DIE FURCHE · 36 18 Literatur 7. September 2023 Von Hubert Gaisbauer Wie im Märchen kommen in diesem Roman die Bösen auf grausige Weise ums Leben, die Guten finden den Freitod. Eigentlich sind es zwei reizvoll ineinander verschränkte Liebesgeschichten, zeitlich etwa vier Jahrzehnte voneinander entfernt. Sie ereignen sich in der Illusion eines herbeigesehnten „Hortus Universalis“, wie der Titel des Roman von Eva Maria Stöckler und Johannes Simetsberger lautet. Das „Universalis“ könnte man mit „alle Künste umfassend“ übersetzen, denn wie die Künste einander begegnen, macht den großen Reiz dieses Romans aus. Der Titel lockt ja ins spirituell Mittelalterliche. Hortus deliciarum fällt einem ein. Aber die Wonnen bleiben eher im Hintergrund. Tatsächlich findet man sich letztlich in einem verlorenen – oder verwunschenen – Garten. Liebesgeschichte, rekonstruiert Der Roman entwickelt sich größtenteils in zwei Briefdialogen, die von dem Autorenpaar im Zeitsprung übereinander gelegt werden. Die jüngeren Briefe, die von Alois und Elisabeth, einem Lehrer und einer Lehrerin, entstehen nach einer kurzen und intensiven Begegnung anlässlich einer Veranstaltung in einem (katholischen) Bildungshaus. Ihre Mails lassen miterleben, wie die beiden, Schreiberin und Schreiber, auf märchenhaft zufällige Weise einen vier Jahrzehnte zurückliegenden Briefwechsel entdecken. Sie finden diesen im Nachlass eines kauzigen Onkels und dazu passende Botschaften einer Pianistin, bei der Elisabeth – Zufall oder Schickung – einmal russischen Sprachunterricht genommen hat. Mühsam und liebevoll rekonstruieren sie diese Liebesgeschichte und entdecken erstaunliche Knoten in den Lebensfäden der beiden. Parallelen finden sie bei sich selber und in Foto: iStock/Mkovalevskaya Eine abwechslungsreiche Komposition mit viel Bezug auf Dichtung, Kunst und Musik: der Roman „Hortus Universalis“. „Dein Garten wollt‘ ich sein zuerst“ ihrer Beziehung. Motto: Wie man die Liebe und damit das Leben verfehlen kann. Mehr sei nicht verraten – auch wenn es kein Landkrimi ist, trotz der ländlichen Schauplätze an österreichischen Orten, die in der Benennung manchmal an Thomas Bernhard erinnern (zum Beispiel „Schweining bei Frankenburg“). Ortsangaben verleihen „ Cantus firmus ist dabei der Garten, der angelegt werden will, gestaltet und geliebt. Und verloren geht. Paradise lost. Teils real, teils imaginär, schließlich deliriös. “ dem Roman eine sehr authentische Patina, sodass man manchmal versucht ist, biografische Anknüpfungspunkte beim Autor(inn)en-Paar nachzufragen. Wesentlicher allerdings – und nachvollziehbar authentisch – ist die glaubhaft geschilderte Not der zwei Lehrpersonen, wie sie am lieblosen Schulalltag scheitern, was in ihnen sogar das Gefühl des Verrats an den Kindern, ja sogar der Kollaboration mit den Gewalttätern (die Frauen sind mitgemeint) aufkommen lässt. Was ist das für eine Welt, fragen sie beide, rat- und hilflos. „Hortus Universalis“ ist ein vielgestaltiges Buch, formal wie inhaltlich. Eine Komposition mit überraschenden Seitenthemen, abwechslungsreich in allen Sätzen. Vom Suchen und vom Finden – vom fast Gewinnen und schließlich vom Verlieren. Cantus firmus ist dabei der Garten, der angelegt werden will, gestaltet und geliebt. Und verloren geht. Paradise lost. Teils real, teils imaginär, schließlich trunken und deliriös. Abgesehen vom psychologischen Ernst schuldloser und schuldhafter Tragik besticht der Roman auch durch die starke Omnipräsenz von Dichtung, Kunst und vor allem von Musik. Der Onkel schreibt, als wäre er ein Zeitgenosse Mozarts. Eine gefundene und von ihm komponierte Sonate „für Violocell [sic] und Klavier in B-Dur“ löst alles aus und geistert durch das Buch. Dann wieder findet man mittendrin Protokolle – könnten sogar authentische sein – von Anweisungen des Komponisten Luigi Nono an die russische Pianistin. Bunt durchsetzt ist alles mit unzähligen literarischen Zitaten – auch vielen lateinischen, aus allen möglichen Jahrhunderten, die allerdings nur dem humanistisch imprägnierten Leser beim Erkennen und Verstehen Genugtuung verschaffen. Zärtlichkeit und Schmerz Dass dem Autorenpaar auch Religion nicht ganz gleichgültig ist, weisen nicht nur Textcollagen von Marienerscheinungen aus. Da sind auch die berührenden Erholungspausen des Lehrers vom schulischen und vom familiären Stress, die er bei seinem Namenspatron „Aloysius“ vor einem Seitenaltar der Kirche von Sillian sucht. Doch der kann ihm schließlich auch nicht aus seiner vielfachen Not helfen. „Hab keine Angst davor zu lieben“, lautet der Abschiedssatz von Nadja, der russischen Pianistin, an ihren Geliebten, den komponierenden Onkel von Alois, nachdem sie beschlossen hat, in ihre Heimat zurückzukehren. An dem Buch ist hilfreich, dass die zwei Briefstränge deutlich unterscheidbar ins Schriftbild gesetzt ist. Erwähnt sei noch die verführerisch expressionistische Gestaltung des attraktiven Buchumschlags, auch wenn sich dahinter kein Garten der Lüste verbirgt. Zärtlichkeit und Schmerz bleiben dem Leser, der Leserin aus dem Roman eingeprägt – und die Vergeblichkeit des Wunsches, dass Menschen einander „ein Garten wollten sein“. Hortus Universalis Roman von Eva Maria Stöckler und Johannes Simetsberger Hollitzer 2023 331 S., geb., € 23,95 LEKTORIX DES MONATS Achterbahnfahrt der Gefühle Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Rattensommer Von Juliane Pickel Beltz & Gelberg 2023 256 S., geb., € 16,50 ab 14 Jahren Von Juliane Zach bin Lou. Das ist die Hälfte von Louise. Eine Schwester von zweien.“ „Ich Die 15-jährige Ich-Erzählerin ist auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Schwester, einem Sternenkind, auf die Welt gekommen. Ihre Eltern assoziieren mit diesem Tag somit ihren größten Verlust, aber auch ihr größtes Glück. Lou hingegen hat das Gefühl, nur das „Back-up“ zu sein. Als eine Hälfte von einem Ganzen sieht sie sich auch in ihrer Freundschaft mit Sonny. Seit Kindheitstagen sind die beiden unzertrennlich, so unterschiedlich sie auch sind: Sonny ist lässig, abenteuerlustig und furchtlos, Lou angepasst, zurückhaltend und mit wenig zufrieden. Die Geschichte setzt am letzten Tag vor den Sommerferien ein, in ihrem Geheimversteck, einem verlassenen alten Schwimmbad mit einer schwindelerregenden Erkenntnis: Lou ist in Sonny verliebt. Und einer schrecklichen Nachricht: Hagen Bender, der Mörder von Sonnys Mutter, wurde vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Von da an hat Sonny nur noch ein Ziel: Rache. Sengend heiße Sommertage, auf die am Ende ein sintflutartiger Sturzregen folgt, sind hier weniger Hinweis auf den gegenwärtigen Wandel des Klimas als auf die aufgeladene Stimmung zwischen den Figuren. Unausgesprochene Worte und verdrängte Gefühle stauen sich aller Ortens, etwa zwischen Lous Eltern, die so unterschiedlich mit ihrer Trauer umgehen und weder zueinander noch zu ihrer Tochter einen Weg finden. Und auch Sonny und Lou finden über ihre veränderte Beziehung, ihre Berührungen und Küsse, keine Worte. Die Wahl der Erzählperspektive erhöht die Spannung noch weiter, schließlich erfahren die Leserinnen und Leser von Sonnys Gedanken, Gefühlen und Plänen nur das, was Lou in deren Blicken zu lesen meint. Ein kritischer Wendepunkt in der Beziehung der Mädchen – und der Geschichte – ist Lous Geburtstag, an dem Sonny gemeinsam mit Tayo und Nick, ihren Partnern in crime, nicht nur Benders geliebte Katze entführt, sondern einen der Jungen auch noch vor Lous Augen im alten Schwimmbad küsst – am geheimen Ort der beiden Mädchen also. Von da an driften die beiden immer weiter voneinander weg. Lou möchte mit Sonnys Rachefeldzug nichts mehr zu tun haben – und ist ungewollt beim großen Showdown doch dabei. Juliane Pickel, die für ihr Debüt „Krummer Hund“ mehrfach ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, zeigt hier Figuren mit großen Emotionen, die nicht zur Sprache finden. Die aufgestaute Wut ist immer spürbar und bricht sich am Ende mit Gewalt Bahn. Mit dem Nicht-Schwimmen-Können und sich Freischwimmen müssen oder dem heulenden Elend von Lous Vater, der die sichtbare Trauer für alle übernimmt, findet sie starke Motive und Bilder. Die Geschichte endet mit einer großen Leerstelle, dem nicht auserzählten Schicksal von Sonny. Aber auch mit einem Schimmer Hoffnung für Lous Eltern und der heilenden Einsicht: „Ich bin nicht mehr die Hälfte von etwas. Ich bin jetzt ein Ganzes. Ich bin jetzt nur noch Lou. Einfach Lou. Nicht mehr und nicht weniger.“
DIE FURCHE · 36 7. September 2023 Kultur 19 Von Bernhard Baumgartner Es ist ein unscheinbares, kleines Geschäftslokal am Bahnhofsplatz in Krems an der Donau. Vor der Tür steht eine Schütte randvoll mit bunten DVDs. „2,50 Euro pro Stück“ – steht auf einem handgeschriebenen Schildchen, dessen Neongelb den Besucher an die Blüte der 1980er-Jahre mit ihren Aerobic-Leggings erinnert. Aber das ist nur ein Vorzeichen, denn schreitet man durch das einladend offenstehende Portal, tritt man gleich als Ganzes eine Zeitreise in die Zeiten von Vokuhila und Yuppies an: zurück an einen Freitagabend im Jahr 1989, als man nach einer anstrengenden Schulwoche mit den Eltern in die Videothek ging und das Wochenend-Programm aussuchen durfte. Zwei Filme, eine Flasche Cola und ein Packung Popcorn – das Einser-Menü der Generation Golf. Hier stehen sie nun, die DVDs nach Filmtiteln fein säuberlich geordnet, auf langen Regalfluchten mit jeweils einem roten Schlüsselanhänger mit Nummer darunter. Arnold Schwarzenegger ist hier noch der unbesiegbare „Terminator“, „Rocky“ boxt sich den Ring frei und die Velociraptoren im „Jurassic Park“ warten auf ihre Chance auf den Ausbruch. Die roten Anhänger sind ein Signal: Will man einen Film leihen, nimmt man den Anhänger und lässt sich die DVD ausfolgen. Die Hülle mit dem Cover aber bleibt, wo sie ist. Kein roter Anhänger am Haken unter der Hülle bedeutet, dass der Film gerade verliehen ist und man sich leider etwas anderes aussuchen muss. Es fehlen nicht sehr viele Anhänger an diesem freundlichen Sommertag. Hinter einem hohen Tresen thront Elke Joksch. Sie ist der „Herr der Silber-Ringe“, wacht also über mehr als 7000 DVDs. So viele, dass gar nicht alle in die Regale passen. Etliches lagert in den breiten Laden hinterm Tresen. „Ich mache das jetzt seit 35 Jahren“, sagt Joksch nicht ohne Stolz. „Und bin immer noch da für meine Kunden. Also, die paar, die ich halt noch habe“, bemerkt sie mit einem Lächeln. Sie muss das Gespräch kurz unterbrechen, denn ein junger Mann mit Vollbart und Mütze betritt die „Vergessene Welt“ am Bahnhofsplatz. Aber nicht etwa, um einen Film zu leihen, er holt sich ein Paket, das hier für ihn abgegeben wurde. Foto: Bernhard Baumgartner Videotheken waren früher an jeder Ecke zu finden. Heute sind sie ein rares Relikt einer vergangenen Zeit. Skizzen von einem Ort, an dem cineastisch die Zeit stehengeblieben ist. Die vergessene Welt der Silberscheiben Früher, als das Geschäft noch besser lief Sie kennt den jungen Mann – auch seine Mutter war hier schon Kunde. Früher, als das Geschäft noch besser lief. „Wenn ich den Paketdienst nicht hätte, wüsste ich nicht, was ich machen soll“, sagt Frau Joksch. Seit mehr als zehn Jahren ist sie nebenbei auch ein „Hermes“-Paketstore. Ausfolgen – lagern – versenden. So nützt sie die Zeit, die sie im Geschäft zwischen „Dune“ und „Findet Nemo“ steht, um – eigentlich – auf Filmfreunde zu warten. Denn das Herz von Frau Joksch gehört ihren Filmen. In 35 Jahren hat sie alles miterlebt: die ersten Videorekorder, das Entstehen des Video-Booms, als Videotheken wie die Schwammerln aus dem Boden schossen. Und die großen Ketten mit ihren Dutzenden Lokalen in ganz Österreich. Dann den Umstieg auf DVD und später Blu-ray und die Computerspiele, die heute kein Mensch mehr leiht. Alles längst online, nur noch zum Herunterladen. Wer heute ein Konsolen-Spiel kauft, kauft nur mehr einen Code. Einen Datenträger, wie die tausenden silbernen Scheiben, die hier lagern, gibt’s da kaum mehr. Als vor zehn Jahren die Streamingdienste kamen, und (noch mangels eigenproduzierter Programme) viele alte Filme in ihr Angebot aufnahmen, war das auch für die resilientesten Betreiber der Videotheken der finale Todesstoß. Bequemer geht es nicht: vom Sofa aus auswählen, Mini-Beträge abbuchen lassen – und schon geht’s los. Da kann Frau Joksch kaum mithalten. Die Zahlen sprechen für sich: Allein in Krems gab es in den 1990ern sieben Videotheken, heute sind es in ganz Niederösterreich gerade noch drei. Selbst in Wien gibt es kaum ein halbes Dutzend. Unscheinbare, kleine Läden ganz oft von Enthusiasten unter Selbstausbeutung geführt. Manche sind spezialisiert auf bestimmte Genres, die eher selten zu bekommen sind. Wie die für ihr breites „Art House“-Programm bekannte „Filmgalerie Achteinhalb“ in der Wiener Garnisongasse. Man muss sich eben etwas einfallen lassen. Hier in Krems werden wie eh und je gekühlte Getränke und Snacks verkauft. Handgemachte Duftkerzen sind auch ausgestellt. Nebenan ist eine große Arztpraxis: Wartende Angehörige kommen da gerne bei Frau Joksch auf ein Getränk vorbei. Manchmal, wenn mit den Paketen wenig los ist, verliert sich die Filmliebhaberin selbst in ihrer Ware. „Xanadu“ von Regisseur Robert Greenwald ist von den tausenden hier ihr Lieblingsfilm mit Olivia Newton-John, Michael Beck und Gene Kelly. Dass der Film 1980 beim Publikum floppte und sogar die „Goldene Himbeere“ für den schlechtesten Film des Jahres kassierte, stört die resolute Videothekarin nicht. Denn die Musik macht es wieder wett. Der Soundtrack von „Xanadu“ schaffte immerhin 7-fach Platin und gehört damit zu den erfolgreichsten Filmmusiken überhaupt. „Für mich ist ein Film abschalten. Für anderthalb Stunden wo anders sein“, erklärt sie ihre Faszination. Vergessen. Wegdriften. Zumindest für eine Weile. „ Handgemachte Duftkerzen sind auch ausgestellt. Nebenan ist eine große Arztpraxis: Wartende Angehörige kommen da gerne bei Frau Joksch auf ein Getränk vorbei. “ Ein Herz für Filme Seit 35 Jahren hat Elke Joksch alles miterlebt: die ersten Videorekorder, das Entstehen des Video-Booms, und die großen Ketten mit ihren Dutzenden Lokalen in ganz Österreich. Dann den Umstieg auf DVD und Blu-ray. Eine gute Zeit verspricht auch die ominöse Abteilung „Nur für Erwachsene“, die hier hinter einem schwarzen Perlenvorhang auf meist männliche Kundschaft wartet. Es ist nichts für Zartbesaitete, was hier auf leihwilliges Publikum wartet. Der Bedarf sei immer noch da. Wie kann das sein, wo doch die „heiße Ware“ überall gratis im Internet angesehen werden kann? Frau Joksch kann es nur mit der Spurenlosigkeit erklären: Wer eine DVD ansieht, bleibt unentdeckt. Kein Browserverlauf, keine digitalen Protokolle. Analoge Lust statt Ärger, wenn man auffliegt. Die Scham, die manche bei so etwas empfinden, versteht Frau Joksch ohnehin nicht: „Das ist doch alles nur menschlich!“, meint sie. Doch es ist nicht immer alles besser in der Vergangenheit, denn auch die Gegenwart bietet Chancen. So bemerkt Joksch, dass in den letzten Monaten wieder Kunden kommen, die schon jahrelang nicht mehr da waren. Das hat mit zwei Entwicklungen zu tun, meint sie. Einerseits zwingt die Teuerung dazu, bei den Streaming-Abos zu sparen. Statt vier hat man nun nur mehr eines oder zwei. Zudem haben die Streamingdienste begonnen, ihre Bibliotheken zu leeren, um Kosten zu sparen. Viele alte Filme, die man vor fünf Jahren noch überall streamen konnte, sind nun wieder im digitalen Nirwana verschwunden. Frau Joksch hat sie in ihrem großen Fundus natürlich alle noch. Und das führt dazu, dass wieder mehr Kundschaft den Weg in das unscheinbare Geschäft am Bahnhofsplatz findet.
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