DIE FURCHE · 45 24 7. November 2024 Von Julian Borger Illu: R M Von Manuela Tomic Kriegsspiel MOZAIK Eindeutig haben wir in Völkermarkt zu viel Völkerball gespielt. Unsere militante Turntante teilte uns im großen Turnsaal in zwei Völker ein und hetzte uns gegeneinander. Ziel des Spiels war es, alle Spieler der gegnerischen Mannschaft abzuschießen. Markus eröffnete die Schlacht und donnerte den harten, aufgepumpten pinken Gummiball auf Slaviša, den Slowenen, der tot umfiel. „Nicht in den Bauch“, fauchte die Lehrerin und pfiff erneut zum Angriff. Wie ein Känguru hüpfte ich auf meiner Spielhälfte von Ecke zu Ecke. Mir schauderte vor den garstigen Blicken des Feindes und seinen unbarmherzigen Geschossen. Markus’ blutunterlaufene Augen brannten, als er einen nach dem anderen ausschaltete. Ich schied als Letzte durch einen Wadenschuss aus dem Spiel. Nun richteten sich alle Blicke auf unseren Freigeist, den Serben Ivan. Er marschierte unbeeindruckt von der gegnerischen Überzahl aufs Feld, um uns zu rächen. Er spottete den Feinden ins Gesicht. Markus schnaubte vor Wut und watschte den Ball. Die Turnlehrerin leckte sich vor Erregung die geschminkten Lippen. Ivan schlug gekonnt Haken, entkam Schuss für Schuss. Da schrillte die Schulglocke und beendete den Krieg. Nur Ivan und Markus gingen vor der Garderobe aufeinander los und schlugen sich die Dickköpfe ein. In Völkermarkt, dachte das Känguru, spielen sie eindeutig zu viel Völkerball. Manuela Tomic, Autorin und ehemals FURCHE-Redakteurin, ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Der Zentralfriedhof in Wien nimmt eine riesige Fläche im Südosten der Stadt ein und ist ein wahrhaft prächtiger Ort, um begraben zu werden. Die beiden jüdischen Friedhöfe befinden sich an den beiden Enden dieser weitläufigen Nekropole und sind auffallend ungepflegt, was kaum wundernimmt angesichts des krassen Missverhältnisses zwischen lebenden und toten Juden. Es sind nicht genügend Nachkommen übrig, um die Gräber ihrer Eltern, Großeltern und anderen Angehörigen zu pflegen. Der Ort wird von langen Gräsern und wildlebenden Tieren beherrscht. In der ältesten Gruppe, in die man durch die erste der vier Pforten des Friedhofs gelangt, sind viele Grabsteine unleserlich geworden, weil sie entweder mit der Vorderseite voran auf die Erde gekippt sind oder weil die Elemente ihre Inschriften ausgelöscht haben. Auf der Website der Israelitischen Kultusgemeinde fand ich die Koordinaten meiner Großonkel Emil und Eugen Borger sowie meiner Großtante Marianne Borger, die nicht erwachsen werden durften. Ihre Grabsteine sind von der Zeit längst blank gewaschen worden. Namen als Tarnung Ihre Eltern, meine Großeltern, Johann und Hermine, lagen in der neuen jüdischen Gruppe, die 1917 eingerichtet wurde, hinter dem vierten und letzten Friedhofstor. Ihre gemeinsame Grabstelle war leichter zu finden, da der Grabstein noch intakt ist. Darauf steht in hebräischen Buchstaben Pe Nun, die Kurzform für ponikbar, „hier liegt“, und dann „unsere geliebten“ in Deutsch über ihren Namen und Daten. Unten ist ein einziges Wort eingekerbt: „unvergessen“, ein Versprechen, das wir leider nicht gehalten haben. Ich kratzte das Moos vom Grabstein ab, legte einen runden Stein darauf, entschuldigte mich stumm und versprach, dass wir es als Familie besser machen würden. Meinen letzten Halt machte ich an Mordechaj Sorgers Grab. Auf dem kurzen Weg dorthin begegnete ich einem Rehkitz, das beim Äsen innehielt und mich nicht aus den Augen ließ, bis ich vorbeigegangen war. Ein paar Schritte weiter flatterte ein Fasanen-hahn auf und verschwand zwischen zwei Steinen. Auf seinem Grabstein war er einfach Motti Sorger. Meine Großtante Malci war seit seinem ersten Lebensjahr seine Mutter gewesen, für sie war er immer Motti geblieben. Für die anderen Namen, die ihm als Tarnung gedient hatten – Martin und André Vandroux – hatte er keine Verwendung mehr. Auf seinem weißen Grabstein lag eine dünne Schicht Tannennadeln und ein schwarzer Klumpen, den ich für eine Mischung aus Erde und Zweigen hielt. Als ich anfing, ihn abzutragen, sah ich, dass er aus kleinen Stücken Metall und Glas bestand, Überreste einer Laterne, die Malci anzündete, wenn sie ihn besuchte. Wie musste es gewesen sein, um einen Sohn zu trauern, der monatelang gefoltert worden war, bis sein Tod am Ende eine Erlösung war? Es sah aus, als habe sich niemand um das Grab gekümmert, seit Malci 1994 gestorben war. Auf Mottis Grab gab es keine hebräischen Inschriften. Malci hätte nichts davon gehalten. Unter seinem Namen waren die Lebensdaten, die seine vierundzwanzigjährige Lebensspanne markierten, und ein einziger Satz: Dein Opfer bleibt unvergessen. Es wurde natürlich vergessen, jetzt aber wieder in Erinnerung gerufen. Besser spät als nie, hoffte ich. Als ich zwischen den Gräbern entlangging, kam mir der breite baumgesäumte Hauptweg merkwürdig vertraut vor, obwohl ich noch nie dort gewesen war. Ich blieb stehen und schaute auf dem Handy nach. Da wurde mir klar: Der Weg ist die Kulisse für die Schlussszene im Dritten Mann. Foto: Benjamin Borger Foto: Getty Images / SSPL / National Science & Media Museum / Daily Herald Archive Harry Lime ist gerade auf dem Zentralfriedhof beigesetzt worden, Holly lehnt an einem Karren am Wegesrand und wartet auf die näher kommende Anna. Er hofft, sie werde ihm vergeben, dass er Harry verraten hat. Neunzig Sekunden verharrt die Kamera bewegungslos, während Anna langsam durch den laubbedeckten, von gestutzten Bäumen eingefassten Weg auf ihn zukommt. Wir warten auf ein Happy End, eine Art Versöhnung, doch Anna geht wortlos an ihm vorbei und aus dem Bild. „Nichts hätte falscher sein können“ Unzählige Male habe ich mir die Szene angesehen und oft über sie nachgedacht, aber mir ist nie bewusst geworden, dass meine Vorfahren zu beiden Seiten dieser verlassenen Straße begraben waren, eine cineastische Metapher für Einsamkeit. Mir kam die unbewusste Sogwirkung dieser ganzen begrabenen, verleugneten Geschichte in den Sinn. Als ich heranwuchs, dachte ich, meiner Familie sei es irgendwie auf wunderbare Weise gelungen, den Holocaust unbeschadet zu überstehen. Nichts hätte falscher sein können. Nur wurde über die, die zugrunde gegangen waren, wie Motti, nie gesprochen. Aus ihrem Leben wurde nie erzählt und ihre Bilder hingen nicht an unseren Wänden. Omi, unsere Großmutter, hatte ihren Vater und ihre Schwester verloren, Markus und Marianne, unseren Großvater und unsere Großtante. Sie wurden Ende April 1942 im selben Zug deportiert, der sie nach Włodawa brachte, wo Polen, Weißrussland und die Ukraine zusammentreffen. Anschließend wurden sie nach Sobibór gebracht und starben dort wie eine weitere Viertelmillion Menschen in den Gaskammern. Vally, unsere Stiefgroßmutter, verlor ihren ersten Ehemann Rudolf Klinger, der in Buchenwald ermordet wurde, und Malcis Ehemann, der „ Es sind nicht genügend Nachkommen übrig, um die Gräber ihrer Eltern, Großeltern und anderen Angehörigen zu pflegen. “ Der britische Journalist und Pulitzer-Preisträger Julian Borger hat sich in seinem Buch „Suche liebevollen Menschen“ mit der Flucht seines Vaters vor den Nazis beschäftigt. Ein Auszug. Verleugnete Geschichten In ihrer Not schalten Eltern Kleinanzeigen, in denen sie ihre eigenen Kinder ausschreiben, um ihnen ein Überleben in Großbritannien zu sichern – eines dieser Kinder war Julian Borgers Vater. geheimnisvolle Elias Schickler, verschwand einfach – wahrscheinlich ebenfalls ermordet, entweder von den Nazis oder seinen eigenen Genossen in der Kommunistischen Partei. Als Kinder bewegten wir uns unter Menschen, auf denen tagtäglich die Bürde unsagbarer Verluste lastete. Unsere Familie entdeckte etwas, was jeder Wiener Psychotherapeut ihr hätte sagen können: Solche Bürden werden schwerer und bedrückender, je mehr man sie zu ignorieren versucht. Ich erinnerte mich an ein Zitat des amerikanischen Schriftstellers James Baldwin, das scheinbar unmotiviert auf dem Schaufenster eines New Yorker Supermarktes stand: „Nicht alles, dem man sich stellt, lässt sich verändern. Aber nichts lässt sich verändern, dem man sich nicht stellt.“ Ich fragte mich damals, wie jemand hoffen konnte, damit Kunden zum Kauf von Lebensmitteln zu bewegen, aber vielleicht ging es gar nicht darum. Ich musste auch an meinen Vater denken und wie verlassen er sich am Ende seines Lebens gefühlt haben mochte. Bei all den Recherchen in Archiven und persönlichen Aufzeichnungen entdeckte ich nichts, was seine Entscheidung, uns zu verlassen, hätte erklären oder entschuldigen können, aber ich verstand doch bis zu einem gewissen Grad, mit wie viel Schmerz und Angst er gelebt hatte, etwas, was ich in all den Jahren nicht erkannt hatte, bevor ich begann, seinen verwischten Spuren zu folgen. Mir wurde klar, dass er, sobald er sich entschieden hatte, alles zu unterdrücken und seine Kindheit aus seiner persönlichen Geschichte zu löschen, entwurzelt wurde und vereinsamte. Ich dachte an all die Gespräche, die wir hätten führen können. Trotzdem war ich froh, dass ich mich auf die Suche nach ihm gemacht hatte und dabei so weit gegangen war, wie man es von einem Sohn vernünftigerweise erwarten konnte. Suche liebevollen Menschen Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust Von Julian Borger Molden 2024 308 S., geb., € 30,95
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE