DIE FURCHE · 45 8 Politik 7. November 2024 Andreas Babler und Karl Nehammer meinten im Wahlkampf, es brauche kein Sparpaket. Laut Androsch braucht es vielmehr ein „Sanierungsbudget, denn mit Sparen allein kommen wir gar nicht mehr aus“. FORTSETZUNG VON SEITE 7 Gescheiteres eingefallen wäre, der soll das sagen. Das heißt aber nicht, dass das, was ihm eingefallen ist, eine Lösung ist. DIE FURCHE: Was wäre eine Lösung? Androsch: Wir müssen endlich zurück zu den Sachthemen und nicht schon wieder das Musical „Evita“ weiterspielen, das Sesselrücken: Wer wird was und wer mit wem... Wir erleben den Zwang der Realität – oder, wie es Wifo-Chef Gabriel Felbermayr nennt, ein „Rendezvous mit der Realität“. Die diktiert uns, was zu tun ist. DIE FURCHE: Die Feuerwehr hat ein fixes Kommando, doch das muss bei einer Regierungsbildung erst neu gefunden werden. Da bleiben mit der Kickl-FPÖ im Out nicht viele Möglichkeiten. Androsch: Bei drei Spielern gewinnt immer der, der zwei Optionen hat. DIE FURCHE: Die nützte als erster Bruno Kreisky 1970, als er sich mit der FPÖ eine zweite Option für seine Minderheitsregierung eröffnete. Androsch: Kreisky war der Nutznießer. Diese Option aufzumachen und eine Brücke zu den Freiheitlichen zu finden, hat Jahrzehnte gedauert, das haben schon Adolf Schärf, Bruno Pittermann und andere Sozialdemokraten angefangen. Franz Vranitzky hat diese Brücke dann 1986 im Alleingang vernichtet. Für Kreisky ein schwerer historischer Fehler. Das hat zuerst Jörg Haider und dann die ganze FPÖ nach rechts getrieben. Ich habe immer gesagt, wenn sich Kickl nicht in die Mitte bewegt, dann geht mit ihm sicher gar nichts. Pro Putin, pro Orbán, pro Festung Österreich geht nicht. Entscheidend ist: Die demokratisch-liberale Verfassung Österreichs muss außer Streit stehen. Da gibt es keine Spompanadeln! Da machen mich die ersten Aktionen des FPÖ-Nationalratspräsidenten Walter Rosenkranz eher unrund. Seine Verherrlichung der schlagenden Burschenschaften ist mehr als übertrieben. Und Orbán so nebenbei als ersten zu empfangen, das ist nicht homogenisierend. KLARTEXT „Junger Herr im Hohen Haus“ hieß es am 25. November 1967, als Hannes Androsch als jüngster Abgeordneter ins Parlament kam; nachzulesen auf furche.at. Das Weltenrettungs-Paradoxon Im Nachrichtenstrom der vergangenen Wochen ging die Verleihung des Wirtschafts- Nobelpreises beinahe unter. Mit Daron Acemoglu, James A. Robinson und Simon Johnson wurden drei Ökonomen ausgezeichnet, die sich abseits konventioneller Modelltheorien mit der seit Adam Smith immer neu zu stellenden Frage auseinandersetzen, unter welchen politischen Voraussetzungen in unterschiedlichen Weltgegenden „Wohlstand für Alle“ geschaffen werden kann. Sie zeigen auf, dass es nur durch ständige, kluge Anpassung der Spielregeln arbeitsteiligen Wirtschaftens zu einer ausreichenden Wertschöpfung kommt, die im Umweg über ein klug strukturiertes Steuersystem sicherstellt, dass niemand zurückbleiben muss. Unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Wirtschaftsordnung sind funktionierende innerstaatliche Institutionen und ein verlässliches Rechtssystem. Spätestens seit der Frage des richtigen Umgangs mit der Klimakrise mehren sich nun allerdings jene Themen, die nur mehr weltgemein- DIE FURCHE: Mit der Kickl-FPÖ hat auch die Nehammer-ÖVP keine zweite Option. Androsch: Darüber will ich nicht spekulieren, das werden wir alles noch sehen. Jetzt müssen schnellstens die drängendsten Probleme geklärt werden. Da steht das Desaster der Staatsfinanzen, das auch die Länder und Gemeinden betrifft, an oberster Stelle. Das Motto der Regierung lautete: Koste es, was es wolle – und jetzt haben wir den Scherm auf! DIE FURCHE: Mit den Krisen der letzten Jahre – Pandemie, Putins Krieg, Inflation usw. – hatte Türkis-Grün aber auch einiges zu stemmen. Androsch: Was war dann in den 1970ern, mit zwei Ölpreisschocks, mit Währungskrisen und so weiter? Damals hatten wir 60.000 Arbeitslose. Und jetzt? Mehr als 370.000 Arbeitslose und im Winter werden es über 400.000. Also da stimmt es hinten und vorne nicht. schaftlich lösbar sind. Da erweist es sich als besonders fatal, dass die dafür in Frage kommenden supranationalen Institutionen rapide an globaler Geltung einbüßen und sich an deren Stelle autokratische Staaten und illiberale Demokratien in den Vordergrund spielen. In diesem Umfeld stoßen die Regulierungs-Ambitionen der EU an harte Grenzen, wie sich am Beispiel des Lieferkettengesetzes zeigt. Gesucht sind deshalb vordringlich Lösungen, mit denen sich das Weltenrettungs-Paradoxon einer wachsenden Kluft zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik durch handlungsfähige internationale Körperschaften wieder einigermaßen schließen lässt. Wem es gelänge, dafür umsetzbare Lösungen aufzuzeigen, dem gebührte nicht nur der Wirtschafts-, sondern auch gleich der Friedens- Nobelpreis! Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler DIE FURCHE: Die ÖVP sagt von sich, die Leistungs- und Wirtschaftspartei zu sein. Androsch: Davon kann keine Rede sein. Sonst hätten wir nicht die höchste Arbeitslosigkeit und Inflation in Europa, eine schrumpfende Wirtschaft und eine nicht mehr vorhandene Wettbewerbsfähigkeit. Wenn das das Ergebnis einer Wirtschaftspartei ist, dann frage ich mich, wie man Wirtschaftspartei schreibt. Wir haben uns mit dem Maßnahmenpaket 1977/78 hinstellen getraut. Das war ja kein Geschenkpaket, das war eines zum Gürtel enger schnallen. Bei der Wahl im Jahr darauf erzielte die SPÖ die höchste absolute Mehrheit. Die Leute sind gescheiter, als die Politiker oft glauben. Man muss ihnen das halt erklären. Heute wird stattdessen Panik erzeugt, Ängste werden geschürt, Hetzkampagnen geführt. DIE FURCHE: Das von Ihnen geschriebene SPÖ-Wirtschaftsprogramm 1968 trug die Überschrift „Leistung, Aufstieg, Sicherheit“. Bis auf Aufstieg war das auch der ÖVP-Slogan bei dieser Wahl... Androsch: Das ist ein Plagiat. Aber das ist der SPÖ nicht einmal aufgefallen, weil sie sich offenbar von ihrem eigenen Motto verabschiedet hat. Kein Wunder, dass sie dieses Mal auf den dritten Platz zurückgefallen ist. Erstmals seit dem allgemeinen Wahlrecht für Männer 1907! Das ist eine Katastrophe! Wenn wir so weitertun, sind wir rasch unter 20 Prozent. „ In der SPÖ gab es immer verschiedene Strömungen. Aber auch ein Mindestverständnis von Zusammengehörigkeit. Jetzt hat sich das in Stammessekten aufgesplittert. “ DIE FURCHE: Warum steht die SPÖ schlechter da denn je? Androsch: Weil sie inhaltlich noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist und weil sie sich isoliert und in Sektenzirkel zurückgezogen hat. Dadurch sind uns die Mitglieder abhanden gekommen. In den 1970ern hatten wir 720.000, jetzt nach offizieller Zählung 138.000; nach den Mitgliedsbeiträgen gerechnet, sind es 105.000. Foto: APA / Georg Hochmuth DIE FURCHE: Aber Sie sind noch immer Parteimitglied? Androsch: Sicher! Ich bin SPÖ-Mitglied in der vierten Generation. Einer meiner Urgroßväter ist am 1. Mai 1890 im Prater aufmarschiert und von der berittenen Polizei vertrieben worden. Das würde den Kickl wieder freuen. Jetzt haben sie es alle gern mit dem Sattel, aber keiner hat mehr ein Pferd darunter. DIE FURCHE: Aber was ist das Sektiererische in der heutigen SPÖ? Androsch: Das ideologisch Weltfremde und die realitätsfernen Träume. Wenn einer von sich sagt, er ist ein christlich sozialisierter Marxist. Bei so einer Vorstellung kriegte Karl Marx einen Schüttelfrost. DIE FURCHE: Von außen betrachtet, ist die SPÖ vor allem chronisch zerstritten... Androsch: In der Partei gab es immer verschiedene Strömungen. Der Schärf (SP-Parteivorsitzender, -Vizekanzler, -Bundespräsident. Androsch ist mit seiner Großnichte verheiratet; Anm.) hat erzählt, 1947/48 hätte er während einer Sitzung des Parteivorstands nicht aufs Klo gehen können, sonst hätten die anderen anders abgestimmt. Aber sie hatten immer ein Mindestverständnis von Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt. Jetzt hat sich das in Stammessekten aufgesplittert, wo jeder schaut, dass er und seine Leute etwas werden, und das ist zu wenig. DIE FURCHE: Wie bewerten Sie die Initiative von Rudolf Fußi um den SPÖ-Parteivorsitz? Androsch: Da muss man die Frage stellen: Ist das ein Alleingang oder wer steht dahinter? DIE FURCHE: Sie haben die besseren Kontakte in die SPÖ als ich. Was meinen Sie? Androsch: Ich stelle mir nur die Frage: Was ist das Ziel? Das Ziel könnte ja sein, auf diese Weise zu einem Parteitag zu kommen, nachdem die auf diesem ominösen Parteitag in Graz beschlossenen Statuten (Babler wurde dort am 11. November 2023 zum Parteichef gewählt, Anm.) dies sehr schwierig gemacht haben. DIE FURCHE: Heißt das, die SPÖ bräuchte einen neuen Einigungsparteitag wie 1889 in Hainfeld? Androsch: Ja – und einen Victor Adler. DIE FURCHE: Wer könnte das heute sein? Androsch: Leute, die eine gesamthafte Vorstellung haben, was getan werden muss, und vor allem auch die Überzeugungskraft, dass man sich hinstellt und sagt: „Leitln, es geht uns noch immer gut, aber wenn wir das erhalten wollen, müssen wir die Hemdsärmel aufkrempeln und, weil wir über die Verhältnisse gelebt haben, den Gürtel enger schnallen.“ Wir haben eine der höchsten Steuerbelastungsquoten der Welt, mit noch mehr Steuern erreichen wir das Gegenteil. Man muss endlich mit dem Geld auskommen, das man von den Steuerpflichtigen einnimmt, aber nicht immer mehr Geld beim Fenster raushauen oder das zulassen. DIE FURCHE: Karl Nehammer und Andreas Babler haben im Wahlkampf gemeint, wir bräuchten kein Sparpaket. Androsch: Da haben sie sogar recht, wir brauchen ein Sanierungsbudget. Mit Sparen allein kommen wir gar nicht mehr aus. Erich Kästner hat gesagt: „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“ Es zählt, was man macht, nicht was man träumt. Jeder Anspruch erfordert Leistung. Verteilen und erst recht umverteilen kann man nur, was man erwirtschaftet hat. Und man darf nicht glauben, das zahlt irgendwann die Frau Holle oder der liebe Gott.
DIE FURCHE · 45 7. November 2024 Religion 9 „Der Kittel“ stellt ein Beispiel für die unrühmliche Geschichte des kirchlichen Antijudaismus dar. Eine Erinnerung anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Von Hans Förster Was heute meist als „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“ bezeichnet wird, war früher als „Der Kittel“ bekannt. Der erste Herausgeber dieses umfangreichen Standardwörterbuches, Gerhard Kittel, lehrte von 1939 bis 1943 an der Universität Wien Neues Testament. Natürlich sind politische Auszeichnungen grundsätzlich auch für Theologen wünschenswert. Allerdings wird man es heute doch zwiespältig sehen, dass Gerhard Kittel im Jahr 1938 aufgrund seiner Bedeutung für die nationalsozialistische Propaganda Ehrengast des Führers am Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg war. Es gibt auch nur sehr wenige Theologen, die wie er bei der Gestaltung von Ausstellungen wie „Der ewige Jude“ mitgewirkt haben. Im Jahr 1937 bezeichnete die Jewish Telegraphic Agency die Wissenschaftler als „Nazi-Professoren“, die ihre Forschungen in den Dienst der Propaganda Julius Streichers stellten. Gerhard Kittel gehörte zu ihnen. Seine Beziehung zu Julius Streicher trug zur Breitenwirkung Kittels bei: Seine „bahnbrechenden“ und für die nationalsozialistische Propaganda höchst wertvollen wissenschaftlichen Publikationen wurden gleich zweimal im Stürmer ausführlich referiert. Man muss zugestehen: Er betrieb eine in die Gesellschaft hineinwirkende Wissenschaft. Damals war das eine höchst erfreuliche Auswirkung, man möchte von Third Mission im Dritten Reich sprechen. „Untadeliges Verhalten“ Damit ist rückblickend ein gewisses Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Ergebnissen gerade dann nicht völlig verfehlt, wenn Wissenschaft politischen Zielen untergeordnet wird. In seiner „Selbstverteidigung“, die Kittel nach dem Ende des Nazi-Regimes verfasste, beruft Kittel sich auf das Neue Testament als „judenfeindlichstes Buch der Welt“. Seine religiöse Überzeugung brachte ihn dazu, Adolf Hitler noch im Jahr 1943 dafür zu loben, dass er mit der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung das Werk vollbringen würde, bei dem die Kirche ihren ureigensten Auftrag verraten habe. Religion stand für Kittel im Dienst des Antisemitismus. Noch in der wissenschaftlichen Literatur der 90er Jahre konnte Foto: Universitätsarchiv Tübingen 123/456 Gerhard Kittel Für den Wiener Theologen stand Religion im Dienste des Antisemitismus. Er hatte keinerlei Berührungsängste mit der nationalsozialistischen Propaganda. Ein Theologe als „Nazi-Professor“ Gerhard Kittel „persönlich untadeliges Verhalten“ bescheinigt werden. Es erstaunt, dass derartige „Persilscheine“ teilweise noch heute zitierfähig sind. Inzwischen wird Kittels „wissenschaftliche“ Unterstützung der nationalsozialistischen Propaganda und seine Nähe zum Regime teilweise kritischer gesehen; es gibt auch Bemühungen, den „Kittel“ als Bezeichnung des Wörterbuches loszuwerden. Dieser Versuch stellt ein typisches „Weißwaschen“ dar. Den Proponenten der Umbenennung ist entgangen, dass „Der Kittel“ aus der Sicht der nationalsozialistischen Zensur ein höchst willkommenes Werk war. Es bedurfte keiner großen kriminalistischen Begabung, um die Abschrift eines Gutachtens der „Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums“ aus dem Jahr 1936 im Archiv der Universität Tübingen zu finden. Seitens der nationalsozialistischen Zensur wird dem „Kittel“ bestätigt, dass dieses Wörterbuch eine „unentbehrliche Handreichung“ sei, die allen empfohlen wird, die im „weltanschaulichen Ringen der Gegenwart“ stehen. Es ist bekannt, dass das Neue Testament judenfeindliche Stellen enthält. Es sollte für Abscheu und Entsetzen sorgen, dass judenfeindliche Stellen des Neuen Testaments von der nationalsozialistischen Propaganda genutzt wurden, um das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen und eine Kritik am nationalsozialistischen Judenhass mit religiösen Argumenten zu unterbinden. Nationalsozialistische Zensur Die grundsätzliche Frage ist nun, ob solch ein Wörterbuch denn wirklich gefährlich sein kann? Hat hier die nationalsozialistische Zensur nicht vielleicht doch etwas empfohlen, was harmlos ist? Ist es vorstellbar, dass ein Wörterbuch, das von führenden Forschern seiner Zeit erarbeitet wurde und das erst lange „ Sein Werk wurde erst vor wenigen Jahren nachgedruckt und ist heute in digitaler Form weltweit für die Forschung zugänglich. “ nach dem Zusammenbruch des „tausendjährigen Reiches“ vollendet wurde, tatsächlich problematisch sein könnte? „Der Kittel“ wurde erst vor wenigen Jahren nachgedruckt und ist heute weltweit und in englischer Übersetzung für alle digitalen Tools der neutestamentlichen Forschung verfügbar. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man großzügig über die Probleme des Wörterbuchs hinweggesehen hat. Diese sind nicht zu übersehen. Für ein Verb, das in der sogenannten Zinsgroschen- Perikope begegnet, wird explizit festgehalten, dass das jüdische Lesen Sie dazu „Novemberpogrome 1938: Wegbahnung für den Judenmord“ (4.11.2021) von Fritz Rubin- Bittmann auf furche.at. Verhalten „satanisch“ sei. Jesus wird die Frage gestellt, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen (Mt 21,23–27; Mk 11,27– 33; Lk 20,20–26). Die Frage wird als „versuchen“ übersetzt. Allerdings würde auch Jesus „in Versuchung“ führen, wenn die Einheitsübersetzung 2016 das zugrundeliegende Wort mit demselben Wort übersetzen würde. Aber, es ist ja der Teufel, der versucht. In der Einheitsübersetzung 2016 stellt Jesus „auf die Probe“ (Joh 6,6), während die Juden „versuchen“. Damit wird insinuiert, die Juden stünden auf der Seite des „Versuchers“, Jesus aber ist der „Gute“. Im Griechischen besteht kein Unterschied. Gerade in Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus könnte eine systematische Aufarbeitung dazu beitragen, die Interdependenz religiöser und politischer Argumente besser zu verstehen. Zunehmender Antisemitismus Es besteht heute ein Konsens, dass eine kulturelle Aneignung, die mit Diskriminierung der Herkunftskultur einhergeht, moralisch verwerflich ist. Bei einem Zitat aus dem Propheten Jesaja, das im Johannesevangelium begegnet, legt die Einheitsübersetzung dem Evangelisten eine Formulierung in den Mund, mit welcher der Gott Israels, der durch den Propheten Jesaja zu seinem Volk gesprochen hat, sein Volk endgültig verwirft (Joh 12,40): „damit (…) ich sie nicht heile“. Auf diesem Textverständnis baut bereits die mittelalterliche Typologie von Kirche und Synagoge auf: Die Schriftrollen der Synagoge sind zerbrochen, die triumphierende Kirche tritt an die Stelle des Judentums. Diese Übersetzung mag eine christliche Aneignung der jüdischen Schriften durch ein Schriftwort legitimieren, falsch ist sie trotzdem. Im Griechischen steht schließlich keine Negation. Dem Volk Israel wird dort ganz eindeutig Rettung zugesagt: „Und ich werde sie retten.“ Die nationalsozialistische Zensurbehörde befand das Wörterbuch als für das „gegenwärtige gesellschaftliche Ringen“ geeignet. Dieses legitimiert die philologisch unhaltbare Verwerfung Israels gleich in vier Beiträgen. Die Frage, ob man dieses Wörterbuch nun nach dem Herausgeber oder nach dem Titel benennen soll, ist jedenfalls nur ein Scheingefecht. Dieses Wörterbuch verhindert bis heute, dass in ihrem Antijudaismus hoch problematische Passagen des Neuen Testaments philologisch exakt und weniger judenfeindlich übertragen und ausgelegt werden. Gerade in Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus könnte eine systematische Aufarbeitung dazu beitragen, die Interdependenz religiöser und politischer Argumente besser zu verstehen – und in der Folge auch zu dekonstruieren. Der Autor lehrt als Privatdozent an der Universität Wien ‒ und leitet ein Forschungsprojekt des FWF an der Kirchlich- Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/Krems.
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