DIE FURCHE · 498 International7. Dezember 2023Dimensionender ZerstörungDie Satellitenbilder (MaxarTechnologies) zeigen BeitHanoun, eine Stadt im nördlichenGazastreifen, am1. Mai 2023 (Aufnahme oben)und am 21. Oktober 2023(Aufnahme unten).Von Ralph JanikBesatzungsmacht, Selbstbestimmung,Selbstverteidigung,Recht bewaffneterKonflikte,Menschenrechte – dasinternationale Recht spielt imNahostkonflikt allgemein und beider militärischen Konfrontationzwischen Israel und der Hamas imBesonderen eine prägende Rolle.Das beginnt bereits beim Statusdes Gazastreifens: Formal gesehengehört er zu den Palästinensergebietenoder, für jene 138Länder, die ihn anerkannt haben,zum Staat Palästina. Faktischsteht der Gazastreifen allerdingsunter der Kontrolle der Hamas, die(Quasi-)Regierung Gesamt-Palästinasunter Mahmud Abbas hathier nichts zu melden.Die Hamas ist damit sowohl eineTerrorgruppe als auch lokalerMachthaber. Völkerrechtlichnennt man derartige, eher seltene,Konstellationen „Quasi-de-facto-Regime“. Damit bringt man einerseitsderen faktische Gebietskontrolle(im Inneren) und andererseitsMissbilligung (daherdas „Quasi“) zum Ausdruck. DieHamas wird damit von anderen,nichtterroristischen Machthabernohne breite oder jeglicheAnerkennung, etwa Taiwan oderSomaliland, abgegrenzt.Woher die Emotionalität rührtLesen Sie auchdas Essay desKriegsethikersPhilippGisbertz-Astolfi(29.11.2023):„Darf man zivileOpfer in Kaufnehmen?“ auffurche.at.Der Krieg zwischen Israel und der Hamas bringt die internationaleRechtsordnung an ihre Grenzen. Werden sämtliche juristischen Detailszur Gänze beachtet? Die Analyse eines Wiener Völkerrechtsexperten.Von der doppeltenVerhältnismäßigkeit„ Die Rolle der KI: Ziele werdenautomatisiert ausgewählt undfür den Abschuss empfohlen.Kritiker sprechen hier von einer‚Massentötungsmaschine‘. “Aufgrund dieses komplexenStatus lässt sich eine Frage nichtso eindeutig beantworten, wie esauf den ersten Blick scheint: IsraelsRecht auf Selbstverteidigung.Traditionell hatte man damitschließlich nur Angriffe von Staatenim Sinn – was, so viel stehtfest, bei der Hamas nicht der Fallist. Palästina als Staat hatte Israelnicht angegriffen.Derartige juristische Feinheitenmögen nach akademischemElfenbeinturm klingen. PureTheorie sind sie jedoch nicht, vielmehrliegt hier eine der Wurzelnfür die Emotionalität der aktuellenDebatte. Selbst die UNO-Sonderberichterstatterinzu denbesetzten palästinensischen Gebietensprach davon, dass Israelsich nicht auf das Selbstverteidigungsrechtberufen könne.Das auch, weil der Gazastreifenbesetzt sei. Völker, die unter„Fremdherrschaft“ stehen, habenschließlich ein Recht auf Gegenwehr(was allerdings keine Menschenrechtsverbrechenwie dieMassaker vom 7. Oktober rechtfertigt,nicht einmal ansatzweise).Bei den Palästinensern sogarauf einen eigenen Staat. DasSelbstverteidigungsrecht, so dieArgumentation, die vom InternationalenGerichtshof in einemRechtsgutachten zum Grenzzaunzur Westbank aus dem Jahr 2004vertreten wurde, steht wiederumnur gegen Angriffe „von außen“zu – also jenseits von besetztenGebieten.Das wird von Israel zwar vehementbestritten. Schließlich hatteman 2005, damals unter ArielScharon, das Gebiet geräumt,seitdem befanden sich keine dauerhaftstationierten Soldaten vorOrt. Normalerweise verlangenBesatzungen – etwa jene Russlandsvon Teilen der Ukraine inklusiveder Krim – effektive Gebietskontrolleim Inneren.UNO-Berichte gehen dennochweiterhin von einer Besatzungdes Gazastreifens aus, weil Israeldie Grenzen (mit Ausnahme jenerzu Ägypten), den Luftraum,den Meereszugang, die Benzin-,Wasser- und Energiezufuhr oderauch den Internetzugang kontrolliert.Dementsprechend sei es verpflichtet,das Gebiet weiter zu versorgen– und damit letztlich auchdie feindliche Hamas. Die VerpflichtungenIsraels enden erstbei der Verteilung von Gütern innerhalbdes Gazastreifens, siesind also „geteilt“.Foto: APA/AFP/Satellite image ©2023 Maxar TechnologiesDes Volkes SelbstbestimmungDas Zusammenspiel zwischenBesatzung und Selbstverteidigung,zwischen Israel auf der einenund der Hamas, Palästinaund den Palästinensern auf deranderen Seite führt zu einem großenWiderspruch: Das Volk derPalästina hat das Recht auf Selbstbestimmungund damit auf eineneigenen Staat. Umgekehrt hat Israel,wie der Internationale Gerichtshof2004 ebenso festgehaltenhatte, ein Recht auf Sicherheit.Das ist kein Persilschein – aber esbedeutet, dass Israel sich gegendie brutalen und menschenverachtendenMassaker vom 7. Oktoberzur Wehr setzen darf.Die entscheidende Frage bestehtalso darin, wie weit Israeldabei gehen darf, seine Sicherheit(wieder)herzustellen. Dabei giltes, eine Art doppelte Verhältnismäßigkeiteinzuhalten: erstensjene zwischen der Bedrohung fürIsrael und der Reaktion darauf sowiezweitens die einzelnen Abwägungenzwischen dem militärischenVorteil und den zivilenOpfern bei jeder Zerstörung einzelnerZiele im Gazastreifen.Israel legt die Verhältnismäßigkeitallgemein sehr weit aus.Premierminister Benjamin Netanjahuhat schließlich verkündet,die Hamas „zerstören“ zu wollen.Was einen langen Krieg undintensiven Krieg erfordert, vonder Anzahl der Soldaten bis hinzu den eingesetzten Waffen. Sowurden 300.000 Männer undFrauen mobilisiert, und 90 Prozentdes israelischen Kriegsmaterialswaren satellitengestützteBomben. Dabei spielt auch künstlicheIntelligenz (KI) – das „Habsora“-System– bei der Zielerfassungeine maßgebliche Rolle,Ziele werden also automatisiertausgewählt und für den Abschussempfohlen. Kritiker sprechenhier von einer „Massentötungsmaschine“,zumal Kommandantenin den meisten Fällen dasumsetzen, was die KI ihnen vorschlägt,man spricht hier von automationbias, also „übersteigertemVertrauen in Automation“bzw. Automatisierung. Mit anderenWorten: Menschen neigen dazu,Maschinen zu vertrauen undnur selten zu überstimmen. Umsoweniger, als Kommandantengar nicht wissen, wie genau dieVorschläge von „Habsora“ zustandekommen.Das zeigt ein Blick in die Zahlen,laut eigenen Angaben hat Israelvor der ersten Waffenpauseüber 15.000 Ziele angegriffen, Recherchender New York Times zufolgewurden über 60.000 Gebäudezerstört oder beschädigt, lautUN-Angaben sind 69 Prozent derOpfer Frauen oder Kinder und damitkeine Hamas-Kämpfer.Das liegt teilweise am schwierigenTerrain. Der Gazastreifenist ein enorm dicht besiedeltesGebiet, Gaza-Stadt als „urbanesGefechtsfeld“ ein absoluter Albtraumfür Militärstrategen und,noch mehr, Soldaten vor Ort. Hinzukommt, dass die Hamas dasVölkerrecht bewusst verletzt:Durch Waffenlager und Stützpunktein zivilen Gebäuden oderGegenden oder dem Nichttragenvon Uniformen bringt sie Zivilistenzusätzlich in Gefahr. Kurzum:Sie tut genau das, was sie nichttun soll.Die Terroristen von morgenUmgekehrt nimmt Israel in diesemKrieg vergleichsweise wenigRücksicht: Im Irak, in Afghanistanund beim Kampf gegen den „IslamischenStaat“ hatten die USAund ihre Alliierten bei ihren Kalkulationweniger zivile Opfer zugelassen.Auch Israel selbst war inden vergangenen Kriegen gegendie Hamas zurückhaltender. Daszeigt schon ein Blick zum Al-Shifa-Spital, das bereits beim ersten Gazakrieg2008/09 zweckentfremdetworden war. Die israelischenStreitkräfte hatten es damals – imGegensatz zu heute – nicht angegriffen,weil die zivilen Kostenzu hoch gewesen wären. Seit dem7. Oktober hat sich das Kalkül zuungunstender palästinensischenZivilbevölkerung verschoben.Verhältnismäßigkeit lässt sichleicht sagen und nur schwer umsetzen.Fest steht jedoch, dass IsraelsKriegsziel zu einer Dimensionan Zerstörung und menschlichemLeid geführt hat, die es im Konfliktmit der Hamas in dieser Form nochnicht gegeben hat. Israel muss sichdie – nach dem 7. Oktober selbstredendhöchst unangenehme –Frage stellen, ob man die Hamasüberhaupt „vernichten“ kann. Undselbst wenn, zu welchem Preis.Die Opfer von heute führen zu denTerroristen von morgen.Der Autor forscht und lehrtu. a. an der Universität Wien zuVölkerrecht, Menschenrechtenund Recht des Welthandels.
DIE FURCHE · 497. Dezember 2023Religion9„Mariä Erwählung“ statt „Mariä Empfängnis“?Das katholische Marienfest am 8. Dezembertransportiert eine Reihe theologischerHypotheken – etwa jene der „Erbsünde“.HeileAnfängeVon Andreas R. Batlogg SJUm den religiösen Inhaltgeht es vielerortsschon lange nichtmehr. Allenfalls umdie Frage: Aufsperrenoder nicht? Wo der 8. Dezember(noch) gesetzlicher Feiertag undsomit arbeitsfrei ist wie in Österreich,gibt es gelegentlich noch(längst nicht mehr so hitzige) Debattenum Ladenöffnungszeiten.Mit Sonderregelungen wird derFeiertag ausgehöhlt – aus „Sorge“um die Abwanderung vorweihnachtlicherKaufkraft in Nachbarländer,in denen „Mariä Empfängnis“normaler Arbeitstag ist.Der vollständige Titel für dasMarienfest am Beginn des Adventswirkt wie aus der Zeit gefallen:„Hochfest der ohne Erbsündeempfangenen Jungfrau und GottesmutterMaria“. Ob nun von „Erbsünde“oder „Ursünde“ die Rede ist,ob das Wort „Urschuld“ fällt oder„Sündenmakel“: Alle diese Begriffesind Fremdwörter geworden.Nicht zuletzt transportieren sieauch theologische Hypotheken.Der Ausdruck „unbefleckt“ in Zusammenhangmit „Empfängnis“(immaculata conceptio) legt nahe –ungewollt übrigens –, dass dermenschliche Zeugungsakt etwasSchmutziges ist: „Empfängnis“,die unrein macht, eben „befleckt“.Dahinter stecken nicht nur, aberauch jahrhundertealte leib- undfrauenfeindliche Haltungen. Sieführten zur Dämonisierung vonSexualität. Und produzierten Einstellungen,die in kirchliche Positioneneingingen. Mit Sex hat dieserFeiertag aber nichts zu tun.„Urschuld“, „Sündenmakel“ ...Die Erbsündenlehre von Augustinusist eine solche Mitgift. Wielässt sich heute in wenigen Wortenund noch dazu plausibel erklären,„die Sünde Adams“ werde von Generationzu Generation weitergegeben?Was damit an Mentalitätengeschaffen wurde, lässt sich nichtvon heute auf morgen beseitigen.Dass Maria vom ersten Augenblickihrer Existenz, also von ihrerZeugung an, frei ist von einem„Schatten“, den Belastungen,die mit „Erbsünde“ umschriebenwerden, ist nicht so leicht zu (er-)klären. Heute fragen (auch gläubige)Menschen ganz ungeniert:Was habe ich mit Adam und Evazu tun? Maria „erbt“ die Folgen derVertreibung der ersten Menschenaus dem Paradies nicht – das istkirchliche, von Papst Pius IX. mitdem Dogma 1854 bestätigte Überzeugung.Eine Überzeugung, dieseit dem Mittelalter vorhandenwar und seit 1708 für die gesamteKirche als Fest von Papst ClemensXI. vorgeschrieben wurde.Den Vogel abgeschossen hateinmal ein Tiroler Pfarrer. Er predigte,das erste Wunder im LebenJesu habe es bereits drei Wochennach seiner Empfängnis gegeben:als er geboren wurde. Dieser Pfarrerwar sicher nicht der hellste imKlerus. Bischof Reinhold Stechermeinte ironisch, als Student habedieser Pfarrer wohl nicht richtigaufgepasst …Da bei den meisten Marienfestendas Evangelium von der Verkündigungder Geburt Jesu durchden Engel Gabriel in Nazaret zurVerlesung kommt (Lk 1, 26–38) –das Fest „Verkündigung des Herrn“wird bekanntlich neun Monatevor Weihnachten, am 25. März,gefeiert –, darf man sich über entsprechendepastorale Fehlleistungennicht wundern. Das Evangeliumführt auf eine falsche Fährte.Weil es von der Empfängnis Jesuund nicht von der Empfängnis Mariasdurch ihre Eltern Anna undJoachim berichtet. „Eigentlich“ istalles ganz einfach: wenn man zum8. Dezember neun Monate dazugibtund so aufs Fest „Mariä Geburt“am 8. September kommt.Maria als „zweite Eva“Das Zweite Vatikanische Konzilhat Maria in der KirchenkonstitutionLumen gentium das achteKapitel (LG 52–69) gewidmet.Darin wird Bezug genommen aufdie Dogmatisierung, durch welche„die Gottesmutter ganz heiligund von jeder Sündenmakel freizu nennen“ sei, „gewissermaßenvom Heiligen Geist gebildet undzu einer neuen Kreatur gemacht“.Im Hintergrund steht die beiden Kirchenvätern (z. B. Hieronymus)stark vorhandene Vorstellungvon Maria als „zweiter Eva“:„Der Knoten des Ungehorsamsder Eva“ ist gelöst worden „durchden Gehorsam Marias“, wobei dasauch betont, „dass Maria nichtbloß passiv von Gott benutzt wurde,sondern in freiem Glauben undGehorsam zum Heil der Menschenmitgewirkt hat“. Dass sie „vom erstenAugenblick ihrer Empfängnisan im Glanz einer einzigartigenHeiligkeit“ (LG 56) gestanden hat,ermöglicht eine (neue) Sichtweise:Es geht um eine ursprüngliche Intaktheit,die durch den „Sündenfall“verlorengegangen ist.Auf der Suche nach einer neuenSprache stößt man auf Ersatzbegriffe:„Erbverwundung“, „Erbunheil“,„Erbschwäche“, „universaleSündenverfallenheit“. Der Schlüsselzum Verständnis liegt in derLesung des Festes: in der Erzählungvom heilen Anfang (Gen 3).Wunschlos glücklich waren dieersten Menschen. Bis die Einflüsterungenkamen: Es könne dochFoto: IMAGO / Albumalles viel besser sein! Die VerboteGottes seien Unterdrückung! UndAdam bricht das Tabu – dabei gehenihm die Augen auf. Aber seineErkenntnis ist so positiv nicht: Folgedes Tabubruchs war die Vertreibungaus dem Paradies.Um diese verlorene Ganzheitgeht es, wenn Maria in den Mittelpunktgestellt wird, die vomAnfang ihres Lebens an, ebenvon ihrer Empfängnis an, ausgenommenwar von jener Schuldverstricktheit,in der wir Menschenuns vorfinden – und dieseseinzigartige Privileg war ihr gewährtim Hinblick auf die Geburtihres Sohnes Jesus, der einen totalneuen Anfang in der Menschheitsgeschichtesetzen sollte.Immer wieder hat Gott mitMenschen neue Anfänge gesetzt.Als er die Welt erschuf. Gott ist derAnfang: Das ist die Botschaft derGenesis. Selbst in Situationen desScheiterns setzt er neue Anfänge:Mit Noach, als er ihn nicht absaufenlässt. Mit Israel in einer Situationder Verlorenheit, weil Gott esdurch die Wüste in ein fruchtbaresLand führt. In Situationen derUnfruchtbarkeit: Denken wir anSara, die Frau Abrahams, oder anHanna, die in hohem Alter Samuelgebären soll. Erinnern wir unsan Elisabeth und Zacharias. Gotthandelt immer wieder wunderbarund setzt neue, überraschendeAnfänge. „Vernünftige“ Erklärungendafür gibt es oft nicht.Lesen Sie zumThema auch„Das schwerverständlicheDogma“ vonHans Försteram 2.12.2004,nachzulesen auffurche.at.„ Maria ist von Anfang an ein erlösterMensch, frei von allem, was belastet – wieimmer man ‚Erbschuld‘ nun definiert.“InmaculadaConcepcionDas Gemälde ElGrecos von der„Unbefleckt empfangenenMaria“von 1613 stammtaus seiner letztenSchaffensperiodeund wurde alsAltarbild einerKirche in Toledogemalt.Im Blick auf Jesus, der einen neuenAnfang in der Weltgeschichtegesetzt hat, ist der Anfang Mariaswunderbar. Gott wählt sieaus: damit sie den Erlöser zur Weltbringt. Deswegen ist sie von Anfangan ein erlöster Mensch, freivon allem, was belastet – wie immerman „Erbschuld“ nun definiert.Am Mädchen aus Nazaret istfür uns geschichtlich greifbar geworden,was Gott für alle von Anfangan wollte: ganz in der Gnadezu stehen, die Heil bedeutet. Mariazeigt, was sonst durch das Unheilin der Welt verstellt ist: das radikaleAngewiesensein des Menschenauf Gott. So kann sie „Schwesterim Glauben“ sein, so wird sie, wastheologische Texte von ihr sagen:die zweite Eva („Der Tod kam durchEva, das Leben durch Maria“).Je mehr die Mutter Jesu als die„gehorsame Magd“, als „demütige,makellose Jungfrau“ vor Augen ge-FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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