35 · 31. August 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– autoritären Denkens. Man sei „die letzte Generation, die sich das Land zurückholen könne“, raunte eine Stimme – optisch unterlegt von der Regenbogenfahne und der brennenden Kathedrale Notre-Dame. Fackelzugsequenzen mit strammen Burschen und einem lachenden Udo Landbauer folgten. Von Doris Helmberger Am Ende hieß es: „Wir aber wollen eine Zukunft!“ – samt Kameraschwenk auf die Neue Burg am Heldenplatz mit dem „Hitlerigentlich hatte man sich vergangenen Montag auf ganz ande- druckreife Sager der Systemzertrümmecher kann eine Botschaft nicht sein. formulierte, lieferte der Demagoge Kickl Balkon“. Deutlicher und unmissverständlire „Jugendsünden“ eingestellt rung – und ließ dabei kaum eine Säule der Man könnte über dieses Machwerk hinweggehen und jede Reaktion auf diese – nämlich auf jene vieldiskutierten von Andreas Babler. Nein, er ting im Parlament als „Stasi-Verhörzim- Provokation vermeiden – schließlich ist liberalen Demokratie aus: vom ORF-Set- habe keine Lenin-Büste in seinem Büro stehen, betonte der SPÖ-Chef im ORF-„Som- neue Erzfeinde bis zu den rechtsextremen le Stimmungs- und Umfragenlage zwingt mer“ über die „selbst ernannten Eliten“ als genau dies auch der Zweck. Die aktuelmergespräch“ – aber dafür gebe es dort drei Identitären als ganz normale „NGO“. gleichwohl zur Konfrontation. Ebenso die andere Dinge: eine Büste von Victor Adler, Tatsache, dass das dynamisierte Wiedererstarken der extremen Rechten und das dem Gründungsvater der österreichischen Untergang des Abendlandes? Sozialdemokratie; ein Bild von seinem Vorgänger als Traiskirchner Bürgermeister; ren unter Herbert Kickl längst völlig einterreichischer Spezialfall sind. Der aktuel- Dass die Unterschiede zu den Identitä- Sich-Ausbreiten „brauner Flecken“ kein ös- und ein von Papst Franziskus geweihtes geebnet sind, zeigte sich kurz vor Bablers le Fall des bayrischen Vizepräsidenten Hubert Aiwanger, der in seiner Schulzeit Ende Kruzifix, das ihm der Bürgermeister der „Sommergespräch“ in einem Video der Freiheitlichen Jugend. Veröffentlicht auf dem der 1980er Jahre eine Hetzschrift voll Ju- Insel Lampedusa geschenkt habe. Auch hinsichtlich der Europäischen Union, die er noch 2020 als „aggressivstes mili- ließ man in Rhetorik und Bildsprache end- Bruder) verteilt haben soll, macht das über- parteieigenen YouTube-Kanal „FPÖ TV“, denhass (mutmaßlich verfasst von seinem tärisches Bündnis“ bezeichnet hatte, habe gültig alle ideologischen Hüllen fallen: Identitären-Begriffe wie „Remigration“ und schuldigen und zu distanzieren, wurde tadeutlich. Statt sich prompt und klar zu ent- er heute eine „andere Betrachtungsweise“, so Babler: Zwar bestehe bei ihm nach wie „Bevölkerungsaustausch“ flimmerten eben- gelang herumlaviert. vor eine „Grundskepsis“, erklärte der SPÖ- so durchs Bild wie missliebige Journalistinnen und Journalisten sowie ideologisch de freilich nicht nur als vergangene „Ju- In Kickls FPÖ zeigen sich diese Abgrün- Chef; ein EU-Austritt sei für ihn aber „tabu“. Herbert Kickl hatte dieses Tabu eine Woche zuvor gebrochen – wie so viele andeunter als geistiger Wegbereiter des Natio- und jetzt. Wer auch immer mit dieser Par- einschlägige Köpfe: Ernst Jünger, der mitgendsünden“, sondern als Abgrund hier re auch. Während freilich der bundespolitische Newcomer Andreas Babler seine Vordenker der Neuen Rechten; oder auch hat die Verantwortung zu tragen. nalsozialismus gilt; Alain de Benoist, ein tei koaliert oder sie gar inhaltlich kopiert, prononciert linken Forderungen (darunter Vermögens- und Erbschaftssteuern) in schienenen Bestsellers „Untergang des doris.helmberger@furche.at Oswald Spengler, als Autor des 1918 er- teils schwindelerregenden Satzgirlanden Abendlandes“ einer der Urväter des rechten, @DorisHelmberger In der Ukraine ist die Geburtenrate um 28 Prozent eingebrochen. Aber nicht alle legen ihre Lebensplanung auf Eis. Ein Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew. Seite 9 Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sind keine „Allrounder“, sondern Spezia listen. Eltern haben einen Knochenjob – können aber viel erreichen. Seite 11 „Jesus stört. Weil er vom Entsetzen über die Leiden in der Schöpfung zu einem Mitleiden weist. Ist das links?“, fragt Hubert Gais bauer in „Erklär mir deine Welt“. Seite 14 Sabine Gruber erkundet in ihrem jüngsten Roman „Die Dauer der Liebe“ Wege und Möglichkeiten der Trauer, der Erinnerung, des Weiterlebens und der Literatur. Seite 18 Sie unterschätzen die Konsumenten, folgen immer denselben Rezepten. Daniel Wisser aber möchte Mut belohnen, Andersartigkeit und das Brechen von Regeln. Seite 20 Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 32 10. August 2023 enn es Sie reizt, junge Menschen zur kritischen, komde, die einst eine Aufnahme von Lehrpersodeckung des Unterrichtsbedarfs bereits im Wie kommt es dazu, dass die Schulbehör- ren ersten Realitätsschock, wenn sie zur Abmunikativen, kreativen und nen aus anderen Bundesländern verweigerte, Bachelor-Studium mit hohen Stundenkontingenten in Schulen eingesetzt werden. Ihr Stu- teamfähigen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu nicht allzu langer Zeit wurden alle Maturant- dium leidet aufgrund der vielfachen Abwesen- jetzt offensiv dort Werbeplakate anbringt? Vor befähigen und ihrem Verlangen nach einem (inn)en in persönlichen Schreiben gewarnt, heit – und die Schulen klagen, weil sie oft nicht sinnerfüllten Leben in einer menschenwürdigen Zukunft in Auseinandersetzung mit ethiser aller Ziel sein, die besten Bewerber für das studierenden von Burnout-Symptomen erfah- den Lehrberuf zu ergreifen. Sollte es nicht un- vor Ort sind. Wenn ich bereits bei Lehramtsschen und moralischen Werten und der religiösen Dimension des Lebens zu begegnen – dann Finnland, Singapur und andere Länder längst spätere Berufsleben. Lehramtsstudium zu gewinnen – wie dies re, ist das ein denkbar ungünstiger Start ins sind Sie die richtige Person, die wir für diesen praktizieren und damit in weltweiten Vergleichsstudien Spitzenleistungen erzielen? Da- Zukunft neu denken Traumjob suchen. In Ihrer Arbeit können Sie dazu beitragen, dass junge Menschen bei der bei liegen dem Bildungsministerium seit Jahren Szenarien über den Einstellungsbedarf von PISA-Tests bei der OECD verantwortet, heißt Für Andreas Schleicher, der die weltweiten Bewältigung von gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen eine aktive Rolle einnehmen. Dazu geherrschung von Sprache, Mathematik oder Ge- Erfolg in der Bildung heute nicht nur die Behört, dass Kompetenzen für eine nachhaltige schichte – sondern es geht ihm darum: „Neugier Entwicklung angebahnt sowie Politische Bildung mit Global Citizenship Education, Frie- für Neues zu öffnen, es geht um Mitgefühl – die und Wissensdurst zu wecken – den Intellekt denserziehung und Menschenrechtsbildung Herzen zu öffnen, und es geht um Mut [...]. Das vermittelt werden. Ihr Arbeitsplatz ist damit werden auch unsere besten Waffen gegen die nicht nur ein Ort der Bildung und Erziehung, Von Michael größten Bedrohungen unserer Zeit sein – Ignoranz – der verschlossene Verstand, Hass – das sondern auch ein sozialer Raum, der es ermöglicht, sich zu erproben, die Wirkungen des eige- verschlossene Herz, und Angst – der Feind von Schratz nen Handelns zu erleben und dieses kritisch zu Handlungsfähigkeit.“ Dies entspricht in noch reflektieren. eindringlicherer Formulierung dem, was die Diese Stellenanzeige ist zwar fiktiv, zitiert eingangs formulierte Stellenanzeige fordert. aber wortwörtlich auszugsweise Bildungsziele des neuen Lehrplans für Volksschulen, der Imagekampagne wünsche ich den für das Bil- Mit Blick auf die aktuelle fragwürdige ab dem Schuljahr 2023/24 in Kraft treten soll. dungssystem Verantwortlichen und den in Hand aufs Herz: Würden Sie sich zutrauen, diese Aufgabe zu übernehmen? Diese Lehrplanner Kultur der gegenseitigen Akzeptanz of- ihm Tätigen, dass sie den Mut haben, in eivorgaben verweisen auf die verantwortungsvolle Aufgabe, die Lehrerinnen und Lehrer als und sie mit Engagement gemeinsam zu überfen über eine zentrale Frage zu diskutieren die „Architekt:innen der Zukunft“ sieht, wie legen: Welche neuen Strukturen und Haltungen brauchen wir in Zukunft, um den aktu- die Industriellenvereinigung zurecht fordert. ellen gesellschaftlichen Herausforderungen Teilzeitjob als Lückenfüller? den Schuljahren 2014/15 bis 2025/26 vor. Wie gerecht zu werden? Zur unmittelbaren Ab- Ob Slogans wie „Beruf + Berufung = Architekt + Bautechniker: Meine Erfahrung bringe den an den Schulen Tätigen ständig Daten ein- die Profis aus dem Ministerium ein Jahr lang glaubwürdig ist das Ministerium, wenn von deckung des Lehrerbedarfs könnten vorerst ich in die Schule ein: Als Lehrer/in in meinem gefordert werden, die eigenen aber nicht ernst an Schulen unterrichten. Dies wäre nicht nur Zweitjob!“ im Rahmen der aktuellen ministeriellen Werbekampagne „Klasse Job“ diesen An- lichen eher um Dienst nach Vorschrift als um le Vorgaben, mehr Autonomie an Schulen), son- genommen werden? Geht es den Verantwort- eine Win-win-Situation (weniger ministerielsprüchen gerecht werden kann, ist aber zweifelhaft. Die Kampagne täuscht eine Schulwelt möglich zu machen? des österreichischen Schulsystems. das Interesse, den Lehrerberuf so attraktiv wie dern sicher auch ein Booster für die Zukunft vor, die bei aktiven Lehrpersonen eher Kopfschütteln erzeugt. Unter immer schwierigeren rungskampagne mit dem Slogan „Ich werde Der Autor ist Gründungsdekan der „School Während in der gegenwärtigen Rekrutie- Bedingungen widmen sie ihr Berufsleben unserer zukünftigen Gesellschaft – erhalten aber einen Beruf geworben wird, „der gefragt und und engagiert sich in der Reform der Junglehrer/in und gestalte die Zukunft!“ für of Education“ an der Universität Innsbruck selten jene Anerkennung, die sie verdienen. sinnstiftend ist!“, erleben viele Studierende ih- Lehrer(innen)bildung. aber wir müssen gemeinsam zu einer neuen Basis des Miteinanders kommen.“ Gefragt nach seinem persönlichen Friedensfundament, bezeichnete sich Scheljaschenko als „akademischen beginnt der Text, „sie fanden nichts Kriminelles, beschlossen aber, mein Telefon und meinen Computer sokus gegen diesen Krieg schätzt, spielt Religion für seine Pazifisten“. So sehr er die Stimme von Papst Franziswie einige Dokumente der Ukrainischen Pazifistischen Friedensarbeit keine Rolle. Diese basiere allein auf wissenschaftlichen Kriterien. Dazu gehören die „9 Stufen Bewegung mitzunehmen.“ Seither wird Scheljaschenko als Generalsekretär der Pazifistischen Bewegung zu der Konflikteskalation“ des österreichische Konfliktforschers Friedrich Glasl. Scheljaschenkos Friedensagenda, Verhören vorgeladen. Die Anklage lautet: „Rechtfertigung der russischen Aggression.“ Sie basiert auf der derer er jetzt angeklagt wird, beruft sich auf dieses von ihm im Vorjahr verfassten „Friedensagenda für die Modell der Eskalation und Lösung von Konflikten. Ukraine und die Welt“. Wenn man Scheljaschenkos Texte liest und noch mehr, Im FURCHE-Interview Anfang Juni (23/2023) erzählte Scheljaschenko von Bedrohungen, berichtete von of- Zoom-Interview zu sehen, drängt sich – von seiner Fri- wenn man die Gelegenheit hat, ihn zu hören oder via fener Feindseligkeit bis hin zu bizarren Drohanrufen in sur bestärkt – der Vergleich zu John Lennon auf. Scheljaschenko wird seiner Charakterisierung als „Dreamer“ der Nacht. Gleichzeitig betonte er, dass seine Situation im Vergleich zu Friedensaktivisten in Russland un- auch nicht widersprechen, mit dem Zusatz: „Aber, ich bin vergleichlich besser sei, da die Ukraine in Richtung nicht der Einzige.“ Oder wie er in seinem Nacht-Mail aufruft: „Gemeinsam, gewaltlos, mit wissenschaftlichem mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Zivilgesellschaft steuere. Als einer, „der genauso im Wissen, Glauben und Hoffnung könnten wir eine bessere russischen Bombenhagel sitzt“, sagte er: „Das ist eine Welt aufbauen, in der sich jeder weigert zu töten, und in tragische Situation, die wünsche ich niemandem, der es daher keine Kriege gibt.“ (Wolfgang Machreich) Natürlich war es eine flagrante Verhöhnung des aufrechten Nachkriegsösterreich und aller, für die das „Nie wieder!“ zum Selbstverständnis der Zweiten Republik gehört. Es zeigt ein ebenso flagrantes Versagen des exekutiven Österreich, dass die faschistische Demonstration, die Ende Juli in Wien stattfand, ausgerechnet mitten im „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ vor der Albertina beginnen konnte. Als ob diese Ungeheuerlichkeit nicht genug war, machten nun auch Fotos die Runde, wie Rechtsradikale mit ihren feisten Gesäßen auf der Skulptur des straßenwaschenden Juden von Alfred Hrdlicka sitzen. Derartiges – offenbar nicht unterbundenes – Verhalten ist völlig inakzeptabel. Und nimmt den millionenfach entmenschten Opfern der Schoa aufs Neue ihre Würde. Dass all dies anno 2023 in Wien möglich ist, entlarvt alle Rede von den Lehren der Vergangenheit und dem Kampf gegen Judenhass als politisches Lippenbekenntnis. Es gehörte zur Würde des geläuterten Österreich, diesen Ort vor den Zumutun gen der Identitären und deren Spießgesellen zu schützen. Filmemacherin Ruth Beckermann ließ vor einigen Jahren beim Hrdlicka-Mahnmal Filmfragmente aus 1938 laufen, die straßenwaschende Juden vor einer grinsend-gaffenden Menge zeigten. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“, dichtete bekanntlich Bert Brecht. Wie wahr! Otto Friedrich Die Quint-Essenz macht bis 16. August Sommerpause. Eine Auswahl an Kolumnen von Brigitte Quint finden Sie anhand dieses QR-Codes auf der FURCHE-Homepage. Der Ukrainer und FURCHE-Interviewpartner Jurij Scheljaschenko wird der „Rechtfertigung russischer Aggression“ angeklagt. DIE FURCHE · 36 16 Diskurs 7. September 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Verbotsgesetz verschärfen? Mehr als Jugendsünden Von Doris Helmberger Nr. 35, Seite 1 Vielen herzlichen Dank für Ihren Leitartikel! Leider werden solche Äußerungen nur mehr von geschichtlich Interessierten in ihrer vollen Bedeutung verstanden – und erlauben es juridisch versierten Mitmenschen, den entsprechenden Gesetzestext bis an die leider nicht eindeutig schriftlich festgelegten Grenzen auszuschlachten. Ich denke, die vernünftigen Politiker sollten sich überlegen, oben man nicht 1) das Bundesgesetz über NS-Wiederbetätigung verschärfen sollte (d. h. auch die verbale Wiederbetätigung so zu verschärfen, dass die diversen Äußerungen auch juridisch zu einer Verurteilung führen würden) und 2) für viele andere Entscheidungen der Politiker eine Vermögenshaftung einführen sollte, wie sie z. B. bei Ärzten u. a. Berufsgruppen existiert. Ich denke, dann wären viele sowohl verbale Äußerungen wie auch Entscheidungen, die sowohl Gegenwart wie auch Zukunft betreffen, nicht mehr möglich. Vor allem das ewige Schielen nach Meinungsumfragen hätte auch eine andere, vernünftigere Basis – und die hohen Politikergehälter wären besser gerechtfertigt! Univ. Prof. Dr. Johann Deutsch via Mail Weg von SPÖ-Kadern wie oben Israel – ein Gottesstaat? „Wissenschaft ist das, was uns retten wird“ Fundamental anders Gastkommentator Ben Segenreich stößt sich an Medizinethikerin Alena Buyx über den aktuellen Die heurige Architekturbiennale in Venedig versteht der Berichterstattung zur israelischen Justizreform. „One Health“-Ansatz, Arbeitszeitreduktion und den sich als Labor für die Zukunft und richtet ihren Blick Eine Positionierung. · Seite 6 Klassenkampf im Klimaschutz. · Seite 12 vor allem auf Afrika. · Seite 17 Illustration: Rainer Messerklinger Das Thema der Woche Seiten 2–5 Während Bayerns Vizeministerpräsident von seiner Schulzeit eingeholt wird, offenbart ein Video der freiheitlichen Jugend den – ganz aktuellen – Abgrund der FPÖ. Ein Offenbarungseid. Mehr als Jugendsünden E „ Wer auch immer mit Kickls FPÖ koaliert oder sie gar inhaltlich kopiert, hat die Ver antwortung zu tragen. “ „Grüne Arbeit sichert unser Dasein“ Um „Green Jobs“ zu fördern, braucht es ein Zusammenspiel von Politik, Unis und Wirtschaft. Wie die grüne Wende gelingt. · Seiten 7–8 Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Demokratie? Und welche Gefahren gehen mit TikTok und Co einher? Antworten vom Europäischen Forum Alpbach. Politik zum Einloggen AUS DEM INHALT Die Wehen des Krieges Lernen bei AD(H)S Harmlos-lieber Jesus? Eine Irrlehre! „Doch wo ist dieses Fremdland“ Die Krise der Streamingdienste furche.at tun: auf die Fragen der heutigen Generation eingehen, den Blick in die Zukunft gerichtet, befreit von alten, traditionellen Fesseln (wenn auch nicht selten übers Ziel hinausgeschossen). Denn die SPÖ war (bzw. ist es weitgehend noch) ideologisch rückwärtsgerichtet: in die Zwischenkriegszeit, in die Kreisky-Ära (Lernen Sie – österreichische, austromarxistische – Geschichte!). Eine Partei von alten Kadern, untereinander verhabert, wenn nicht sogar versippt, im Führungskader streng abgegrenzt mit festen Zulassungskriterien. Das hat sich jetzt geändert. Da sind „neue Leute“ hervorgekommen, Michael Ludwig war ja auch zunächst so einer, dann auch Doskozil und jetzt Babler. Noch herrschen die altgedienten Funktionäre. Besonders in Wien. Aber vielleicht kommt doch eine neue Ära. Mit einer echten Öffnung zum einfachen Parteivolk. Ohne Abgehobenheit der Kader. Peter Lang Wien Digital wählen? Demokratie ins digitale Netz stellen Von Wolfgang Machreich Nr. 35, Seite 2 Bei aller Wertschätzung digitaler Möglichkeiten: Wenn ein Politiker sichere digitale Wahlen in zwei Jahren in Aussicht stellt, empfiehlt sich digitale Nachhilfe beim „Chaos Computer Club“. Wahlen mit Stimmzetteln kann jedes Volksschulkind durch simples Nachzählen prüfen. Rein digitale Wahlen sind für Wählerinnen und Wähler inhärent unüberprüfbar. Selbst wenn sie ihren IT-Experten vertrauen: Auch die besten Experten können nicht zweifelsfrei wissen, ob nicht ein Schadprogramm an der richtigen Stelle drei Prozent der Wählerinnenstimmen „gedreht“ und sich danach selbst gelöscht hat. Und selbst wenn alles sauber war: Niemand könnte beweisen, dass ein fremder Staat, der behauptet, manipuliert zu haben, lügt. Wollen wir die Legitimität künftiger Regierungen wirklich derart schwächen? Peter Markom 3430 Tulln Autoritäre Pädagogik „Traumjob Lehrer“ – und keiner will ihn. Diesseits von Gut und Böse Von Michael Schratz Nr. 32, Seite 15 Ich stimme mit Michael Schratz voll überein und möchte noch einiges W PORTRÄTIERT Der Pazifist, der Lennons „Imagine“ lebt onnerstag vorige Woche schickte Jurij Scheljaschenko um 23.41 Uhr aus Kiew ein Mail an DFreunde in aller Welt. „Heute wurde meine Wohnung vom Sicherheitsdienst der Ukraine durchsucht“, Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Diskurs Angesichts drohenden Lehrer(innen)mangels sucht das Bildungsministerium in der Werbekampagne „Klasse Job“ nach Quereinsteigern. Dabei wurden selbst Kardinalfehler gemacht. Ein Gastkommentar. „Traumjob Lehrer“ – und keiner will ihn … „ Zur Abdeckung des Lehrerbedarfs könnten die Profis aus dem Ministerium ein Jahr lang unterrichten. “ Foto: Privat ZUGESPITZT Die Schändung Was der neue Parteivorsitzende da tut, wird der SPÖ sicher gutdraufsetzen: Der immer frauen-lastigere Lehrerberuf ist in Österreich laut internationaler Statistik relativ gut bezahlt und bietet vielleicht nicht viel Freizeit, aber viel Urlaub. Trotzdem herrscht Lehrermangel, weil die Grundprobleme für den attraktiven Lehrerberuf in Österreich einer Lösung harren. Es sind ganz generell die Probleme der Lehrerausbildung und der Schulstruktur, an denen die österreichischen Schulen leiden. In Österreich hat die Gesellschaftsentwicklung in der Schule zu wenig Niederschlag gefunden. Zahlreiche Reförmchen haben zu einer immer stärkeren Bürokratie geführt. Zur Bewältigung des vorgegebenen oftmals gewaltigen Lehrstoffes wird die Pädagogik durch Autorität ersetzt. Als Gegendruck entsteht oft Disziplinverweigerung, was beim Lehrpersonal zu Frustrationen führt. Eine weitere Konsequenz bei den Schülern ist eine Nachhilfelawine, die gerade in sogenannten Eliteschulen gewaltige Ausmaße erreicht. Die PISA-Tests der OECD ergeben, dass global die gesamtschulischen Systeme in Europa die besten Erfolge verzeichnen – und der Wind bläst klar in diese Richtung. Österreichs Lehrergewerkschaft kämpft dagegen, wahrscheinlich bis das System es nicht mehr verkraftet. Als persönliche Bemerkung: Nach meiner Auffassung haben unsere Kinder und Enkel die Schulen im Ausland klar jenen in Österreich vorgezogen. In unserer Familie haben wir 7 Nationalitäten. Die Politik ist in unserer immer schwierigeren Ausbildungssituation und beim aufgezeigten Lehrermangel gefordert, von den erfolgreichen Schulländern zu lernen und diesen zitierten Traumjob Lehrer zu entwickeln. Entscheidend wäre die Aktualisierung der Lehrerausbildung, die zu mehr echten Berufungen für Lehrtätigkeiten führt, wie auch eine Änderung der Schulstruktur. Dr. Heinz Wimpissinger 3400 Klosterneuburg 15 Muslimischer Aufschrei? Pakistan: Mob gegen Christen „Kompass in Kürze“ Nr. 34, Seite 16 „...stürmten rund 7000 Muslime das christliche Viertel der Stadt. Ein Mob meist junger muslimischer Männer brannte 21 Kirchen nieder, zerstörte christliche Häuser und schändete den christlichen Friedhof“, heißt es im „Kompass in Kürze“ über diese „Hetzjagd auf Christen“ nahe Faisalabad. Wo bleibt der Aufschrei der muslimischen Welt oder zumindest der angeblich so zahlreichen dialogbewegten muslimischen Gelehrten? Anderseits: In der FURCHE wird dem schändlichen Ereignis auch nur eine kommentarlose Fußnote gewidmet, wogegen Koranverbrennungen laufend erregt und mit Empathie debattiert werden – und zwar ohne darauf hinzuweisen, dass es keiner Religion zusteht, auf Beleidigungen mit Mord, Totschlag und Brandschatzung zu reagieren, wie es meist der Fall ist. Man stelle sich die Reaktionen in der muslimischen Welt vor, wenn Vergleichbares in einer westlichen Großstadt stattgefunden hätte! Und erst die weltweiten christlichen Zerknirschungsbekundungen, Bitten um Verzeihung und Wiederaufbauangebote! Aus der muslimischen Welt wurde nichts dergleichen bekannt. Mag. Karl Steinkogler 4802 Ebensee Geprägt fürs Leben Lass uns streiten: Sollen Kinder auch in den Ferien lernen? Contra von Manuela Tomic Nr. 34, Seite 14 Mit Verspätung reagiere ich auf das Plädoyer von Manuela Tomic für „arbeitsfreie“ Ferien. Als Kind habe ich die Aufgaben in den Ferien immer als Zumutung empfunden, da war ich in der Volksschule und wurde mit dem Einmaleins und Pflicht-Aufsätzen sekkiert (ein fast ausgestorbener, damals relevanter Ausdruck). Später hat man mich in Ruhe gelassen, meine Eltern fanden, ich müsse selber wissen, was zu tun sei. Oder ich wäre in der falschen Schule. Ausnahme war der Fünfer in Französisch, aber das führt zu weit. Ich war 42 Jahre lang Lehrerin in einer HS=KMS=MS und hatte immer ein blödes Gefühl, wenn ich jemand zu Ferienarbeit verdonnern wollte. Ich habe es tunlichst vermieden. Die Kindheitserfahrungen haben mich für ein ganzes Leben geprägt. Christine Hagel via Mail Am 8. September geht es neuerlich an einem Freitagabend um die „sechs Richtigen“ und 300.000 Euro extra. Lotto Bonus- Ziehung mit Philipp Jelinek TV-Vorturner, „Romy“-Preisträger 2021 und „Sportler mit Herz 2022“: Philipp Jelinek präsentiert am Freitag, dem 8. September 2023 die Lotto Bonus-Ziehung. Dabei geht es selbstverständlich wieder um einen Zusatzgewinn in Höhe von 300.000 Euro, der unter allen bei der Bonus-Ziehung mitspielenden Tipps verlost wird. Annahmeschluss für die Bonus-Ziehung ist am Freitag, dem 8. September um 18.30 Uhr, die Ziehung ist um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Bereits seit mehr als drei Jahren „bewegt“ Philipp Jelinek Jung und Alt, 2021 gab es dafür die „Romy“. Mit dem „Sportler mit Herz 2022“ folgte eine ganz besondere Auszeichnung im Rahmen der Lotterien Sporthilfe Gala. Mit diesem von den Österreichischen Lotterien mit 5.000 Euro dotierten Preis werden Sportler:innen geehrt, die soziales Engagement zeigen. Der Betrag wird dem jeweiligen Projekt der Gewinnerin bzw. des Gewinners zur Verfügung gestellt. Philipp Jelinek im Lotto Studio Foto: © ORF / Günther Pichlkostner IN KÜRZE RELIGION ■ Franziskus sendet in der Mongolei Signale nach China aus Gleich zu Beginn der Mongolei-Reise des Papstes vom 31. August bis 4. September stand nicht das Ziel, sondern der große Nachbar im Mittelpunkt. Auf seinem Weg in die Mongolei überflog Papst Franziskus chinesischen Luftraum. Wie in solchen Fällen üblich, schickte das katholische Kirchenoberhaupt dem Staatspräsidenten ein Grußtelegramm. Peking hatte Katholiken vom Festland die Ausreise Richtung Nachbarland Mongolei verboten. Auf das Telegramm reagierte China indes positiv. Mit Zügen, Flugzeugen und falschen Angaben reisten dennoch einige chinesische Katholiken zum Papst. Um der Überwachung durch Gesichtserkennung zu entgehen, trugen die meisten der etwa 100 Chinesen Gesichtsmasken und Sonnenbrillen. Lediglich Fahnen machten den Papst auf ihre Anwesenheit aufmerksam. Der überraschte, als er nach der Sonntagsmesse in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator einen früheren und den aktuellen Bischof von Hongkong an den Altar holte. Er wollte die Anwesenheit von Kardinal John Tong Hon und Bischof Stephen Chow Sau-yan, „um dem edlen chinesischen Volk einen herzlichen Gruß zu schicken“. Zuvor gab es in den Papstansprachen subtile Andeutungen in Richtung China: Immer wieder bediente sich Franziskus des von der chinesischen Politik gerne genutzten Begriffs der „Harmonie“. GESELLSCHAFT ■ Register für Abtreibungen Das Land Tirol stellt knapp 100.000 Euro bereit, um Schwangerschaftsabbrüche künftig in einem Register zu erfassen. Ziel sei, derzeit stationär und ambulant durchgeführte Abbrüche sowie Gründe dafür zu erheben, um Betreuungswege zu erstellen. Die Grünen und der Frauenring sehen darin Frauenrechte angegriffen. Bereits in der Vergangenheit wurde die Debatte emotional geführt. 2021 hat die katholische „Aktion Leben“ die Bürgerinitiative „Fakten helfen“ mit 59.200 Unterschriften durchgeführt und eine sachliche Debatte eingefordert. Die Erhebung von Fakten und Daten diene einer solchen Versachlichung des Themas. GESELLSCHAFT ■ Ausbau der Kinderbetreuung Bis 2030 sollen 4,5 Milliarden Euro in den bundesweiten Ausbau der Kinderbetreuung investiert werden. 50.000 zusätzliche Plätze sollen damit geschaffen werden. Das bestätigte ÖVP-Familienministerin Susanne Raab in Reaktion auf eine Ankündigung von Bundeskanzler Karl Nehammer. Sie wolle „eine echte Wahlfreiheit“ bei der Gestaltung des Familienalltages garantieren. Mit dem Plan gehe man nun in die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund und Ländern. Die Opposition und die Gewerkschaften warnen vor einem „Marketingschmäh“. Der Ausbau bis 2030 sei zu spät, es brauche bereits jetzt Maßnahmen.
DIE FURCHE · 36 7. September 2023 Literatur 17 Von Brigitte Schwens-Harrant Den verhängnisvollen Weg, der zum Brexit geführt hat, analysierte Jonathan Coe in seinem unterhaltsamen Roman „Middle England“. Er zeigte darin die Polarisierung der englischen Gesellschaft und die Wände, die sich zwischen Freunde und Familienmitglieder geschoben hatten. Mit Ironie ging er gegen Identitätspolitiken vor, eine seiner Figuren erkennt am Golfplatz das Wesentliche von „Deep England“: „An diesem kostbaren, weltabgeschiedenen Ort gab es nichts Wichtigeres als die einfache, klar definierte Aufgabe, einen kleinen Ball mit möglichst wenigen Schlägen in ein kleines Loch zu befördern.“ Auch Coes jüngster Roman „Bournville“ wartet mit vielen Menschen auf, einem weit verzweigten Familienstammbaum, der auf den ersten beiden Seiten aufgezeichnet ist und wie jener der Königsfamilie bis nach Deutschland reicht. Viele Figuren sind aus bisherigen Romanen bekannt. Was den polarisierten politischen Diskurs betrifft, der gern auch heftig im Privaten geführt wird, so geht es in diesem Roman etwas stiller zu. Und das ist, wie sich herausstellen wird, durchaus Konzept. Denn Familie, das ist auch: der Deckmantel des Schweigens. Die Geschichte der Familie wird – mit Mary Lamb, einst Mädchen, dann Mutter und Großmutter, und ihren Söhnen Jack, Martin und Peter als rotem Faden – parallel zu sieben großen Ereignissen der britischen Geschichte nach dem Krieg erzählt: die Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, die Krönung von Königin Elisabeth II am 2. Juni 1953, das Finale der Fußballmeisterschaft, bei dem am 30. Juli 1966 England gegen Deutschland spielte, die Investitur von Charles als Prinz von Wales am 1. Juli 1969, die Hochzeit von Charles und Diana am 29. Juli 1981, die Beisetzung von Diana am 6. September 1997, die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 2020. Bournville statt Bournbrook Die Geschichte Englands wird aber nicht nur durch diese Daten und die Familie repräsentiert, sondern auch durch die Schokoladenfabrik Cadbury, für die Martin, einer der Söhne, arbeiten wird. Bournbrook hieß der Ort, an dem sie als kleines Familienunternehmen gegründet worden war, das sich um die Arbeiter kümmerte, ihnen aber streng puritanisch Alkohol verbot, sodass es zum nächsten Pub weit war. Die Schokolade sollte mit den Franzosen, Belgiern und Schweizern konkurrieren können, ihr Markenname musste einen „Hauch von europäischer Raffinesse und kontinentaler Kultiviertheit verströmen“. Aus „Bournbrook“ wurde also „Bournville“, ein von Schokolade herbeigeträumter Ort. Illustration: Rainer messerklinger Die Geschichte einer Familie, die Entwicklung Englands nach 1945, das Schicksal einer Frau zu dieser Zeit und Herausforderungen der Gegenwart: Jonathan Coes jüngster Roman „Bournville“ erzählt alles zugleich. Von Schokolade herbeigeträumt Mit Fett oder ohne: Der Kampf um die richtige Schokolade bringt nicht nur Kinder gegeneinander auf. Später wird sich der Streit in der EU bis in die absurdesten Details manifestieren. Coe, der in seinen Roman immer wieder unterschiedliche Genres einschiebt, etwa Tagebuchnotizen, fügt dafür ein Protokoll ein, das Sohn Martin 1996 in Brüssel geschrieben haben soll. „Ms. Keaton weigerte sich mit der Begründung, anders als bei einigen Ländern, die sie nennen könnte, liege Kapitulation nicht in der britischen Natur, und ihr Vater habe nicht in der Luftschlacht um England gekämpft, um anschließend französische Schokolade hinunterwürgen zu müssen, worauf Monsieur Guillon antwortete, sein Vater habe nicht in der Résistance gekämpft, um dann fetthaltige Schokolade zu essen, die nur etwas für Kinder sei. Bevor das eine oder andere Mitglied noch irgendetwas beitragen konnte, erklärte der Ausschussvorsitzende die Sitzung für beendet und gratulierte allen zu einem schönen Beispiel gesamteuropäischer Zusammenarbeit.“ Unterhaltsam und lebendig erzählt Coe mit diversen familiären Begegnungen zugleich die Veränderungen Großbritanniens – die Fixierung auf das Gewinnen des Krieges („Victory-in-Europe-Day und der ganze Kokolores“, sagt Mary), die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in der Ära Thatcher. Der Brexit ist kaum Thema, dafür wurde bereits „Middle England“ geschrieben, wohl aber taucht eine der treibenden Kräfte auf, nämlich der blonde, „strubbelhaarige“ Journalist Boris, der sich dann auch als Politiker versuchen wird und von dem der Autor im Nachwort anmerkt: „ob er eine fiktive Figur ist oder nicht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.“ Immer weggeschaut Wie bei jeder Familiengeschichte reicht die Politik zwar in die privaten Ereignisse herein - man versammelt sich etwa vor dem Fernseher, um die Krönung zu sehen, lädt dazu auch jene ein, die keinen Fernseher haben, man weint über Dianas Tod. Auffällig ist in diesem Roman aber, wie wenig Politik und die Veränderungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, in dieser Familie besprochen werden. Über die Unterschiede schaut man lieber hinweg und verschweigt sie. Auch auffälliger Rassismus wird nicht kommentiert. Nur in wenigen Begegnungen, etwa von Peter mit seiner Mutter Mary, wird deutlich, dass diese sehr wohl einiges wahrnimmt und lernt, etwa die Homosexualität des Sohnes zu akzeptieren, selbst wenn sie darüber nicht sprechen kann. Andere wie ihr Ehemann werden nichts lernen und sich nur nach dem Vergangenen sehnen. Es braucht die Schwiegertochter Bridget, die nach Jahrzehnten in einem kurzen Ausbruch voller Vorwürfe gegenüber dem Schwager ihrem Ärger Luft macht, um den Rassismus zu benennen, der in dieser Familie durchaus zu spüren war. Zweiunddreißig Jahre lang habe ihr der Großvater ihrer Kinder kein einziges Mal in die Augen geschaut. Alle hätten es gewusst, niemand habe etwas dagegen unternommen. „Ihr habt nie ein Wort zu ihm gesagt, und weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ihr auf seiner Seite wart. Es Lesen Sie dazu „Jonathan Coe: ‚Middle England‘“ von Brigitte Schwens-Harrant, erschienen am 27.8.2020, auf furche.at „ Unterhaltsam erzählt Coe mit diversen familiären Begegnungen zugleich die Veränderungen Großbritanniens. “ hat also nichts damit zu tun, wer wofür gestimmt hat – ich meine, vielleicht war das Referendum der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, aber um ehrlich zu sein, wen interessiert es schon, ob man Teil der Europäischen Union sein will oder nicht, wen kümmert das schon. Es hat nur alles klarer gemacht als je zuvor. Wo wir stehen. Wo du stehst.“ Als Bridgets Tochter danach ihre Mutter anspricht, die Großmutter hätte sich ja nichts zuschulden kommen lassen, das genüge doch, antwortet ihr Bridget: „Das dachte ich früher auch. Aber man kann sich nicht ewig aus allem raushalten. Irgendwann muss man Partei ergreifen, sich für eine Seite entscheiden. […] Das müssen wir bald alle.“ Persönliche Note Dass dieser Roman eine sehr persönliche Note hat, ist auch ohne die Erklärung des Autors in den Anmerkungen von Anfang an zu spüren. Mit großer Zuneigung und Wärme wird von Mary Lamb erzählt, die einst Sport unterrichtete und recht rasant Auto fahren konnte. Sie hat sich ihrer Lebensentscheidung gefügt; mit einem anderen Mann hätte sie ein völlig anderes Leben geführt, eines, das sich nicht der Bewahrung gewidmet, sondern der Veränderung geöffnet hätte. Dabei erfährt man gar nicht so viel von ihr selbst, sie wird – wie viele Frauen ihrer Generation – eher gespiegelt im Aufwachsen ihrer Kinder und Enkelkinder, in der Geschichte ihrer Familie und des Landes. Gegen Ende, im Kapitel „Der Scheitel meiner Mutter“, wird auf einmal in Ich-Form erzählt. Der Sohn Peter berichtet vom letzten Besuch im Garten seiner Mutter. In der Nacht danach stirbt sie, die Covid-Bestimmungen lassen nicht zu, dass jemand bei ihr ist. Die, die zeitlebens alle um sich versammelt hat, die Fäden zu allen geknüpft hat und sei es über Skype, war zuletzt mit ihren Schmerzen allein. Und so ist „Bournville“ nicht nur der Roman über eine englische Familie, über England nach 1945, über das Leben einer Frau zu dieser Zeit, sondern auch eine berührende Liebeserklärung an eine Mutter. Lesung: Jonathan Coe Gespräch & Dolmetsch: Tessa Szyszkowitz 29. September, 19 Uhr Studio Molière, Liechtensteinstr. 37A, Wien Anmeldung: www.literaturhaus.at Bournville Roman von Jonathan Coe Übersetzt von Cathrine Hornung und Juliane Gräbener-Müller Folio 2023 405 S., geb., € 28,95,–
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