DIE FURCHE · 19 10 Philosophie/Religion 8. Mai 2024 Was ist der Mensch? In der letzten Folge der FURCHE-Serie zu Kants Fragen diskutieren Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Biologe Kurt Kotrschal über „die Natur“ des Menschen, Gender und Würde. „So radikal sozial wie der Mensch ist kein anderes Tier“ Das Gespräch führten Doris Helmberger und Philipp Axmann Der vor 300 Jahren geborene Immanuel Kant hat mit vier Fragen die Philosophie zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und über allem: Was ist der Mensch? DIE FURCHE widmet sich den Fragen in einer Serie. In der letzten Folge diskutieren zwei Persönlichkeiten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Universen miteinander: Hanna-Barbara Gerl- Falkovitz, an der Hochschule Benedikt VI. Heiligenkreuz lehrende Religionsphilosophin, sowie der Biologe und Verhaltensforscher Kurt Kotrschal. Auf Kants Frage haben sie teils divergierende, teils überraschend ähnliche Antworten. DIE FURCHE: Was ist der Mensch? Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Mit Kant kann man das so beantworten: Der Mensch ist Vernunft und Freiheit. Man kann die Frage aber auch umdrehen: Was ist der Mensch nicht? Kant will ihn gegen Fremdsetzungen sichern: Der Mensch ist nicht ein Zweck anderer. Er kann und darf nicht – ob mit oder gegen seinen Willen – grundsätzlich den Zwecksetzungen anderer ausgeliefert werden. Sei es medizinischen, technischen, staatlichen oder anderen Zwecken. Solche Zwecksetzungen sind Einschränkungen, die wir heute immer stärker vollziehen. Mit Kants Begriffen der Freiheit und der Vernunft kommen wir zu einer deutlichen Kritik an unseren gegenwärtigen stark technisierten, mechanisierten und transhumanen Entwürfen. Kurt Kotrschal: Ich habe als Biologe natürlich einen völlig anderen Blickwinkel, und es ist immer noch einen Minenfeld, sich als Biologe anzumaßen, darüber zu sprechen, was der Mensch ist. Dazu hatten wir in den letzten hundert Jahren Peinlichkeiten ohne Ende. Ich erinnere an Arnold Gehlens Mängelwesen-Theorie. Auch Giganten unseres Faches wie Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt neigten teilweise zu biologistischen Vereinfachungen über den Menschen. Ich würde die Frage so beantworten: Wir sind evolutionär entstandene Lebewesen wie alle anderen auch, und wir haben ganz bestimmte Alleinstellungsmerkmale. Es gibt keinen Millimeter menschlichen Verhaltens jenseits unserer Anlagen. Das bedeutet nicht, dass wir determiniert sind. Es gibt keine Art da draußen, die ähnliche kontextspezifische Flexibilität im Verhalten und Denken hat wie wir. Wir haben acht Milliarden Menschen auf der Welt, die wesentlich mehr gemeinsam haben, als sie kulturell je zu trennen vermag. Andererseits sind es acht Milliarden unverwechselbare Individuen. Die Podcasts, Interviews und Texte zu allen vier Fragen lesen Sie im Dossier „Kant: Aufklärung riskieren“ auf furche.at. „ Es ist ein Minenfeld, als Biologe darüber zu sprechen, was der Mensch ist. Dazu hatten wir Peinlichkeiten ohne Ende. “ Kurt Kotrschal DIE FURCHE: Ob und inwiefern sich Mensch und Tier unterscheiden, wird höchst unterschiedlich beurteilt. Wie sehen Sie das? Oder anders gefragt: Was ist die Natur des Menschen? Kotrschal: Wir wissen heute, dass sich das Dar win’sche Kontinuum, also die Gemeinsamkeiten der Merkmale in Anatomie und Physiologie, auch auf die mentalen Merkmale erstreckt. Es bleiben also gar nicht so viele Alleinstellungsmerkmale des Menschen über. Wir haben ein wesentlich größeres und leistungsfähigeres Gehirn. Die Mechanismen sind aber sehr ähnlich. Wir haben Sprachzentren im Hirn und damit eine unglaublich potente Sprache entwickelt, die uns ganz andere Tore geöffnet hat als anderen Tieren. Illustration: Rainer Messerklinger Gerl-Falkovitz: Ganz allgemein ist die Natur des Menschen einmal das Vorfindliche, das Mitgegebene, die Grundausstattung. Einerseits in körperlicher Hinsicht, andererseits ist es auch geistige Mitgift. Geist ist nicht Antinatur. Wir können auch sagen, die Natur des Menschen wird durch Kultur geformt. Alles, was den Körper ausmacht, wird durch Geist oder Trieb mitbestimmt. Wir sind nicht einfach nur naturwüchsig. Wir leben unsere Triebe nicht nur aus, wir kultivieren sie. Wir haben zum Beispiel nicht nur quantitative Fortpflanzung, sondern wir haben Zeugung mit Verantwortung für ein Kind; wir begehren, begehrt zu werden; wir leben Ehe. Wir sind nicht mehr nur Rudel, sondern generationenübergreifende Familie. Die Natur wird Kultur, sie wird dreifach „aufgehoben“: bestätigt, gebändigt, aber auch höhergehoben. Kotrschal: Was die Dichotomie zwischen Natur und Kultur betrifft, sind wir inzwischen schon misstrauischer geworden. Arnold Gehlen hat gesagt: Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen. Unser Gehirn schleppt seine ganze hunderte Millionen Jahre lange evolutionäre Geschichte mit – und mit ihr entsprechende Antriebe im Hintergrund, die integriert werden müssen mit, was unser Neokortex beziehungsweise unser Stirnhirn kann. Das ist nicht immer ganz einfach, und genau da setzt Bildung an. Wenn ich die Bildung dieses biologischen Instruments vernachlässige, bekomme ich all jene Probleme, die wir heute sehen: von Fremdenfeindlichkeit über pure Ignoranz bis zur Blasenbildung. Ich kann all das Potenzial, das ich mitbekommen habe, nur abrufen, wenn ich auf entsprechende Bildung im Rahmen aufklärerischen Denkens setze. Gerl-Falkovitz: Auf evolutionärem Gebiet bin ich dem Kollegen natürlich nicht gewachsen, aber hier ein philosophischer Kommentar zur Entstehung des menschlichen Gehirns: Zu wissen, wie sich etwas entwickelt hat, setzt den Geltungsanspruch noch nicht außer Kraft. Genese ist nicht Geltung. Es gibt einen Geltungsanspruch des Gedachten, zum Beispiel auf Wahrheit – das ist nicht identisch mit der Entstehung von Gedanken. Unsere Gedanken sind nicht dasselbe wie die Biochemie des Gehirns. Auch Kant beanspruchte, dass sich Denken aus sich selbst heraus als „ Zu wissen, wie sich etwas entwickelt hat, setzt den Geltungsanspruch nicht außer Kraft. “ Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz vernünftig ausweist – unabhängig davon, ob wir es entwicklungsbiologisch sichern können. Kotrschal: Ja klar! Und ich bin auch kein Biologe, der den Anspruch erheben würde, aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Gott oder sonst irgendwas in einer anderen Welt beweisen oder widerlegen zu wollen. Das wäre ein Kategorienfehler. Gerl-Falkovitz: Da muss ich Ihnen ein Kompliment machen: Sie sind weiter als manche Ihrer Kollegen! Dafür kann ich Ihnen mit Kant naturwissenschaftlich eine Freude machen: Er hat aufgezeigt, dass wir kausal denken müssen, indem er die Bedingungen der menschlichen Erkenntnis untersucht hat. Und die sind durch aktuelle Hirnforschung eher bestätigt als überholt. DIE FURCHE: Sie haben jetzt schon über die evolutionäre Entwicklung des Menschen gesprochen – die Transhumanisten wollen ihn nun mit Technik weiterentwickeln. Wie sehen Sie diese Bewegung? Gerl-Falkovitz: Vorausschicken würde ich gerne, dass wir Transhumanismus nicht mit Künstlicher Intelligenz verwechseln dürfen. KI ist ein Medium, das kontrolliert
DIE FURCHE · 19 8. Mai 2024 Philosophie/Religion 11 ZUR PERSON Kurt Kotrschal ist Professor in Ruhestand für Lebenswissenschaften am Department für Verhaltensbiologie der Universität Wien. Er leitete fast drei Jahrzehnte die Konrad Lorenz Forschungsstelle für Ethologie in Grünau im Almtal. Kotrschal forscht vor allem zur Mensch-Tier-Beziehung. in weit höherer Quantität. Und alle Religionen regulieren Sexualität, sogar sehr streng; siehe heutige Migrationskulturen. Weil Sex eine aufbauende und eine zerstörende Macht ist. Der Mensch unterscheidet sich insofern von der instinkthaften tierischen Sexualität, als sie zum menschlichen Begehren wird. Und zwar ist es nicht nur ein triebhaftes Haben-Wollen, sondern auch ein Begehrt-werden-Wollen, ein Wunsch nach freiwilligem Echo des anderen. Ein zweiter Unterschied: Beim Menschen werden Lust, Liebe und Leben zusammengeführt zu einem deutlichen sittlichen Empfinden. Die Sittengesetze – wiederum bei Kant – sind vernünftig und zeugen von Freiheit. Sie zugunsten nur meiner eigenen Lust zu durchbrechen, ist das Ende der Freiheit (der meinen und vor allem der des anderen). Dann wird Sex zerstörend. Kotrschal: Der Mensch hat viel komplexere soziale Bedürfnisse: Babys, die im ersten Lebensjahr nur satt, sauber und trocken gehalten werden, ohne Rücksicht auf ihre sozialen Bedürfnisse, werden lebensholbar eine göttliche Signatur. Sie geht über das biografische Ich hinaus: Auch wer sich selbst verachtet, etwa ein Verbrecher, hat Würde. Wir verfügen nicht über sie. Mit Kant kann man sagen: Freiheit und Vernunft sind Ausdruck der Würde des Menschen – aber sie begründen sie nicht. Sie ist immer da, a priori, durch sein Dasein. Kotrschal: Mit der Würde des Menschen kann ich zwar als Biologe nicht viel anfangen, aber als Mensch natürlich schon. Dass sie unzerstörbar ist, würde ich nicht sagen. eingesetzt werden kann. Transhumanismus ist eine messianische pseudoreligiöse Heilsbotschaft, eine Ideologie. Transhumanismus versucht, die menschliche Leidensfähigkeit, die Zerbrechlichkeit, Fehlbarkeit und sogar die Schuldfähigkeit zu unterlaufen. Und zwar nicht durch klassische Selbstbefragung und Beschäftigung mit der eigenen Verantwortlichkeit, sondern durch den Einbau von Chips und digitaler Medien in den Körper. Das führt zu einer technischen Beherrschung der Leiblichkeit. So wird persönliche, kantianisch gesprochen: freiheitliche, Verantwortung durch Technik ersetzt. Habermas, als heutiger Ausleger Kants, hat gesagt: Ich unterwerfe damit meine Freiheit einem technischen Medium. DIE FURCHE: Worin liegt überhaupt der Reiz am Transhumanismus? Gerl-Falkovitz: Der Mensch ist ein überkomplexes Wesen. Er versucht, seine Überkomplexität so zurückzunehmen, dass er sie einfacher „handhaben“ kann. Und da nimmt er in Kauf, dass digitale Medien ihn handhaben. Die finale Vision des Transhumanismus ist die Auslagerung meines Gehirninhalts auf einen externen Datenträger. Das ist besonders blödsinnig – wer wird diesen Datenträger überhaupt abfragen? Meine Enkel sicher nicht! Was soll diese Form der Unsterblichkeit bedeuten? Ich existiere zwar nicht mehr, aber mein Gehirninhalt ist noch abfragbar. Das läuft völlig leer. Kotrschal: Da kann ich nicht widersprechen. Ich sehe einen genetischen, einen evolutionären und einen technischen Transhumanismus – alle haben gemeinsam, Utopie-Ideologien und Eskapismus zu sein. Mit der Genschere Crispr/Cas9 kann man Gene einfügen, wo man will. Alle Genetiker beteuern, das werde nie bei Menschen eingesetzt werden. Da bin ich profund skeptisch. Was gemacht werden kann, wird gemacht werden. Wir befinden uns auf dem Weg nicht nur in eine Supermedizin, sondern auch in eine genetische Elitenbildung. DIE FURCHE: Um die medizinische Anpassung des Körpers geht es auch beim heftig umstrittenen Thema Gender-Identität. Sie haben hier beide durchaus prononcierte Haltungen. Wie ordnen Sie das ein? Gerl-Falkovitz: Zum einen gibt es bestimmte Anomalitäten bei sehr wenigen „ Beim Menschen werden Lust, Liebe und Leben zusammengeführt zu einem deutlichen sittlichen Empfinden. “ Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Neugeborenen, die entsprechend behandelt werden können. Da bewegen wir uns im Bereich von 0,0x Prozent der Geburten. Das andere ist die Gendertheorie. Kant würde sagen, dass der menschliche Geist immer Fragen aufwirft, vor allem im Selbstverstehen. Durch die Freiheit kann ich mich so gestalten, dass ich in Übereinstimmung komme mit mir selbst, dass also Geist und Körper zusammenstimmen. Kant würde aber wohl nicht verstehen, wie eine innere seelische Nicht-Identität, eine Dysphorie, operativ oder hormonell behandelt werden kann. Durch Medikamente eine innere Diskrepanz zu bearbeiten, wäre ihm zu technisch gedacht (abgesehen von tatsächlich medizinisch notwendigen Eingriffen, siehe oben). Das bringt uns zu einem Schlüsselbegriff Kants: Freiheit heißt: tun, was ich tun soll. Der Mensch hat sich selbst in der Hand, aber im Sinn einer Zustimmung zu sich selbst, auch zu seinem Geschlecht. Darauf beruht Freiheit. Mein Selbst durch Eingriffe von außen korrigieren zu wollen – das würde Kant wohl als zu „zwecklich“ gegenüber dem eigenen Körper sehen. Kotrschal: Das ist wieder ein Minenfeld. Als Biologe würde ich sagen, es gibt zwei Geschlechter. Bei Transgender-Personen, die das klare Gefühl haben, im falschen Körper geboren zu sein, sehe ich aber nicht, warum Hormone und Operationen nicht auch dazu beitragen sollen, dass ich der werde, der ich sein will. Das biologische Faktum, dass es zwei Geschlechter gibt, bedeutet ja nicht, dass Menschen auf diese zwei Geschlechter determiniert sind. Ich würde als Biologe nicht vom Sein auf das Sollen schließen wollen – das wäre ziemlich gefährlich. DIE FURCHE: Kommen wir von der Genderdebatte zur Sexualität: Sie ist eine anima- Foto: Privat lische Kraft, die Menschen oft das tun lassen, was sie nicht sollen. Zum Beispiel auch bei Missbrauchsfällen – nicht zuletzt in der katholischen Kirche, die das Thema Sexualität jahrhundertelang negativ beziehungsweise repressiv behandelt hat. Was ist der Mensch hier? Und worin unterscheidet er sich da vom Tier? Gerl-Falkovitz: Wieso die katholische Kirche? Missbrauch geschieht allenthalben, Foto: Privat lang emotional verkrüppelt sein oder sterben. So radikal sozial ist kein anderes Tier. DIE FURCHE: Kommen wir am Schluss noch zu einer vielfach gestellten Grundsatzfrage: Worin besteht die Menschenwürde – auch in Abgrenzung zur Würde von Tieren? Gerl-Falkovitz: „Menschenwürde“ ist ein christlicher Begriff; Leo der Große prägt ihn schon im sechsten Jahrhundert. Sie beruht auf dem menschlichen „Ebenbild“ im Blick auf Gott. Auch gibt es eine Würde des Geschaffenen, so bei Tieren und Pflanzen. Aber die Würde des Menschen ist unüber „ Wir befinden uns auf dem Weg nicht nur in eine Supermedizin, sondern auch in eine genetische Elitenbildung. “ Lesen Sie dazu „Missbrauch in der evangelischen Kirche: Ein böses Erwachen“ (11.2.24) von Ulrich H. J. Körtner auf furche.at. Sie ist ein soziales Konstrukt, mit dem wir uns versichern, dass wir einander ordentlich behandeln. Menschenwürde und Menschenrechte sind zwar zwei verschiedene Begriffe, aber ich würde massiv widersprechen, wenn bestimmte Parteien oder Staaten in letzter Zeit behaupten, Menschenrechte seien abhängig von der jeweiligen Kultur. Wir sind in unserer Natur und unseren Grundbedürfnissen nicht verschieden – egal ob wir in Papua-Neuguinea, China oder Österreich leben. Was Tiere betrifft: Ich würde den Würdebegriff nicht unterscheiden bei Menschen und anderen Tieren. Und ich würde ihn an die Existenz der Lebewesen knüpfen, nicht an irgendwelche Eigenschaften. Ich sehe das in der Tierschutzbewegung kritisch, dass Tiere nur als schützenswert gesehen werden, wenn sie leidensfähig, gescheit oder hübsch sind. Menschenwürde und die Würde des Lebendigen sind wahnsinnig wichtig. Ich hoffe, sie setzen sich in Zukunft stärker durch, als es im Moment der Fall ist. ZUR PERSON Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Kurt Kotrschal ist emeritierte Professorin für Religionsphilosophie an der TU Dresden. Sie leitet seit 2011 das Europäische Institut für Philosophie und Religion an der Hochschule Heiligenkreuz. Gerl-Falkovitz forscht unter anderem zur Phänomenologie und zur Anthropologie der Geschlechter.
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