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DIE FURCHE 08.02.2024

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DIE FURCHE · 6 8 Gesellschaft 8. Februar 2024 Von Jan Opielka Artur scheint innerlich zu brennen. Der 30-Jährige sitzt seit sieben Jahren im Gefängnis der ostpolnischen Stadt Lublin ein. Und seit fast viereinhalb Jahren studiert er hier, in der Haftanstalt, Familienwissenschaften mit der Spezialisierung „Animateur lokaler Gemeinschaften“. Angeboten wird das Studium von der Katholischen Hochschule Lublin (KUL), die in kirchlicher Trägerschaft ist. Mit der KUL-Studentin Weronika bespricht Artur gerade einen wissenschaftlichen Artikel, der auf Basis seiner jüngst fertiggestellten Magisterarbeit entsteht und in einer Fachzeitschrift für das Strafvollzugwesen erscheinen soll. „Der Kontakt mit dem Lehrpersonal, mit Menschen außerhalb des Gefängnisses, bewirkt, dass ich mich entwickeln kann – und auch will“, sagt er anschließend. „Die Inhalte des Studiums haben mich bereichert, ich habe Mechanismen kennengelernt, wie Beziehungen entstehen – und auch, warum ich selbst straffällig wurde.“ Die Motivation für ein Studium in der Haft? „Ich wollte die Jahre hier nicht vergeuden“, sagt Artur. Einzigartiger Ansatz An der KUL, die den 2005 verstorbenen polnischen Papst Johannes Paul II. als Patron im Namen trägt, ist das Straftäterprojekt bereits 2013 angelaufen – seinerzeit mit dem Studium der Sozialarbeit, Spezialisierung: Streetworking. Ende 2022 wurde das Projekt dann als „Studienzentrum für Häftlinge“ in der Strafanstalt der Stadt institutionalisiert – als wohl einziges seiner Art in der EU (siehe Kasten). Der Staat schoss Mittel zum Ausbau der Räume und der Lerninfrastruktur zu, ansonsten erhält die KUL für die derzeit etwa 50 Straftäterstudenten nicht mehr als die übliche staatliche Kopfpauschale, die ihr auch bei ihren übrigen 8000 Studierenden zusteht. Das Konzept ist durchaus innovativ: Strafgefangene aus ganz Polen können sich für den Studiengang „Familienwissenschaften“ bewerben. Dieses Fach wurde zuvor bei einer KUL-Umfrage unter Häftlingen in ganz Polen am häufigsten genannt. Wird ein Studienplatz zugebilligt – aus organisatorischen Gründen sind bislang nur Männer zugelassen –, so werden die Strafgefangenen in die Haftanstalt nach Lublin verlegt. In den ersten Jahren ab 2013 konnte ein Teil der Straftäter seine Studien teilweise im Rahmen von Freigängen an der Uni selbst absolvieren. Doch inzwischen lehrt das KUL-Personal nur noch in der Strafanstalt selbst. Grund für die Einschränkung war ein landesweit diskutierter Vorfall vor einigen Jahren, bei dem Fotos: Jan Opielka In Polen, das sich im Umbruch befindet, gilt der Strafvollzug als restriktivster in der gesamten EU. Doch eine katholische Universität im ostpolnischen Lublin bietet den Häftlingen bereits seit Jahren die Möglichkeit des Studiums. Besuch eines singulären Projekts. Dem Gefängnis im Innern entkommen ein Freigänger einer anderen Strafanstalt einen zweifachen Mord beging. An diesem Mittwochvormittag steht in der Strafanstalt die Vorbereitung der Forschungen für die Magisterarbeiten an. Acht Studierende des vierten und fünften Studienjahres sitzen in einem kleinen „ Das Studium hat mich bereichert. Ich habe Mechanismen kennengelernt, wie Beziehungen entstehen – und auch, warum ich selbst straffällig wurde. “ Artur Eingesperrt frei werden Hinter diesen Gefängnismauern in Lublin versucht man Neues. Die Aufschrift lautet: „Freiheit ist ein Zustand des Geistes.“ Saal in den Kellerräumen. „Auf der Basis der von ihnen erstellten Statistiken analysieren sie dieselbe Gruppe“, erklärt Iwona Niewiadomska, die als Psychologieprofessorin der KUL die studierenden Straftäter betreut. Unter dem Arbeitstitel „Quellen des Gefühls eigener Wirkungsmacht“ sollen sie herausfinden, welche Motivationen Strafgefangene leiten. Dazu haben sie innerhalb der Lubliner Anstalt mit ihren 950 Insassen Umfragen gemacht. Die Studierenden, alle im Alter zwischen 25 und 45 Jahren, stellen unverblümt Fragen, haken bei statistischen Details nach, schäkern mit der Leiterin und Uni-Rektor Mirosław Kalinowski – und diese mit ihnen. Kurz: Sie verhalten sich wie normale Studierende. „Was denken Sie über die Dilemmata der Abschlusskandidaten?“, fragt Niewiadomska einen der Siebtsemestler. „Wenn sie keine Dilemmata hätten, hieße es, dass 13. SYMPOSION DÜRNSTEIN 14.–16. MÄRZ 2024 Stift Dürnstein Dürnstein 1 3601 Dürnstein WAS WERDEN WIR MORGEN ESSEN? FRAGEN ZUR ZUKUNFT DER ERNÄHRUNG Tickets: www.symposionduernstein.at/tickets Veranstaltende: in Kooperation mit: symposionduernstein.at Anzeige

DIE FURCHE · 6 8. Februar 2024 Gesellschaft 9 KUL-Rektor Mirosław Kalinowski (links) und Psychologin Iwona Niewiadomska im Gespräch mit den inhaftierten Studierenden. sie nicht ordentlich arbeiten.“ Lautes Lachen. Dann geht die Diskussion weiter. Nach dem Seminar, in Abwesenheit der Lehrenden, reden sie noch anderen Klartext. Das Studium sei eine gute Sache, „um dem Gefängnis, das in unserem Innern ist, zu entkommen“, wie Student Adrian sagt. Für Piotr war eine der ursprünglichen Motivationen zur Aufnahme des Studiums aber auch das Versprechen der Gefängnisleitung, mit dem Abschluss würden die Chancen erhöht, vorzeitig aus der Haft zu kommen. „Als wir erfuhren, dass das nicht der Fall ist, hatten wir ein Tief. Ich wollte aufhören, habe mich aber aufgerafft und bin dann erst richtig eingestiegen.“ In seinem Fall habe ein Gericht den Antrag auf frühere Entlassung nach sieben von acht Strafjahren mit dem Hinweis abgewiesen, er habe das Studium nur wegen dieser Aussicht aufgenommen. Seit einigen Jahren arbeitet er außerhalb des Gefängnisses. „Ich hatte nur meine innere Motivation, es ist der Wille, sich zu entwickeln. Dabei hilft, dass die Lehrenden der KUL sehr engagiert sind.“ Lernen für die psychische Gesundheit Student Karol indes hofft, mit einem Magistertitel in der Tasche bessere Chancen zu haben, in der Freiheit wieder Fuß zu fassen. „Außerdem macht es schon jetzt einen Unterschied, denn anstatt in der Zelle Däumchen zu drehen – das tat ich das erste Jahr in der Haft –, lerne ich hier sinnvolle Dinge, und die Zeit ist strukturiert. Ich verbringe vier oder fünf Tage die Woche jeweils mehrere Stunden in den Seminaren und arbeite dann in der Zelle an den Materialien. Das Studium ist auch für meine psychische Gesundheit ein riesiges Plus.“ Für Student Darek ist die Studienrichtung zwar in Ordnung. Aber er kenne auch Häftlinge, die sich etwa technische Fächer wünschen würden. Denn als Sozialarbeiter oder als Begleiter von Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, wird für viele nur eingeschränkt möglich sein. Staatliche Institutionen können laut Gesetz Vorbestrafte mit bestimmten Tathintergründen nicht beschäftigen; private und kirchliche Träger sowie Vereine oder Stiftungen können das aber schon. „Ich weiß, dass ich bei einer Einrichtung der Caritas, die Obdachlosen hilft, und in zwei privaten Organisationen als Assistent von behinderten Menschen arbeiten könnte. Käme ich heute raus, würde ich dort anfangen können“, sagt Robert. Er würde es auch gerne tun. Die anderen Männer indes sehen auch andere Türen, die das Studium öffne und wo ein Hochschulabschluss als solcher Voraussetzung sei. „Wir lernen durch das Studium, effektiv zu arbeiten und mit Problemen klarzukommen“, sagt Darek. DIE FURCHE fragt die Studierenden, was sie noch selbst sagen wollen, damit es „draußen“ gehört wird. Karol antwortet sofort: „Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen bewusst wird, wie notwendig wirkliche Resozialisierung ist.“ Damit die Häftlinge nach ihrer Freilassung nicht wieder im Gefängnis landen, sollten sie zuvor eine „Angel“ bekommen, etwa die Möglichkeit zum Lernen und Studium. „Jeder da draußen sollte sich überlegen, ob er jemanden zum Nachbarn haben will, der voll Wut und Hass aus dem Gefängnis kommt, weil er wie ein Hund im Käfig saß, oder als jemand mit Ideen und Plänen.“ Robert setzt nach: Es gehe zunächst einmal um die Einstellung der Haftleitung und der Gerichte. „Wir werden nicht unter dem Maßstab der Resozialisierung behandelt, und vom Staat bekommen wir keine Unterstützung – das wurde in den letzten acht Jahren nur schlimmer“, sagt er. „Ich will nicht wissen, was du getan hast“ „ Jeder da draußen sollte sich überlegen, ob er jemanden zum Nachbarn haben will, der im Gefängnis wie ein Hund im Käfig saß – oder als jemand mit Ideen und Plänen. “ Karol Dass in diesem Text nicht erwähnt wird, wofür die Häftlinge einsitzen, ist kein Zufall. Es folgt – freiwillig – der Linie der KUL- Verantwortlichen, die bewusst nicht wissen wollen, wofür die studierenden Straftäter ihre Strafen verbüßen. Ist das christlich inspiriert? Uni-Präsident Mirosław Kalinowski sagt: „Wir behandeln die Straftäter wie Subjekte, nicht wie Objekte eines Feldversuchs. Sie haben ebenso Würde, verdienen Respekt, der Wert ihres Lebens als Menschen und Bürger ist für uns elementar.“ Auch in seinem Umgang mit den Studierenden wird deutlich: Sie werden im Licht ihres Hier und Morgen gesehen, nicht in der Dunkelheit ihres Gestern. „Unsere Hochschule arbeitet und lehrt auf HINTERGRUND Grundlage christlicher Werte, des Evangeliums und den Lehren der Kirche“, sagt der Theologe. Der katholische Glaube sei jedoch kein Aufnahmekriterium, heißt es: Auch unter den Straftätern gebe es Studierende, die ein anderes Wertesystem hätten. Anderen und sich selbst helfen Harter Strafvollzug in Polen „ Mit jedem bestandenen Examen wuchs das Gefühl, dass ich nicht dazu verdammt bin, in dieser Gesellschaft ganz unten zu sein, sondern etwas Gutes tun kann. “ Paweł Baran Das 2013 gestartete Projekt firmierte seinerzeit unter dem Namen „Neue Sozialisierung“, das wohl an die „Neue Evangelisierung“ erinnern sollte, die Johannes Paul II. (Karol Wojtyła) anstoßen wollte. Zumindest auf einige der Studierenden hatte dies auch Einfluss. Der 53-jährige Paweł Baran etwa absolvierte 2013 bis 2016 das Studium der Sozialarbeit und Streetworking. Anfang 2023 kam er in Freiheit – nach 25 Jahren Haft – und lebt heute in Krakau. „Ich habe in der Haft nicht einmal davon geträumt, zu studieren. Das war für mich so wie für andere eine Reise in den Weltraum“, sagt er im Gespräch. „Mit jedem Unter „Das ideologische Erdbeben“ (17.1.24) finden Sie auf furche.at auch eine politische Analyse von Jan Opielka über die Lage in Polen. Das KUL-Studienzentrum wirkt vor dem Hintergrund der Situation im ganzen Land wie eine einsame Insel des Möglichen. Seit Jahrzehnten gilt das Strafvollzugswesen in Polen als eines der restriktivsten in der EU. 2023 saßen rund 74.000 Männer und Frauen in Polens Gefängnissen ein – die Gefangenenrate, also die Zahl der Strafgefangenen je 100.000 Einwohner, liegt deutlich über dem EU-Schnitt und ist fast doppelt so hoch wie in Österreich (2023 gab es hier rund 9000 Strafgefangene). Auch die Rückfallquote ist sehr hoch: Von den rund 37.000 neuen Strafgefangenen im Jahr 2022 waren rund 60 Prozent Wiederholungstäter, in Österreich sind es knapp 50 Prozent. Von den 18 Straftäterstudenten des ersten Jahrgangs des KUL-Projekts, die inzwischen alle die Haft verließen, wurden nur zwei rückfällig. 2015 bis 2023 wurden in Polen die Haftbedingungen unter der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) abermals verschärft: Die Mittel für Essensrationen – knapp ein Euro pro Tag und Insasse – wurden seit acht Jahren nicht erhöht. Medizinisches Personal wird stetig reduziert. In einigen Anstalten gibt es Zellen für 15 und mehr Insassen, die rechtlich geregelte Mindestfläche von drei Quadratmetern je Insassen – in der EU sind es im Schnitt sieben – ist Standard. Verschärfte Regeln bei Besuchen und Freigängen, wenige positive Impulse – auch KUL-Professorin Iwona Niewiadomska sagt: „In dieser Frage hat sich seit 1945 nicht viel verändert.“ (jo) bestandenen Examen, mit jeder positiven Bewertung wuchs das Gefühl, dass ich nicht dazu verdammt bin, in dieser Gesellschaft ganz unten zu sein, sondern etwas Gutes tun kann.“ Nach dem Bachelorabschluss setzte er in einer anderen Haftanstalt noch eine Lehre als Techniker/Elektriker drauf, denn mit seiner Vergangenheit sah er für sich keine Zukunft als Streetworker. Gleichwohl: Ohne Studium hätte es für ihn düster ausgesehen, sagt er. „Das Studium, in dem wir lernten, wie man anderen hilft, zeigte mir, wie ich mir selbst helfen kann.“ Nach der Freilassung ging er für drei Monate in eine Obdachlosenunterkunft, machte sich alsbald als Elektriker selbstständig und beschaffte sich eine eigene Wohnung. Er lernte eine Frau kennen und heiratete, die beiden werden im Juni Eltern. Seine Erfahrungen vermittelt Baran bei Besuchen in Gefängnissen des Landes. „Ich zeige den Häftlingen, dass man normal leben kann.“ Baran hat in der Haft auch seinen Glauben gefunden, wie er sagt, inzwischen schreibt er auch Gedichte – und hat ein „Zeugnis“ veröffentlicht. „Ich will, dass die Menschen wissen, mit wem sie es zu tun haben, und auch, dass Jesus mich verändert hat.“ Ein ganz normales Leben Barans Werdegang ist freilich nicht typisch für die Absolventen: Niewiadomska berichtet auch von einem Ex-Studenten, der als Streetworker arbeitet, einem anderen, der Koch sei, und noch weiteren, die im Ausland arbeiteten. Alle nicht besonders fromm. Dennoch werden kirchliche Traditionen auch in der Haftanstalt in Lublin gepflegt. Ende Jänner führten die Studierenden ein Krippenspiel auf. Der 30-jährige Artur, der nach Studium und Entlassung mit dem Beruf als Psychotherapeut liebäugelt, spielte Gitarre, sang und sprach die Grußworte. Nach der Aufführung saß man zusammen, einer der Studierenden flirtete mit einer Freiwilligen eines Lubliner Kulturzentrums. Und sie flirtete zurück. „In der Zeit, als die Studierenden auch an der Uni lernten, sind dort auch Ehen entstanden“, sagt Niewiadomska. Ein ganz normales Leben eben. Oder, wie es einer der Studierenden einmal vor Jahren formulierte: „Wir sitzen unsere Strafen ab. Doch wir haben auch das Recht, glücklich zu sein.“ VORSORGE & BESTATTUNG 11 x in Wien Vertrauen im Leben, Vertrauen beim Abschied 01 361 5000 www.bestattung-himmelblau.at wien@bestattung-himmelblau.at

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