stirbt, wird zum Märtyrer und ideologischen Reibebaum bis heute. Franz Kafka Nr. 22 • 30. Mai Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb in Kierling bei Klosterneuburg einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die Wirkungen seines Werks auf Lesende, Schreibende, Kunstschaffende sind enorm. Wallfahrten Nr. 24 • 13. Juni Neben den traditionellen (und neuen) Pilgerwegen begeben sich heute immer mehr Menschen auf Reisen „in Gottes Namen“. Ist es die Sehnsucht nach einem spirituellen Wegweiser, der die Touristen antreibt? Überflieger Nr. 26 • 27. Juni Sommer, Ferien, Urlaub: Flugreisen boomen nach der Corona-Zwangspause mehr denn je. Flugscham scheint vergessen, die Klimakrise verdrängt. Welche Möglichkeiten gibt es, Fliegen und Nachhaltigkeit zu verbinden? Altern und Eltern Nr. 28 • 11. Juli Über wenige Themen streitet es sich so gut wie über Erziehung, gerade mit den eigenen Eltern. Wie erziehen Boomer, wie Millennials? Dürfen Oma und Opa Erziehungstipps geben? Sind Großeltern gar die besseren Eltern? Olympia Nr. 30 • 25. Juli Die Olympischen Spiele kehren zurück nach Paris, wo deren Wiedereinführung 1894 beschlossen wurde. Ein Fokus über die Faszination Hochleistung - und die Politik des Sports, von Transgenderdebatte bis Nationalismus. *Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Nichts mehr verpassen– Newsletter abonnieren Jetzt anmelden furche.at/newsletter Jeden Mittwoch und Freitag!
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