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DIE FURCHE 08.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 19 14 Diskurs 8. Mai 2024 Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich hänge an der Fotografie Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Reaktion nicht allzu übel, aber: „Wie kann man nur so einen Quatsch verzapfen?“ Das dachte ich mir, als ich das Thomas-Bernhard-Zitat in Ihrem letzten Brief las. Vielleicht bin ich auch nur zu ungebildet und verstehe seine Kritik falsch. (Moment: Falle ich schon wieder in ein geschlechtsgebundenes, unterwürfiges Verhaltensmuster?) Ich schiebe diese Frage einmal beiseite, um meine Gedanken zu Bernhards Aussage, er habe „noch auf keiner Fotografie einen natürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen“, mit Ihnen zu teilen. Das hört sich gewollt provokant an, und mir stoßen hier zumindest drei Dinge auf. Erstens: Wann soll die Fotografie je versprochen haben, Menschen oder Natur „wahrhaftig“ darzustellen? Zweitens: Auch Gemälde, Skulpturen oder Drucke können „wahre“ Menschen oder Natur nicht sichtbar machen. Drittens: Bernhard schreibt: „Die Fotografie ist das größte Unglück des 20. Jahrhunderts.“ Mir fällt da ein viel fataleres Kapitel der Geschichte ein, das – unter anderem dank Fotografien – dokumentiert und nachhaltig Teil unserer Erinnerungskultur bleibt. Unabhängig von diesen Punkten hänge ich an der Fotografie, besonders an meinen Kinderalben. Aber ich hänge nicht nur an persönlichen Aufnahmen. Waren Sie schon einmal in der „World Press Photo“-Ausstellung? Sie ist jedes Jahr in der Wiener Galerie WestLicht zu Besuch, und mich berühren die Bilder oft sehr, sie wecken mein Interesse für diverse Themen, zum Beispiel Flamingos. Bevor ich ganz abschweife, möchte ich Ihnen aber auch noch zustimmen. Denn in der Flut der Fotos, die wir tagtäglich „ Bernhard schreibt: ,Die Fotografie ist das größte Unglück des 20. Jahrhunderts.‘ Mir fällt ein fataleres Kapitel der Geschichte ein, das dank Fotografie dokumentiert wurde. “ mit unseren Smartphones schießen und sammeln, gehen die Juwelen, seien es besonders schöne Bilder oder besonders beeindruckende reale Momente, oft unter. Das überrollt auch mich manchmal. Sie schlagen ja abschließend vor, sinnsuchende junge Menschen könnten Sinn im Online-Coaching älterer Menschen finden. Aus eigener Erfahrung fehlt es aber nicht immer an jungen Personen, die sich Zeit dafür nehmen wollen. Oft fehlen die Motivation und die Neugier der Älteren. Ich höre schon die eine oder andere Person sagen: „So ein Klumpert, das funktioniert nicht!“ „Nein, das ist viel zu kompliziert, mach mir das gleich.“ „Warum brauch ich das denn noch?“ Ich habe mir schon vor ein paar Jahren vorgenommen, neugierig zu bleiben. Das fällt mir manchmal gar nicht so leicht. Vor allem, wenn ich im Stress und ungeduldig bin. Manchmal erwische ich mich auch dabei, wie ich neue Informationen – dazu gehören auch Smartphone-Einstellungen – gedanklich abwinke, weil ich keine Lust darauf habe, etwas an meiner Routine zu ändern. Obwohl Neugier dem Gehirn guttut, nimmt sie nun einmal mit dem Alter ab. Je mehr wir wissen, desto weniger versuchen wir, Neues herauszufinden, erklärte der Linguist und pädagogische Psychologe Carl Naughton in der Zeit. Das sei evolutionär nachvollziehbar, weil der Körper dadurch Energie spare. In unserer Gesellschaft, die sich andauernd verändert, ist es jedoch unpraktisch. „Nur wer neugierig bleibt, schafft es, mitzuhalten“, schreibt er. Also motiviere ich mich und probiere gerade unterschiedliche KI-Apps aus. Wie es mir mit diesen geht, das erzähle ich Ihnen gerne im nächsten Brief. Am 29. April ist Peter Demetz, in Prag geborener „Grandseigneur der deutschen Literaturkritik“, 101-jährig gestorben. Wir bringen die Würdigung zu seinem 100. Geburtstag. Vergangenes ist unverloren 3800 AUSGABEN DIGITALISIERT Von Oliver vom Hove In FURCHE Nr. 42 20. Oktober 2022 Sein Großvater war vom ladinischen Grödental ins Böhmische ausgewandert. Der Vater, Hans Demetz, wurde Dramaturg am Deutschen Theater Prag, seine Mutter war eine tschechische Jüdin. Eine Hommage auf den „Weltbürger der Literatur“. Am 21. Oktober 1922 geboren, erlebte der Prager Bub noch die Nachbeben der zerfallenen Donaumonarchie in T. G. Masaryks „Republik der Nationalitäten“, dem tschechoslowakischen Nachfolgestaat mit seiner großen deutschsprechenden Minderheit. Der Herangewachsene erlebte nach dem verhängnisvollen Münchner Abkommen die NS-Okkupation seines Landes, das ab 1939 in ein „Protektorat Böhmen und Mähren“ gezwungen wurde. Er musste erleiden, wie seine Mutter und Großmutter wie auch weitere Verwandte nach Theresienstadt in die Vernichtung geführt und ihm selber als „Halbjuden“ Gestapo haft und Zwangsarbeit auferlegt wurden. Schließlich sah er mit an, wie die Kommunisten 1948 in Prag durch einen Putsch die Macht ergriffen. Da beschloss er zu fliehen. Vorher war er noch an der Karls-Universität in Prag mit einer Arbeit über Kafka in Germanistik promoviert worden. Mit seiner späteren Frau Hannah flüchtete er Ende 1949 über die „grüne Grenze“ nach Bayern. In München arbeitete er eine kurze Zeit für Radio Free Europe, bis er 1953 in die USA auswanderte. An der Yale-Universität in New Haven erneuerte er bei René Wellek sein Doktorat und wurde schließlich Sterling-Professor für Germanistik und Komparatistik. Dass die Literatur eine Schatzkammer ist, deren Preziosen sich in ihrem schillernden, oft verborgenen Wert vor allem dem Kundigen erschließen, war ihm stets bewusst. Um den Kreis der Kenner Foto: Wikipedia/Zandegan55 (cc by-sa 4.0) zu erweitern, teilte er sein Wissen wie sein Urteilsvermögen als Kritiker und Essayist über Jahrzehnte beharrlich einem breiteren Lesepublikum mit. Zuerst in der Zeit, ab 1974 vor allem in der FAZ veröffentlichte Demetz seine luziden Betrachtungen zur überlieferten wie zur neueren Literatur. Neben Jiří Gruša, Peter Kosta, Eckhard Thiele und Hans Dieter Zimmermann war er einer der fünf Gesamtherausgeber der 33-bändigen Tschechischen Bibliothek, die von 1999 bis 2007 in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen ist. Demetz war darüber hinaus unter anderem von 1986 bis 1996 Mitglied und zeitweise Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. [...] Nach seiner Emeritierung nahm Demetz als Buchautor schließlich sein nachhaltigstes Anliegen in Angriff: Er tauchte ein in die Erinnerungswelt seiner Prager Jahre und damit in den Kulturraum Mitteleuropas, von dem er so dauerhaft geprägt wurde. [...] Der Prager Peter Demetz kennt das Verbindende der zahlreichen Moldaubrücken seiner Stadt. Ein Satz in seiner Studie über Doderers „Strudl hof stiege“ [...] kann ganz allgemein als Beschreibung der Brückenfunktion von Literatur gelesen werden: „In einer komplizierten Verbindung von erlebten und erinnerten Zeiten mischen sich Vergangenheit und Gegenwart; die Menschen verschmähen die Erinnerung nicht, die ihre Individualität erst eigentlich konstituiert, und das Vergangene ist unverloren.“ VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. 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DIE FURCHE · 19 8. Mai 2024 Diskurs 15 Vor 90 Jahren besiegelte die „Maiverfassung“ die Verquickung des Ständestaats mit der katholischen Kirche. Heute distanziert sich Letztere von dieser unseligen Allianz. Und das ist gut so. Als „christliche“ Politik in die Diktatur führte Dieser Tage jährt sich das Inkrafttreten der „Maiverfassung“ von 1934 zum 90. Mal. Ein Jahrestag, der kaum wahrgenommen wird. Umso erstaunlicher erscheint da die Erklärung, die der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Salzburgs Erzbischof Franz Lackner, zu diesem Jahrestag ab gegeben hat. Lackner bezieht sich darin auf jene Verfassung, „durch die unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß der nach ständischfaschistischen Prinzipien gebildete ‚Bundesstaat Österreich‘ etabliert werden sollte“. Schon diese Wortwahl überrascht, Lackner ordnet die Ständestaats-Verfassung auch in ihrer Bedeutung unmissverständlich ein: Sie sei „weitestgehend eine lediglich formelle Willensbekundung einer diktatorischen Regierung“ gewesen, „auch wenn sie ‚im Namen Gottes, von dem alles Recht ausgeht‘, verkündet wurde“. Man darf nicht vergessen, dass die Maiverfassung auf die Februarkämpfe 1934 folgte, die zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei geführt hatten. Die neue „Verfassung“ wurde von einem von den Sozialdemokraten gesäuberten Rumpfparlament mit Zweidrittelmehrheit gebilligt – selbstredend ein Vorgang, der mit der Verfassung von 1920/29 ebenso wenig vereinbar war wie die Tatsache, dass darüber keine Volksabstimmung stattgefunden hatte. Zwischen Februarkämpfen und Juliputsch Ebenso sollte nicht vergessen werden, dass nur Wochen später der Juliputsch der Nationalsozialisten stattfand, bei dem Dollfuß ermordet wurde. Die durch die Maiverfassung auch juristisch vollzogene endgültige Abkehr von der Demokratie hatte mitnichten die Eindämmung die NS-Gefahr zur Folge. Das war schon vier Jahre vor dem „Anschluss“ durch Hitlerdeutschland klar. Die katholische Kirche war in die Ausschaltung der Demokratie tief verstrickt. Engelbert Dollfuß hatte am 11. September 1933 in seiner „Trabrennplatzrede“ – am Rande des „Allgemeinen Deutschen Katholikentags“ in Wien – die Ideologie eines berufsständisch organisierten Staatswesens formuliert. Explizit zitierte er dazu die Soziallehre Papst Pius’ XI.: „Wir werden ständische Formen und ständische ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Man wünscht sich, dass sich die katholische Kirche in derartiger Weise beständig in den Diskurs einbringt. “ Grundlagen, wie sie die Enzyklika Quadragesimo Anno uns so schön verkündet, zur Grundlage des Verfassungslebens nehmen. Wir haben den Ehrgeiz, das erste Land zu sein, das dem Ruf dieser herrlichen Enzyklika wirklich im Staatsleben Folge leistet.“ 1933 wurde auch – nach mehr als 60 Jahren vertragslosem Zustand – ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Österreich abgeschlossen, das Teil der Maiverfassung 1934 war. Dass sich die katholische Kirche Österreichs 90 Jahre später so klar von ihrer Verstrickung in die Ereignisse rund um 1934 distanziert, ist hoch einzuschätzen. „Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Kirche haben in den Tagen des Austrofaschismus in großer Einseitigkeit der unter dem Deckmantel vermeintlich christlicher Politik agierenden Diktatur das Wort geredet und danach gehandelt – dieses Versagen müssen wir als Glaubensgemeinschaft bekennen“, heißt es in der Erklärung von Erzbischof Lackner. „Ich kann mich ja aus meiner eigenen Jugendzeit erinnern, wie sehr die Kirche damals im öffentlichen Leben eine Stütze haben wollte. So kam es zu dieser Spannung zwischen der Sozialdemokratischen und der Christlichsozialen Partei. Die Sozialdemokraten traten vehement für die Republik ein, während die Christlichsozialen mit einem Fuß noch in der Vergangenheit drinnen waren und nicht überzeugt waren, ob die Republik wirklich das ist, wo die katholische Kirche sich zu Hause fühlen kann.“ So erinnerte sich Kardinal König am 2. Mai 2002 in der FURCHE an jene Zeit. Das hier zitierte Interview fand anlässlich des 50. Jahrestags des „Mariazeller Manifests“ statt (vgl. S. 12), mit dem sich Österreichs katholische Kirche auch offiziell von der unsäglichen Liaison mit dem Staat und einer Partei verabschiedete. Das Manifest spricht von „einer freien Kirche in einer freien Gesellschaft“ und erteilt viermal eine Absage: „keine Rückkehr zum Staatskirchentum“, „keine Rückkehr zu einem Bündnis von Thron und Altar“, „keine Rückkehr zum Protektorat über eine Partei“ sowie „keine Rückkehr zu jenen gewaltsamen Versuchen, auf rein organisatorischer und staatsrechtlicher Basis christliche Grundsätze verwirklichen zu wollen“. Keine „Dämonisierung Andersmeinender“ Mit dem Mariazeller Manifest ist Österreichs katholische Kirche 1952 in der Nachkriegsmoderne angekommen und hat einiges von dem, was dann auch das II. Vatikanische Konzil in Bezug auf Kirche und Welt formuliert hat, vorweggenommen. Auch Lackners Absage an den Geist von 1934 nimmt ausdrücklich Bezug aufs Mariazeller Manifest. In seiner Erklärung heißt es, die Ereignisse vor 90 Jahren mahnten die Kirche dazu, „dass wir, wo immer möglich, mit allen politischen Kräften dieses Landes, die seinen demokratischen sowie die Menschenrechte und -würde achtenden Prinzipien verpflichtet sind, am Aufbau des bonum commune arbeiten wollen – als Gesellschaft aber, dass wir stets auf der Hut sein müssen, uns nicht erneut in derartige Spaltungen und Dämonisierungen der Andersmeinenden zu verirren“. Man wünscht sich, dass sich die katholische Kirche in derartiger Weise beständig in den öffentlichen Diskurs einbringt. Mag sein, dass ihre Stimme wenig(er) gehört wird. Aber das ist überhaupt kein Grund, sie nicht zu erheben. Der Autor war bis April 2024 stellvertretender Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Früher war Mutti besser Schon wieder Muttertag, schon wieder sudern die Feministinnen. So schwierig sei das Leben als Mama. Dabei haben es heutige Mütter so viel besser. Sie haben Kindergärten und Babysitter, sie haben Waschmaschinen und Geschirrspüler, sie haben Väter, die sogar einen Papamonat nehmen. Was stellen die sich also so an? Früher hat es das nicht gegeben. Da haben die Mütter alles selbst gemacht, vom Brot bis zur Marmelade. Klar, manchmal gab es Schwierigkeiten. Aber das hat man da gelöst, wo es sich gehört: im Privatleben. Das wäre noch schöner, wenn alle plötzlich über ihre familiären Probleme reden würden. Wer soll denn putzen und sich um die Kinder kümmern, wenn die Mama sich plötzlich zu gut dafür ist? Und dann lassen die sich auch gleich scheiden. Unsere Mütter haben noch was ausgehalten. Die haben sich zusammengerauft mit unseren Vätern, manchmal buchstäblich. Aber so eine Watsche kann einem Mann schon einmal auskommen. Und die Frauen haben das ja schon auch oft provoziert. Diese Emanzen reden das heute alles schlecht. Dabei waren die Mütter früher einfach zufriedener, obwohl es anstrengender war. Wäre es anders gewesen, hätte ja wer was gesagt. Ana Wetherall-Grujić PORTRÄTIERT Der Philosoph des runden Leders Vielleicht liegt es an dem schönen blauen Fluss, der durch Wien fließt, ganz nah am Ernst-Happel-Stadion vorbei. Vielleicht hätte Fußballösterreich nie zweifeln dürfen, dass unser Herr Nationaltrainer seiner Wirkungsstätte die Treue hält. Schließlich gelang Ralf Rangnick (65) der große Durchbruch als Trainer in den 1990er Jahren ebenfalls in einer Stadt an der Donau. Es war in der Spielzeit 1998/99, als der damals 40-Jährige den deutschen Zweitligisten SSV Ulm 1846 zum Herbstmeister coachte und ein Vertragsangebot aus der Bundesliga erhielt. Noch als Trainer von Ulm erhielt er den Titel „Fußballprofessor“: Zu Gast im ZDF erklärte er ausführlich Feinheiten seiner Taktik und philosophierte darüber, dass eine Formation mit Viererkette in der Verteidigung – wie er sie etablierte – noch lange keine Abkehr vom traditionellen Libero bedeutet, dem letzten freien Mann in der Verteidigung. Vielleicht war Rangnicks Vorsicht, den Libero nicht schlechtzumachen, weise Voraussicht: Schließlich war es ein Wiener, Karl Rappan, der die Position in den 1930er Jahren als Schweizer Nationaltrainer erfand und damit große Erfolge feierte. Und schließlich war auch Ernst Happel, Namensgeber von Rangnicks heutigem „Büro“, ein legendärer Libero. Nach erfolgreichen Stationen als Trainer bei mehreren deutschen Bundesligaklubs nahm sich Rangnick 2011 – Burnout-gefährdet – eine Auszeit. Seine Rückkehr in das Fußballgeschäft trat er als Sportdirektor des FC Red Bull Salzburg an. Er gestaltete die Strategie des Vereins um, setzte auf junge Talente statt eingesessene Stars und machte Salzburg zum Serienmeister. Anschließend übernahm er beim RB-Schwesterverein in Leipzig Ämter als Sportdirektor und Trainer. Im Mai 2022 wurde er als österreichischer Teamchef vorgestellt. Hierzulande muss man spezifizieren: als primus inter pares der neun Millionen Teamchefs. Nach der Qualifikation für die EM mit nur einer Niederlage stand das Land geeint wie selten hinter einem Nationaltrainer. Vergangenen Dienstag dann der Hiobsbericht in der Bild-Zeitung: Rangnick will zum FC Bayern wechseln. Als er zwei Tage später das Gegenteil verkündete, titelte die Krone online mit ruhigem Puls: „JAAA! Ralf Rangnick bleibt unserem ÖFB-Team treu“. Bleibt nur zu hoffen, dass auch der ÖFB seinem Trainer treu bleibt – unabhängig vom Erfolg bei der EM. Seine Absage an die Bayern-Millionen zeugt jedenfalls von geradezu philosophischem Idealismus. (Philipp Axmann) Foto: APA/Georg Hochmuth Der 65-jährige Deutsche Ralf Rangnick ist „mit vollem Herzen“ österreichischer Nationaltrainer – und bleibt das auch nach der Euro.

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