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DIE FURCHE 08.02.2024

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DIE FURCHE · 6 14 Literatur 8. Februar 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 Nach Bernhards Tod überschwemmen buchstäblich Stücke, szenische Aufbereitungen von Prosatexten und Interviews die französischen Bühnen. Ein Zeitungsartikel trägt den Titel „Akute Bernharditis“ (La Croix), als 1990/91 in ganz Frankreich zwanzig verschiedene Inszenierungen präsentiert werden. Darüber hinaus gibt es immer mehr französische Autoren, die sich auf Bernhard berufen, sich von seinen Texten inspirieren lassen, wie zum Beispiel Hervé Guibert mit seinem Roman „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ („A l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie“, 1990, deutsch 2021). Das „Bernhard-Waldheim-Syndrom“ beruhigt sich Mitte der 1990er Jahre, Bernhard wird von nun an unter die modernen Klassiker eingereiht. Einerseits werden zunehmend Humor, Ironie und Groteskes in seinem Werk entdeckt, andererseits warnt man vor einer zu engen Lesart und unterstreicht die Universalität Bernhards: „Tatsächlich ist der Roman eindeutig im Wiener Milieu verankert, und es ist immer angenehmer, wenn man einen Bericht von einer auf fremdem Boden vollzogenen Hinrichtung liest oder wenn sich die bissige Ironie an Wien und nicht an Paris auslässt. Dieser Umstand spielt in Frankreich eine nicht unwesentliche Rolle bei Bernhards Erfolg, der dann allerdings auf einem gewaltigen Missverständnis beruhen würde: nämlich auf dem Gedanken, man bleibe selber verschont“ (zu „Holzfällen“ in Le Monde, 6.2.1998). Ungebrochene Begeisterung Aktuell sind beim renommierten Verlag Gallimard, der Bernhards Prosa seit 1967 verlegt, 47 Texte von und über Thomas Bernhard erhältlich. Sein Theaterverlag L’Arche hat in den letzten 15 Jahren ungefähr 300 Mal Aufführungsrechte für Bernhard-Inszenierungen vergeben. „Heldenplatz“ hat sogar in das Repertoire der Comédie Française Eingang gefunden. Die Tendenz, neben den Stücken auch Prosatexte für das Theater zu adaptieren, hält an, wie auch die aktuellen auf Prosatexten basierenden Inszenierungen – „Ils nous ont oubliés“ („Kalkwerk“) und „Sentinelles“ („Der Untergeher“) – in Paris zeigen. Die Begeisterung für Thomas Bernhard in Frankreich scheint ungebrochen, wobei man meines Erachtens mit seinen Texten weit unverblümter, „respektloser“ umgeht als im deutschen Sprachraum: Dies ergibt neben großartigen Inszenierungen (zum Beispiel von Krystian Lupa und Alain Françon) neue und interessante Zugänge zu Bernhards Werk, aber auch Fehlinterpretationen, die ein „Scheitern“ an Bernhards Texten – und damit ein genuin Bernhard’sches Motiv – vor Augen führen. Die Autorin ist Germanistin und lebt in Frankreich. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Bernhard und zur Rezeption der österreichischen Literatur in Frankreich. Foto: Getty Images / Gamma-Keystone / Keystone-France Von Rainer Moritz Als der knapp siebzigjährige Ivo Andrić 1961 den Nobelpreis für Literatur erhielt, galt diese Auszeichnung vor allem seiner 1945 erschienenen „Bosnischen Trilogie“. Während deren beiden erste Teile „Die Brücke über die Drina“ und „Wesire und Konsuln“ hohe Anerkennung fanden und bis heute populär geblieben sind, tat man sich mit dem Abschlussband „Das Fräulein“ oft schwer. Selbst der Stockholmer Laudator Anders Österling äußerte ihm gegenüber Zurückhaltung und merkte an, dass sich Andrić einem Thema gewidmet habe, das es ihm nicht erlaube, seine großen erzählerischen Gaben in Gänze zu zeigen. Ob diese reservierte Wertschätzung berechtigt ist, lässt sich nun an einer Neuausgabe des „Fräuleins“ überprüfen, die Edmund Schneeweis’ vielfach nachgedruckte Übersetzung von 1958 in revidierter Form vorlegt. Der (1979 von Vojtěch Jasný verfilmte) Roman erzählt die Geschichte der Rajka Radaković, des „Fräuleins“, die 1935 mit Ende vierzig an Herzversagen stirbt, als sie meint, ein Einbrecher mache sich in ihrem Belgrader Häuschen zu schaffen. Mit ihrem Tod setzt der Text ein und führt in einer raffinierten Kreisstruktur auf den letzten Seiten zur Auftaktszene zurück. Eingebettet in diesen Rahmen ist Rajkas – traurige – Lebensgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Sarajevo ihre entscheidende Zäsur erfährt. 1903 bricht für das „ Es gehört erzählerischer Mut dazu, ein derart unsympathisches, asexuelles ‚Fräulein‘ in das Zentrum eines Romans zu rücken. “ fünfzehnjährige Mädchen die Welt zusammen, als ihr „großer und mächtiger“ Vater, ein einst erfolgreicher Kaufmann, Bankrott anmelden muss und kurz darauf stirbt. Dass man das dem von ihr idolisierten Mann antun konnte, prägt ihr Leben fortan. Es geht für sie nur noch darum, den „Ruin ihres Vaters zu rächen und zu vergelten“ und seine letzten Ratschläge zu beherzigen: um jeden Preis seinen Besitz zusammenzuhalten und an allen Ecken und Enden zu sparen. Das Mädchen, das sich bald für volljährig erklären lässt, verfolgt diesen Weg rigoros. Der Sparwille schlägt in einen gnadenlosen Geiz um, der auch vor der eigenen Mutter nicht haltmacht. Rajka klammert sich nicht nur an ihr Geld; sie lässt es für sich arbeiten und kommt in den Ruf eines „Wucherfräuleins“. Konsequent ist sie auf ihr eigenes Wohl bedacht, Die Geizige verzichtet auf soziale Kontakte und ignoriert – etwa als sie selbst Bettlern unbarmherzig die Tür weist – alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Mit Rajka Radaković entwirft Ivo Andrić eine ungewöhnliche Verkörperung der Todsünde Geiz. Diese tritt in der Weltliteratur – von Shakespeares Shylock, Molières Harpagon über Dickens’ Ebenezer Scrooge bis zu Dagobert Duck – fast immer in männlicher Gestalt auf. Die hartherzige Rajka reiht sich nahtlos in diese Traditionslinie ein und verliert dabei alle weiblichen Attribute. Sie trägt Männerkleidung, legt auf Aussehen keinerlei Wert und wirkt schon in ihren mittleren Jahren wie eine „alte Jungfer“ – ein Fall, wie die Slawistin Andrea Zink schrieb, von „fehlgeschlagener Geschlechtlichkeit“. Es gehört erzählerischer Mut dazu, ein derart unsympathisches, asexuelles „Fräulein“ in das Zentrum eines Romans zu rücken, und an keiner Stelle will sich Mitleid einstellen, selbst als Rajkas Pläne nicht mehr aufgehen und sie auf einen Hochstapler hereinfällt. Ihre Absicht, sich ganz in ihrem eigenen Kosmos einzunisten, den „Traum von einer Million“ zu realisieren und „politischen Problemen“ aus dem Weg zu gehen, schlägt fehl, als Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wird und der Erste Weltkrieg ausbricht. Hilflos und wütend muss Rajka mit ansehen, wie die Stimmung umschlägt, man sie als Kriegsprofiteurin verachtet und sie schließlich nach Belgrad ausweichen muss. Welche Folgen das Attentat auf den Thronfolger hat, wie sich der Alltag in Sarajevo während des Krieges verändert und wie dann das Ende der Habsburgermonarchie gefeiert wird, schildert Ivo Andrić auf großartige, packende Weise. Die Konsequenzen, die all das für Rajka hat, sind eindeutig: Das Lebens projekt Ivo Andrić 1961 erhielt der Literat (1892‒1975) den Nobelpreis für Literatur. In seinem Werk befasste er sich vor allem mit dem bosnischen Leben und seiner Geschichte. Ein zeitgenössisches Porträt zum frisch gekürten Nobelpreisträger vom 21.12.1961 finden Sie unter „Ivo Andrić. Ein Mann aus dem größeren Reich“ auf furche.at. 1945 erschien „Das Fräulein“ als dritter Teil der Romanreihe „Bosnische Trilogie“. Der Autor Ivo Andrić schuf damit eine ungewöhnliche Verkörperung übertriebener Sparsamkeit. der raffgierigen, herzlosen Frau ist gescheitert. Sie fühlt sich umstellt von „Lug und Trug“ und verraten: „In dieser Welt gibt es keinen Schutz und Schirm.“ Zur Millionärin wird es Rajka in Belgrad nicht bringen, doch all ihre Hingabe und Liebe gilt weiterhin den Münzen und Scheinen, die sie in ihrem Haus hortet, abgeschottet von Gott und der Welt und immer in der Furcht, ihre Habe zu verlieren – bis zu ihrem einsamen, von niemandem betrauerten Tod. Unabhängigkeit des Einzelnen als Schimäre „Das Fräulein“ unterscheidet sich stark von den anderen Bänden der „Bosnischen Trilogie“. Während diese ein sich über Jahrhunderte erstreckendes historisches Panorama ausbreiten und sich in ihrer Stimmenvielfalt nicht auf einzelne Protagonisten konzentrieren, ist „Das Fräulein“ ganz anders gestrickt. Andrić nähert sich seiner Erzählgegenwart an und zeichnet darin das scharf konturierte Porträt einer unglücklichen Frau, die keinen Ausweg aus dem Gefängnis ihrer Obsessionen findet und einsehen muss, dass die Unabhängigkeit des Einzelnen eine Schimäre ist. Es ist ein Glück, dass dieser feine, an die psychologisch ausgefeilten Novellen Guy de Maupassants erinnernde Roman nun wieder zugänglich ist – in einer schön aufgemachten Ausgabe, versehen mit einem Nachwort des Andrić-Biografen Michael Martens, der schlüssig die oft gestellte Frage beantwortet, wie es um den Geiz des Autors Andrić beschaffen war. Das Fräulein Roman von Ivo Andrić Übersetzt von Edmund Schneeweis, überarbeitet v. Katharina Wolf-Grießhaber Mit einem Nachwort von Michael Martens Zsolnay 2023 272 S., geb., € 28,80

DIE FURCHE · 6 8. Februar 2024 Literatur 15 In ihrem neuen Werk „Betrug“ entwickelt die britische Autorin Zadie Smith mit viel Geschick eine Geschichte im Stil des viktorianischen Gesellschaftsromans. Anhand einer stark verästelten Handlung und vieler Dialoge zeigt sie ein Sittenbild einer tief verunsicherten Gesellschaft. Verführungsmacht Lüge Von Oliver vom Hove Vor anderthalb Jahrhunderten hielt ganz Großbritannien der Fall eines jungen Adligen in Atem, der lange auf See verschollen war und plötzlich in zweifelhafter Gestalt wieder in London aufzutauchen schien. Nicht wenige, darunter überraschenderweise die Mutter, glaubten dem Ankömmling. Der präsentierte sich befremdlich verändert: Statt eines gebildeten Gentlemans, der in Fremdsprachen parlierte, stand ein grobschlächtiger Metzger vor Gericht, der Cockney sprach und über seine Kindheit kaum etwas wusste. Zadie Smith , die vor mehr als zwanzig Jahren mit ihrem Debütroman „Zähne zeigen“ pfeilschnell berühmt wurde, ließ sich für das Kernthema ihres ersten historischen Romans von der wahren Geschichte des Hochstaplers Arthur Orton inspirieren, eines notorischen Lügenbolds und Massentäuschers, der sich um 1870 im vielzitierten Tichborne- Prozess als der seit zehn Jahren vermisste Erbe Sir Roger Tichborne ausgab und trotz seiner offensichtlichen Unähnlichkeit eine außerordentlich große Anhängerschaft um sich scharen konnte. Gehypter Massenbetrüger Die Zweifel an der anmaßenden Selbsterhebung des Betrügers lösten als Gegenreaktion eine regelrechte Massenhysterie aus, mit allen Anzeichen einer Revolte gegen die Übermacht des Faktischen. Ortons aufgebrachte Anhänger witterten ein Komplott des Gerichts, eine Verschwörung der Herrschenden und Hochwohlgeborenen gegen einen der Ihren, einen Plebejer aus den unteren Gesellschaftsschichten. Die Parole lautete „Wir gegen die anderen“. Sogar Geld wurde massenhaft gespendet, um Ortons Prozess zu finanzieren. Dieser nicht nur historisch bedeutungsvolle Volksaufstand wider alle Offensichtlichkeit wird in einem großen Bogen erzählt, mit viel Gespür für psychologische Feinzeichnung und passagenweise verteilter Spannung. Aber Zadie Smith will weit mehr. In „Betrug“ simuliert sie den viktorianischen Gesellschaftsroman. Sie führt die Familiengeschichte des längst vergessenen Schriftstellers William Ainsworth samt seiner schottischen Haushälterin und Geliebten Eliza Touchet ein und erweitert so die Perspektive auf die selbstgefällige englische Herrschaftsschicht, die ihr Wohlergehen maßgeblich dem Kolonialbesitz in Übersee verdankte. „ Zadie Smith ließ sich für das Kernthema ihres ersten historischen Romans von der wahren Geschichte des Hochstaplers Arthur Orton inspirieren. “ Foto: IMAGO / Independent Photo Agency Int Zur Bedeutung von Essays und Zadie Smiths Essayband „Freiheiten“ lesen Sie die Rezension vom 27.6.2019 auf furche.at. Zadie Smith Ihr Debütroman „Zähne zeigen“ (2001) avancierte zu einem internationalen Bestseller und wurde mehrfach ausgezeichnet. 2018 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Vom viktorianischen Roman sind uns neben manch anderem die vielen Verästelungen der Handlung bekannt, ein Hin-und-her-Wogen des Geschehens. Dazu meist viel Romanpersonal. Mit all dem kann Zadie Smith ebenfalls aufwarten. Und auch mit reichlich vielen Dialogen. Sie werden vor allem bei den Empfängen in Ainsworths Salon geführt und bringen voll epischer List auch literarische Größen wie Charles Dickens, William Thacker ay oder den satirischen Zeichner George Cruik shank zusammen, nicht immer zu ihrem Vorteil. Über all dem thront als eine frühe Vertreterin selbstbewusster Emanzipation die durch Vernunft gestärkte Hausdame Eliza Touchet. Ihr gehört merklich die ganze Sympathie der Erzählerin. Sie lässt sie als skeptische Beobachterin nicht nur den Tich borne- Prozess verfolgen, sondern gewährt ihr auch manch erotische Eskapade mit Partnern beiderlei Geschlechts. Vor allem aber gerät Mrs. Touchet als überzeugte Gegnerin der Sklaverei mit dem aus Jamaika stammenden Kreolen Andrew Bogle ins Gespräch, der als ehemaliger Diener von Roger Tichborne als Hauptzeuge im Prozess für den Angeklagten Orton eintritt. Verwundert über seine Haltung, erhält sie von Bogle ausgiebig Einblick in die grausamen Erfahrungen von Misshandlung, Demütigung und blankem Rassismus, denen er und seine Vorfahren einst als Sklaven auf den Zuckerrohrfarmen der Tichbornes auf seiner Heimatinsel ausgesetzt waren. Unbelehrbarkeit trotz Beweisen Der Roman der 1975 als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Vaters in London geborenen Autorin entfaltet vor dem Leser das weit gefasste Sittenbild einer tief verunsicherten Gesellschaft voll modevernarrter Ansprüche und notorischer Geschichtsvergessenheit. In deren Zerrissenheit hatte sich die Verführungsmacht der Lüge gefährlich virulent eingenistet. Manches darin erkennen wir wie in einem Spiegel der Gegenwart wieder. Eine fehlende Tätowierung brachte übrigens 1874 vor dem Londoner Gericht letztlich die Wahrheit zweifelsfrei ans Licht. Arthur Orton, der nach dem Tod von Lady Tichborne Anspruch auf deren Erbe erhoben hatte, wurde zu vierzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb 1898, noch immer scharenweise betrauert von einer hartnäckigen Gemeinde von Unbelehrbaren. Betrug Roman von Zadie Smith Aus dem Engl. v. Tanja Handels Kiepenheuer & Witsch 2023 528 S., geb., € 26,80 GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Lyrische Fragilität und sprachtektonisches Bersten dinge/benennen/“, heißt es an einer Stelle im neuen Gedichtband „Kartenhausleben“ von Ines Oppitz. „wie/die Die prekäre, instabile und stets einsturzgefährdete Situation des Lebens ist damit schon im Titel postuliert und ausgewiesen und erinnert an einen Ausspruch des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard: „Der Zustand des Menschen ist zu jeder Zeit kritisch.“ Ines Oppitz’ Gedichte suchen das Fragile, das Zerbrechliche und Ungewöhnliche, und sie finden es beinahe überall. Da heißt es zum Beispiel: „widme mir/die lärche/die du/fällst“. Es sind 60 Gedichte in vier Kapiteln versammelt. Die Gedichte selbst sind größtenteils, mit wenigen Ausnahmen, in freien Versen verfasst, alle in Kleinschrift und beinahe ohne Interpunktion gesetzt. Meist stehen in einer Verszeile nicht mehr als ein bis drei Wörter. Oft sind es auch selbstreflexive Gedichte, die das Verhältnis von Mensch und Sprache in einer radikalen Reduktion und Einfachheit thematisieren, die gerade deshalb direkt und öffnend wirkt: „wieder/ein wort/erfinden// das eigene//und jenes/das mich/nicht/kennt“. Permutationen, Umstellungen und sprachspielerische Elemente führen zu poetisch philosophischer Leichtigkeit mit Tiefgang: „mich interessieren die dinge//nicht/das wort//sagte/das wort// und/schmiegte sich/an die dinge“. „Lauergrenze, Mensch!“ lautet der Titel des neuen Gedichtbandes von Petra Ganglbauer. Umweltzerstörung, Artensterben, Krieg, Gewalt und Sprachverrohung sind darin wesentliche Themen. Sie lösen Angst und Fluchtbewegungen aus, Schönheit, Trost und Hoffnung erodieren auf sprachgerodetem Untergrund. Die Natur als zentrales Motiv ist gleichzeitig konkrete Wirklichkeit und Reflexionsfolie für menschliches Versagen. 91 Kurzgedichte erzeugen in drei Kapiteln durch ihre präzisen wie schroffen Verdichtungen Extremtemperaturen. Da heißt es zum Beispiel: „Zerfleddertes Blattwerk, ab-/Gebrochene Gliedmaßen, verfehlte/Flügel verschorft am harten Gelb/Der vermeintlichen Sonne/Entzündet, …/“. Die Gedichte entwickeln ihre Atemlosigkeit durch fein gesetzte Alliterationen und sezieren Sprache und Verständnis unter anderem durch Zerteilung von Wörtern und Silben. Durch Kursivsetzen von Textstellen und häufige Parenthesen wird dieser Eindruck verstärkt. Nur vereinzelt sind Endreime zu finden. Die Schürfung der Natur bedeutet also auch die Schürfung der Sprache, vielleicht auch die Schürfung unserer Seelen. Diese schälende, splitternde Sprache schiebt sich ineinander wie tektonische Platten und ist so poetisch wie kritisch. „(Der Himmel, nur der Himmel/ Fällt nicht!)“, aber selbst das ist nicht sicher. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 15.2.2024) Lyrik vor. Kartenhausleben Gedichte von Ines Oppitz edition nikra 2022 74 S., kart., € 12,– Lauergrenze, Mensch! Gedichte von Petra Ganglbauer Limbus 2023 96 S., geb., € 15,–

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