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DIE FURCHE 07.09.2023

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DIE FURCHE · 36 2 Das Thema der Woche Lernziel: Leben 7. September 2023 AUS DER REDAKTION Es war im Sommer letzten Jahres, als Philipp Axmann erstmals zur FURCHE stieß. Schon immer habe er sich für diese Zeitung interessiert, betonte der Grazer Philosophiestudent – und thematisch interessiere ihn eigentlich fast alles. Tatsächlich hat Axmann seither in seinen Beiträgen eine breite inhaltliche Palette abgedeckt – stets freilich mit der ihm eigenen Grundsätzlichkeit: von digitaler Ethik bis zur kommunistischen Grazer Bürgermeisterin; von „Online-Selbsthilfen“ für junge Männer bis zur Plagiats-Plage an den Unis. Zuletzt lieferte er uns als Alpbach-Stipendiat eine Debatte über Online-Radika- lisierung – und für die aktuelle Ausgabe ein philosophisches Gespräch über die Kunst der Unterscheidung. Ab sofort wird er uns mit dieser und vielen weiteren Künsten als Digital- Redakteur verstärken. Was ich Ihnen sonst noch ankündigen darf: den spannenden Schulstart-Fokus über das „Lernziel: Leben“ von Victoria Schwendenwein, unseren zweiten Schwerpunkt anlässlich des 50. Jahrestags des Militärputschs in Chile, das Porträt einer Kinderkrankenpflegerin im Rahmen unserer Reihe „Gesichter des Zusammenhalts“ und ein Stück Cadbury-Schokolade als Roman. (dh) Von Franz Hammerer Der Glaube an die Aussagekraft und positive Wirkkraft von Schulnoten hält sich hartnäckig – auch beim aktuellen Bildungsminister, Martin Polaschek (ÖVP). „Noten schaffen Klarheit“, meinte er jüngst zum Schulbeginn. Trotz einer über Jahrzehnte erfolgreichen Umsetzung von aussagekräftigeren – und vor allem entwicklungsorientierten – Formen der Lernfortschrittsrückmeldungund -beurteilung greift man in Österreich ab der zweiten Schulstufe wieder auf eine verpflichtende Notenbeurteilung zurück. Dabei wird in den allgemeinen Teilen der österreichischen Lehrpläne deutlich auf den umfassenden Bildungsanspruch verwiesen: auf Erziehung zum selbsttätigen Bildungserwerb, zu selbstständigem Urteil und zu sozialem Verständnis. Die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder müssten berücksichtigt werden, lautet die Forderung. Tatsächlich braucht eine zukunftsfähige Gesellschaft junge Menschen, die Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten haben – und damit Lebenszuversicht. „Kein Kind zurücklassen“, gilt als verbindlicher Anspruch. Doch diese pädagogischen Ziele werden durch ein Beurteilungssystem untergraben, das Individuen über Noten wettbewerbsmäßig vergleicht, langsamer Lernende systematisch beschämt und die Leistungsbereitschaft vieler Kinder zerstört. Bereits 2004 machte Susanne von Thun, Leiterin der erfolgreichen Laborschule Bielefeld, in einem FURCHE-Interview deutlich, dass Noten den Bildungsprozessen von Schülerinnen und Schülern niemals gerecht werden können. Bildungsarmut wird begünstigt Die Schule, insbesondere die Volksschule, ist eine gesellschaftliche Basisinstitution, in der neben Familie und Kindergarten der Grundstein für erfolgreiches Lernen und Weiterlernen gelegt wird. In der Volksschule geht es um die Grundlegung der Bildung, um ein festes Fundament, das mitentscheidend dafür ist, ob wir später im Privatleben, im Beruf und in der Gesellschaft eher unsichere und inaktive oder sich selbst etwas zutrauende und zupackende Menschen werden. Grundlegung heißt also Grundeinstellungen zu sich selbst und zur Welt gewinnen – und selbstverständlich auch Grundkenntnisse und Grundkompetenzen. Die vielen Schultestungen und der enorme Druck auf die Lehrerinnen und Lehrer sowie auf die Eltern, der durch Noten und die zu frühe Einteilung von Kindern mit zehn Jahren schon ab der dritten Schulstufe entsteht, lassen eine ruhige Foto: iStock/Nikada (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Das erwähnte Interview mit Susanne von Thun lesen Sie unter „Noten produzieren Verlierer“(22.4.2004) auf furche.at. Pünktlich zum Schulstart ist eine alte Debatte neu aufgebrochen – jene um die beste Form der Leistungsbeurteilung. Warum die Bewertung mit Ziffern letztlich Verlierer produziert. Eine Positionierung. Die Not mit den Noten und konsequente Arbeit an diesem Fundament kaum zu. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Bildungslaufbahn. Darauf weist unter anderen seit Jahren der Erziehungswissenschaftler Ferdinand Eder von der Universität Salzburg hin. Er hält Noten als Basis für schulische Laufbahnentscheidungen für kontraproduktiv, da sie Bildungsarmut bei Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungs- oder Sozialstatus begünstigen. Damit lässt sich auch der Anspruch – „Kein Kind zurücklassen“ – in Wahrheit kaum umsetzen. Diese Forderung basiert auf der pädagogischen und lernpsychologischen Erkenntnis, dass die Entfaltung der Potenziale der Kinder dann gelingen kann, wenn wir „ Noten werden von den Kindern nicht als Rückmeldung, sondern als Bewertung der Person erlebt. Das Notensystem ist eine Sackgasse im Schulsystem. “ Lernen als einen aktiven, selbstgesteuerten Prozess sehen, der auf vorhandenen Erfahrungen aufbaut, sich individuell, in sozialen Bezügen und in unterschiedlichem Tempo vollzieht. Also kein Lernen im Gleichschritt! Daraus ergibt sich, dass Unterricht durch vielfältige Lernsettings unter dem Anspruch der Individualisierung und Differenzierung gestaltet werden muss. Auf diesem Weg benötigen die Schülerinnen und Schüler regelmäßig die Erfahrung des Könnens und wertschätzende, lernförderliche Rückmeldungen durch die Pädagoginnen und Pädagogen. Die aktuelle Situation in vielen Schulen mit Personalmangel und Stundenkürzungen erschwert diesen anspruchsvollen, aber notwendigen Weg enorm. Eine zentrale Aufgabe der Pflichtschule besteht darin, die Entwicklung der Leistungsfreude und Leistungsfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. Da Leisten-Wollen auf der Erfahrung des Leisten-Könnens aufbaut, müssen Schülerinnen und Schüler regelmäßig die Erfahrung machen: Ich kann etwas, und ich kann es gut. So erleben sie das Lernen und Leisten von Anfang an als wertvolle Bereicherung, als tiefe Befriedigung, die das Selbstvertrauen hebt und das Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten stärkt. Lerntagebücher oder Portfolios, aber auch regelmäßige Ziel- und Bilanzgespräche sind hier hilfreiche Unterstützungsmittel. Lehrperson statt Leistung Die hohe Zufriedenheit, die durch die Erweiterung des eigenen Wissens und Könnens entsteht, lässt sich nicht über Noten steuern. Noten führen leicht zu einer Entkoppelung von der Sache, da sie keinen Sachbezug ausweisen. Lernen um der Note willen verdrängt das Lernen aus Sachinteresse. Noten widersprechen einem pädagogischen Leistungsverständnis, da sie keine Entwicklungsperspektive beinhalten, nicht objektiv sind und kaum Auskunft über die tatsächliche Leistung geben. Zu dieser Erkenntnis kommt auch Ferdinand Eder im Rahmen seiner Forschungen und meint, dass die sachliche Aussage über das tatsächliche Können oder die Leistungen der Kinder gering sei, die „Notenwahrheit ein nicht erfüllbarer Anspruch“. Allein schon das Zustandekommen einer Note ist von Lehrperson zu Lehrperson, von Schule zu Schule höchst unterschiedlich. Trotz all dieser Erkenntnisse hört man sogar von Eltern immer wieder: Die Kinder wollen Noten! Na ja, aber nur gute – mit dem Ergebnis, dass diese selbst schnell in die Guten und die Schlechten eingeteilt werden. Noten werden von den Kindern nicht als Rückmeldung, sondern als Bewertung der Person erlebt. Das Notensystem ist eine Sackgasse im Schulsystem. Das Wissen ums eigene Lernen In Klassen, in denen Pädagoginnen und Pädagogen über Jahre anspruchsvollere und aussagekräftigere Formen der Leistungsbeurteilung umsetzen, können positive Effekte auf das Lernklima in der Klasse sowie auf die Einstellungen, die Selbstwahrnehmung, die Motivation und das Leistungsverhalten der Schülerinnen und Schüler festgestellt werden. Hier steht die Entwicklungsfunktion und nicht die Selektionsfunktion der Leistungsrückmeldung beziehungsweise -bewertung im Mittelpunkt. Über die bewährten Formen der alternativen Lernfortschrittsrückmeldung (wie Pensenbuch, Kompetenzraster – ohne Smileys! – oder kommentierte direkte Leistungsvorlage) bauen Schülerinnen und Schüler einen Bezug zu ihrem Lernen und den Lernprozessen auf, zu dem, was sie können. Aber sie reflektieren auch das, was sie noch nicht können, was noch nicht gelungen ist. Über das eigene Lernen Bescheid wissen, heißt auch zu wissen, was muss ich tun, damit das Gelungene auch weiter gut gelingt? Dieses reflektierte Wissen über das eigene Lernen stärkt eine realistische Selbsteinschätzung. Fähigkeiten, die für eine zukunftsfähige Gesellschaft unverzichtbar sind. Deshalb fordern viele Pädagoginnen und Pädagogen die Wiedereinführung der Wahlfreiheit bei der Beurteilungsform. Nun wird häufig darauf geantwortet, dass das Notenzeugnis ohnehin durch andere Formen der Beurteilung ergänzt werden könne. Die Note hebelt jedoch die Beschreibung aus, hier treffen zwei unvereinbare Systeme aufeinander. Bildung über ein selektives Notensystem produziert letztlich Verlierer. Der Autor unterrichtete mehr als 30 Jahre an der KPH Wien/Krems und ist heute in der Fortbildung für Lehrer(innen) tätig.

DIE FURCHE · 36 7. September 2023 Das Thema der Woche Lernziel: Leben 3 Neben Faktenwissen gehört auch das sozial-emotionale Lernen zum Erlebnis Schule, meint die Grazer Universitätsprofessorin Hannelore Reicher. Doch kann damit auf die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart reagiert werden? Ein Interview über den „Ernst des Lebens“. „Schule ist keine Reparaturanstalt“ Das Gespräch führte Victoria Schwendenwein Es wird viel darüber diskutiert, ob das, was in Schulen gelehrt wird, Kinder und Jugendliche auf die Probleme der Welt vorbereitet. Das muss es auch nicht zwingend, sagt Hannelore Reicher, Bildungswissenschafterin im Arbeitsbereich Sozialpädagogik, im Gespräch. DIE FURCHE: Inwiefern prägt die Schule das Leben eines Menschen? Hannelore Reicher: Schule prägt den Menschen in sehr umfassendem Sinne, in Bezug auf die Förderung von Begabungen, die Persönlichkeitsbildung, die Fähigkeit, die Welt zu verstehen und zu gestalten und sich in einer demokratischen Gesellschaft aktiv beteiligen zu können. Die Fachliteratur benennt mehrere Funktionen: Die Qualifikationsfunktion, also die Vorbereitung auf das spätere Arbeitsleben, oder auch die Sozialisationsfunktion, in der es um soziale Kompetenzen und das Hineinwachsen in die Gesellschaft geht. DIE FURCHE: Eine Nachwehe der Pandemie ist der Anstieg derer, die vom regulären Schulbetrieb abgemeldet wurden. Was könnte diesen Kindern später fehlen? Reicher: Grundsätzlich muss man genauer analysieren, warum die Kinder im Homeschooling sind oder bleiben. Leider haben wir dazu keine systematischen Daten. Es gibt eine interessante Publikation von Wissenschafter(inne)n der Universität Innsbruck, in der als problematische Kontexte staats-, wissenschaftsfeindliche und verschwörungsideologische Strömungen genannt werden, die nach der Covid-Pandemie aufgepoppt sind, aber auch sektenähnliche Gruppierungen. Diesbezüglich sollte stärker die psycho-soziale Entwicklung der Kinder unter dem Aspekt des Kindeswohls betrachtet werden. DIE FURCHE: Bildet das Bildungssystem die gesellschaftlichen Bedürfnisse ab? Reicher: Als gesellschaftliche Bedürfnisse sehe ich das gelingende Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft der Vielfalt sowie die Förderung von Resilienz im Sinne von psychischer Widerstandsfähigkeit angesichts der multiplen Krisen. In der Fachwelt finden sich Konzepte wie die „21th Foto: Victoria Schwendenwein Bild: Rainer Messerklinger / DALL·E / Prompt: Photo of a childrens rucksack filled with everyday items symbolizing life and adulthood (Bildb..: RM) Hannelore Reicher forscht und lehrt im Arbeitsbereich Sozialpädagogik an der Universität Graz. Century Skills“, damit sind Fertigkeiten gemeint, die wir im 21. Jahrhundert verstärkt brauchen, es sind vier K’s: Kommunikation, Kreativität, Kritisches Denken und Kollaboration. DIE FURCHE: Es gibt in der Bildungswissenschaft die Strömung, die ein Auflösen der traditionellen Fächer zugunsten von Kreativität fordert. Das Argument ist, die Welt wandelt sich immer schneller, und man kann Kinder und Jugendliche nur so auf das Leben vorbereiten. Wäre das in Österreich umsetzbar? Reicher: Ich zögere mit meiner Antwort, weil ich zwischen Pragmatismus und Utopie schwanke. Wenn man weiß, wie langsam sich große Bildungsreformen in Schulen umsetzen lassen, würde ich pragmatisch antworten. Es ist bereits jetzt möglich, Verknüpfungen zwischen Fächern herzustellen - durch projektorientierten, problemorientierten Unterricht, und dies wird auch realisiert. Wir sollten aber aufpassen, dass wir den Kindern und Jugendlichen nicht zu viel an gesellschaftlichen Problemlagen zumuten. DIE FURCHE: Wie meinen Sie das? Reicher: Schule ist keine Reparaturanstalt für die Gesellschaft. Wir können nicht alle Probleme unserer Welt in die Schule hineinstopfen und sagen, die jungen Menschen müssen damit konfrontiert werden. Das überfordert sie emotional und kann Ängste auslösen. „Schola“ bedeutet ursprünglich „Muße“. Damit meine ich keinen Schonraum, sondern Zeit, Ruhe und Raum für altersangemessene Lernerfahrungen. Das Interview in seiner ungekürzten Form finden Sie unter dem Titel „Schule ist keine Reparaturanstalt“ (6.9.2023) auf furche.at. „ Es braucht einen Paradigmenwechsel betreffend die Einstellung zu Schule und Bildung. Es gibt ein Kinderrecht auf Bildung – und es ist doch schön, in die Schule gehen zu dürfen, oder? “ DIE FURCHE: Kinder wachsen heute mit Technik auf. Die Herausforderungen sind nicht zuletzt durch KI vielfältig geworden. Werden sie zu früh an diese neuen Medien herangeführt? Reicher: Bis zum zweiten Lebensjahr sollte das Spielen mit Handy oder Tablet die Ausnahme sein. Und auch die Mediennutzung der Eltern von kleinen Kindern gilt es zu beachten. Auf Spielplätzen sieht man oft Mütter oder Väter, die auf ihr Handy schauen und nicht auf das Kind. Aus der Entwicklungspsychologie weiß man, wie wichtig Joint-Attention, die geteilte Aufmerksamkeit, ist. Wo schaut das Kind hin? Was macht es? Das sind wichtige Momente für interaktive Lernprozesse, die diesen Kindern fehlen. Auch das Miteinander- Sprechen fehlt, und das wirkt sich auf die Sprachentwicklung aus. Im neuen Schulfach „Digitale Grundbildung“ sehe ich eine Chance Medienkompetenz aufzubauen und den kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien zu erwerben. DIE FURCHE: Durch den Lehrkräftemangel werden nun auch Quereinsteiger und Pensionsrückkehrer in den Klassen mit diesen Themen konfrontiert. Wie soll das für sie zu bewältigen sein? Reicher: Ich sehe dies prinzipiell optimistisch, da es ja engagierte Lehrpersonen sind, die in den Schulbetrieb wechseln. Es braucht natürlich passende Weiterbildungskonzepte für diese Gruppe. Den strukturellen Faktoren des Fachkräftemangels – dieses Problem haben wir auch in der Sozialen Arbeit oder im Gesundheitsbereich – werden wir uns aber stellen müssen. DIE FURCHE: Nur wie? Reicher: Im österreichischen Schulsystem gibt es viel zu wenig Unterstützungspersonal. Damit meine ich administratives Personal, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. Derzeit haben Lehrkräfte so viel administrative Aufgaben zu erledigen, dass sie fast gar nicht zum Unterrichten kommen. Dazu kommen die vielfältigen sozialen und psychischen Probleme der Kinder: Dafür sind Lehrkräfte gar nicht ausgebildet. Durch den Ausbau dieser Unterstützungssysteme ist es dann gemeinsam schaffbar. DIE FURCHE: Was bedeutet nun also der „Ernst des Lebens“? Reicher: Es braucht einen Paradigmenwechsel betreffend die Einstellung zu Schule und Bildung: Weg von Angst und Stress hin zu Lernfreude und Engagement. Ich möchte hier auf ein Kinderbuch verweisen. Ein Mädchen macht sich große Sorgen über diesen „Ernst des Lebens“, von dem die Erwachsenen vor dem ersten Schultag ständig reden. Sie kommt dann in die Schule und neben ihr sitzt ein Bub –er heißt Ernst und wird ihr bester Freund. Sie erkennt jetzt: Ach, das ist der Ernst des Lebens! Diese Geschichte betont die soziale Komponente: Schule bedeutet miteinander lernen und Freundschaften entwickeln. Und mit Blick auf problematische internationale Entwicklungen, zum Beispiel in Afghanistan, wo Mädchen nicht in die Schule gehen dürfen: Es gibt ein Kinderrecht auf Bildung. Und es ist doch schön, in die Schule gehen zu dürfen, oder? SAMMELWERK Eine Abrechnung mit der Standardisierung Es ist anachronistisch und futuristisch zugleich: Mit seinem Sammelwerk „Wenn Schule auf Ideen bringt“ legt Leonard Sommer ein Buch vor, das bereits auf dem ersten Blick nach Multimedialität schreit – um danach aus der Norm auszubrechen, Etabliertes zu hinterfragen, neue Wege zu gehen. So verwundert es nicht, dass per QR-Code auf die berühmte Filmszene aus dem Filmdrama „Der Club der toten Dichter“ (1989) verwiesen wird. „Betrachte die Dinge aus einer anderen Perspektive“ ist damit auch Programm für Leonard Sommers Bestrebungen. In seiner „Classroom Thinktank Initiative“ versucht der Chef einer deutschen Werbeagentur seit mehr als zehn Jahren Wege zu finden, wie sich Schule im Alltag neu denken lässt. Von Workshops beim „Cannes Lions Festival“ über Strategiemodelle bis zu Projektarbeiten an Bildungseinrichtungen sammelt der Deutsche Ideen und Beispiele, die dieses Wie in einem globalen Kontext zeigen. Zu Wort kommen dabei auch Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler aus aller Welt. Die These: 65 Prozent der heutigen Schülerinnen und Schüler werden später in Jobs arbeiten, die es heute noch nicht gibt. Ein Schulsystem, dessen Konzept aus der Zeit der Industrialisierung stammt, könne darauf nicht vorbereiten. Kreativität ist für Sommer und seine Co-Autoren aus der Kreativbranche daher die Währung der Zukunft. Die Bilder, die sie in den Diskurs um das Schulwesen einbringen, sind per se nicht neu: Weg von Einzelleistungen, hin zu Gruppenarbeiten und dem Auflösen des Fächerkanons zugunsten von Interessensmodulen, Lehrkräfte die als Moderatoren fungieren. Elemente also, die in einem standardisierten Schulwesen kaum Platz finden. Vieles, was in diesem Buch angeregt wird, hat in der einen oder anderen Form bereits Einzug in die heimischen Klassenzimmer gehalten. Anderes wird sich kaum im Schulsystem umsetzen lassen – und nicht alles davon wird Schüler(innen) tatsächlich im späteren Leben weiterbringen. Dennoch wirkt das Buch wie ein Manifest für eine Revolution im öffentlichen Schulwesen. Eine Auseinandersetzung mit den darin aufgebrachten Ideen lohnt sich allemal – nicht zuletzt, um eine neue Perspektive kennenzulernen. (vs) Wenn Schule auf Ideen bringt 100 Kreative denken Lernen neu von Leonard Sommer, Vahlen 2023 448 S., kart., € 62,95,–

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