Aufrufe
vor 10 Monaten

DIE FURCHE 07.09.2023

  • Text
  • Furche
  • September
  • Menschen
  • Kinder
  • Welt
  • Schule
  • Wien
  • Gesellschaft
  • Zeit
  • Frau

DIE

DIE FURCHE · 36 12 Gesellschaft 7. September 2023 Wer sind die Menschen, die das gesellschaftliche Gefüge zusammenhalten? DIE FURCHE holt in einer neuen Porträtreihe in unregelmäßigen Abständen sogenannte Systemerhalter(innen) vor den Vorhang. Lesen Sie im Rahmen der Reihe „Gesichter des Zusammenhalts“ auch Christine Dobretsbergers Porträt der Intensivpflegerin Bianca Sünbold (2.8.2023) – auf furche.at. Von Christine Dobretsberger Peter ist gerade einmal drei Jahre alt – und unheilbar an Krebs erkrankt. Die letzten Tage oder Wochen seines viel zu kurzen Lebens soll er nicht im Spital, sondern zu Hause in seiner vertrauten Umgebung verbringen können. Die medizinischen Rahmenbedingungen sind geschaffen, für seine pflegerische Betreuung sorgt Kinderkrankenpflegerin Gabriele Hintermayer. Peter hat einen Tumor, der mit hoher Schmerzempfindlichkeit bei Berührungen aller Art einhergeht. Sein Standardsatz lautet: „Geh weg, schau mich nicht an, greif mich nicht an.“ Er akzeptiert, dass gewisse Tätigkeiten erledigt werden müssen, wie zum Beispiel das An- und Abhängen von Infusionen, aber ansonsten verschließt er sich jeder Form von körperlicher Nähe. Seine Mutter ist Alleinerzieherin und hilft behutsam bei der Pflege mit. Sie weiß um die Zerbrechlichkeit des Lebens ihres Sohnes – und dass jeder einzelne Tag unendlich kostbar ist. Erinnerung aus der Kindheit Für Peters Palliativbetreuung sorgt mit Gabriele Hintermayer jene Frau, die wesentlichen Anteil daran hat, dass Ende der 1990er Jahre mobile Kinderhauskrankenpflege in Wien überhaupt erst möglich wurde. Sich um Kinder zu kümmern, scheint der heute 59- jährigen, groß gewachsenen und charismatischen Wienerin in die Wiege gelegt worden zu sein. Bereits als achtjähriges Mädchen hilft sie als Babysitterin im elterlichen Freundeskreis – und ist fest entschlossen, beruflich einmal mit Kindern zu arbeiten. Ihr Kompetent und präsent Neben Peter hat Gabriele Hintermayer viele weitere Kinder begleitet. Das Mädchen, mit dem sie oben im Bild zu sehen ist, hat sie bis zum 18. Lebensjahr betreut. Gabriele Hintermayer begleitet als Mitgründerin von MOKI-Wien schwerkranke Kinder und deren Familien. Porträt einer Pionierin der Kinder-Hauskrankenpflege – und einer Expertin für Empathie. „In seiner Sterbesekunde war ich da“ „ Chronisch kranke Kinder könnten früher aus dem Spital entlassen werden, wenn ihre Familie zuhause begleitet werden würde. “ Foto: MOKI-Wien erster Berufswunsch ist somit vorprogrammiert: Sie will Kindergärtnerin werden. Da dies zur damaligen Zeit allerdings mit der Voraussetzung verbunden ist, ein Instrument spielen und singen zu können, muss sie gedanklich umdisponieren und beginnt 1980 die Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin. Während Gabriele Hintermayer von den Anfängen ihrer Berufslaufbahn erzählt, kommt eine Erinnerung aus ihrer Kindheit hoch: „Meine erste Erfahrung mit Pflege war eigentlich sehr negativ“, erzählt sie. „Ich bin nach einer Blindarm-Operation im Preyer’schen Kinderspital gelegen. Besuchszeit war nur einmal in der Woche – am Sonntag für zwei Stunden. Als meine Eltern kamen und ich ihnen freudestrahlend erzählte, dass ich wie geplant nach zehn Tagen wieder nach Hause darf, sagte eine der geistlichen Krankenschwestern plötzlich: ,Sicher nicht! Du musst mindestens noch drei Wochen hier bleiben!‘ Mein Schock darüber war so groß, dass meine Eltern die ganze Besuchszeit über Mühe hatten, mich aus diesem Tief herauszuholen.“ Warum diese Schwester so agierte und bewusst Angst verbreitete, ist Hintermayer bis heute ein Rätsel. Schließlich durfte sie damals – wie geplant – nach zehn Tagen wieder das Spital verlassen. Dennoch hat dieses Erlebnis dazu geführt, dass Empathie und Einfühlungsvermögen für sie selbst während ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin zentral wurden. Alternative zum „Drehtüreffekt“ Im Preyer‘schen Kinderspital, dem Ort ihres einstigen traumatischen Erlebnisses, startet sie schließlich ihre eigene Berufslaufbahn. Zunächst arbeitet sie auf der Kleinkinderstation, später zehn Jahre lang auf der Frühgeborenenstation. Tagtäglich beobachtet sie, dass chronisch kranke Kinder und Frühchen eigentlich früher entlassen werden könnten, wenn die Familie zu Hause professionell begleitet werden würde. Auch der sogenannte „Drehtüreffekt“ würde sich reduzieren lassen, ist sie überzeugt: Viele Eltern fühlen sich nach der Spitalsentlassung ihrer Kinder mit der alleinigen Verantwortung überfordert, suchen wieder im Krankenhaus um Rat und Hilfe, die Kinder werden abermals aufgenommen – bis die „Drehtüre“ wieder in Richtung „Entlassung“ weist. Dieser für alle Beteiligten belastenden Situation will Gabriele Hintermayer mit ihren Vorstellungen einer häuslichen Kinderkrankenbetreuung eine konstruktive Alternative entgegensetzen. 1997 ist sie die erste Kinderkrankenpflegerin in Wien, die sich einen „Freiberuflichkeitsschein“ besorgt und neben ihrer Tätigkeit im Spital als mobile Kinderkrankenpflegerin zu arbeiten beginnt. Zu diesem Zeitpunkt ist Hauskrankenpflege für Erwachsene zwar schon ein Thema; dennoch ist es ein steiniger Weg, bis sie das notwendige Vertrauen und Verbündete für diese neue Betreuungsform für Kinder gewinnen kann. Richtig ins Rollen kommt das Projekt erst 1999, als gemeinsam mit fünf Kolleginnen aus Niederösterreich der Verein „MOKI – Mobile Kinderkrankenpflege“ gegründet wird und Gabriele Hintermayer für den Aufbau von MOKI-Wien verantwortlich zeichnet. Chronischer Fachkräftemangel Mittlerweile ist Kinder-Hauskrankenpflege nicht nur etabliert, sondern die Nachfrage weitaus größer als man – Stichwort Pflegekräftemangel – abdecken kann. Wobei der Kinderkrankenpflegesektor bereits lange vor dem allgemeinen Bereich unter Personalmangel gelitten hat. Hauptverantwortlich dafür sind zwei Faktoren, weiß Hintermayer: Der erste lässt sich mit 1997 datieren, als die damals vier Kinderkrankenpflegeschulen auf eine reduziert wurden; der zweite Einschnitt passiert 2016, als infolge des neuen Krankenpflegegesetzes auf eine allgemeine Ausbildung umgestellt wird. Gabriele Hintermayer sieht diese Entwicklungen als „prekär“; umso mehr fordert sie „unverzügliche Maßnahmen“, um einen Notstand in der hochkomplexen Kinderkrankenpflege zu verhindern. Das Einsatzfeld war und ist breit gefächert: Neben der Betreuung von Frühgeborenen und chronisch kranken Kindern kümmern sich die 28 diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen von MOKI-Wien schwerpunktmäßig um Kinder mit schweren Behinderungen oder lebensverkürzenden Erkrankungen. Wobei sich diese Betreuung nicht allein auf das Kind beschränkt, sondern auch die unmittelbar

DIE FURCHE · 36 7. September 2023 Gesellschaft 13 Ist ein Kind pflegebedürftig, wirkt sich das auf die gesamte Familie aus. Entsprechende Unterstützungsangebote wurden bisher von Vereinen gestemmt. Der Ausbau an Angeboten geht nur langsam voran. „ ,Normalität‘ gibt es in diesen Familien oft nicht. Eine gute Balance zwischen Empathie und Abgrenzung ist deshalb für Hauskrankenpflegekräfte noch wichtiger als im Spital. “ Der Kampf für ein Leben in Würde betroffenen Familienmitglieder miteinbezieht, betont Gabriele Hintermayer: „Ich kenne alleinerziehende Mütter von Kindern mit Mehrfachbehinderung, die über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg in der Nacht keine Tiefschlafphasen mehr haben, weil sie mit einem Ohr immer darauf achten, ob das Kind röchelt oder ruhig atmet. Unsere Gegenwart dient auch dazu, diese Eltern zumindest für ein paar Stunden am Tag zu entlasten.“ Wenn es Geschwisterkinder gibt, erkundigen sich die Betreuerinnen von MOKI-Wien zudem, ob es im Freundes- oder Bekanntenkreis Personen gibt, die sich mit ihnen beschäftigen können. Sonst drohen sie in diesem Familiengefüge emotional auf der Strecke zu bleiben. Manchmal organisieren sie auch Ehrenamtliche, um Geschwisterkinder zum Fußballtraining oder zu Freundinnen zu bringen: ein bisschen Normalität in einem herausfordernden Alltag. Empathie und Abgrenzung Wobei „Normalität“ in vielen dieser Familien ein Fremdwort ist: Eine gute Balance zwischen Empathie und Abgrenzung ist deshalb für Hauskrankenpflegekräfte noch wichtiger als im Spital, weiß Gabriele Hintermayer aus langjähriger Erfahrung: „Zu Hause sind wir Gast bei der Familie und betreuen die Kinder mitunter in den persönlichsten Räumlichkeiten, weil sie etwa oft im Schlafzimmer der Eltern liegen. Wenn man Kinder über viele Jahre hinweg pflegt, kennt man alle Sorgen und Nöte der ganzen Familie.“ Wie dennoch ein gesundes Maß an Abgrenzung gelingen kann? Durch den Austausch mit Kolleginnen, lautet Hintermayers Antwort. Und indem man Supervision in Anspruch nimmt, wenn einem selbst bewusst wird, dass man die eigenen Grenzen so sehr öffnet, dass es belastet. Wie sehr man sich persönlich involviert, hängt laut ihrer Erfahrung nicht von der Diagnose oder vom Krankheitsverlauf der Patienten ab; oft sind ganz menschliche Faktoren ausschlaggebend: ob man etwa einen guten Draht zueinander hat, sich auf Anhieb sympathisch ist. Das kann bereichernd und schwierig zugleich sein, erklärt Gabriele Hintermayer. Sie selbst sieht darin jedenfalls eine ganz essenzielle Facette der Kinderhauskrankenpflege. Denn erst durch diese intensive Begegnung mit Patient und Familie kann sie Pflege so leisten, wie sie sich dies für diesen Beruf vorstellt. Peters letzte Reise Das Schicksal des kleinen Peter berührt Gabriele Hintermayer sichtlich bis heute: „Als sich nach vier Wochen sein Zustand verschlechtert hat, ist die Familie zusammengekommen, um sich von ihm zu verabschieden“, erzählt sie. „In einer solchen Ausnahmesituation sind die Menschen sehr offen. Alle hatten das Bedürfnis, mir von Peter zu erzählen – und was er früher alles erlebt hat, als er noch gesund war.“ Am Abend desselben Tages sind dann nur noch Peters Mutter, seine Großmutter und Gabriele Hintermayer bei ihm. Seine Mutter legt sich zu ihm ins Bett, seine Oma ist im Nebenzimmer, sie selbst sitzt dicht an seinem Bett. Um zwei Uhr nachts legt sie aus Müdigkeit ihren Arm auf sein Bett, unabsichtlich kommt es zu einer kurzen Berührung. Obwohl Peter stark sediert ist, zeigt er sogar in dieser Verfassung seine gewohnte Abwehrreaktion. Nach einer weiteren Stunde tastet er plötzlich nach ihrer Hand und greift nach ihrem Finger: „In seiner Sterbesekunde war es ihm wichtig, dass ich da bin“, sagt Hintermayer. „Das sind jene Momente, die alle Belastungen vergessen machen.“ Infos zu MOKI-Wien und Spendenmöglichkeit unter wien.moki.at. Foto: iStock / Jose carlos Cerdeno Von Victoria Schwendenwein Die Themen Krankheit, Sterben und Tod passen auf den ersten Blick nicht mit den Lebenswelten und Bedürfnissen junger Menschen zusammen. Ein Umstand, der in der Vergangenheit für große Pflege- und Gesundheitslücken gesorgt hat. Schätzungen von Pflegeorganisationen zufolge leiden nämlich österreichweit mehr als 5000 Kinder und Jugendliche an unheilbaren sowie lebensverkürzenden Erkrankungen. Rund ein Fünftel davon sind auf professionelle Unterstützung im Alltag angewiesen. Die überwiegende Mehrheit davon wird von mobilen Kinderkrankenpflege- und Hospizdiensten versorgt, die sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre in ganz Österreich etabliert haben. Dazu kommen pädiatrische Palliativbetten und stationäre Kinder-Hospize. Konkret gibt es laut aktuellen Zahlen des Dachverbandes „Hospiz“ zwölf Kinder-Hospizteams, 16 mobile Kinder-Palliativteams, pädiatrische Palliativbetten an fünf Krankenhäusern sowie ein stationäres Kinder-Hospiz mit psychosozialer Ausrichtung. Sie alle haben freilich eines gemeinsam: knappe Ressourcen. Einerseits wird um qualifiziertes Personal gerungen: Derzeit kümmern sich knapp 70 Vollzeitkräfte – aus den Bereichen Medizin, Pflege, Sozialarbeit, Therapie, Seelsorge, Administration – und 237 ehrenamtliche Mitarbeiter(innen) um die jungen Patienten und ihre Familien. Andererseits birgt auch die Finanzierung Herausforderungen. Während die Versorgung im Stationären von Anfang an geregelt war, haben vor allem die mobilen Dienste, die aus privaten Initiativen und Vereinen hervorgegangen sind, lange Zeit gekämpft. Zugleich ist der Bedarf an ihren Diensten stetig angestiegen. Hoffnungen liegen auf neuem Gesetz Ein Teufelskreis, der zuletzt durch Reformen endlich durchbrochen werden sollte. Seit Anfang 2022 wird die Finanzierung – je ein Drittel durch Bund, Länder und Sozialversicherungen – durch das Hospiz- und Palliativfondsgesetz (HosPalFG) geregelt. Als Ziel hat die Regierung einen bedarfsgerechten flächendeckenden Aus- und Aufbau festgelegt. Bis 2024 wurden dafür 108 Millionen Euro an Bundesmitteln veranschlagt. Ab 2025 soll der Bundesbetrag jährlich auf Basis des Vorjahresbetrages aufgestockt werden. Bei den Vertreter(inne)n der verschiedenen Pflegeorganisationen wurde dieser Schritt weitgehend als „Meilenstein“ bewertet. Seitens des Dachverbands „Hospiz“ zeigt man sich in einer aktuellen Aussendung dennoch zurückhaltend. Seit Einführung des Gesetzes sei noch nicht viel umgesetzt worden, heißt es. Es brauche mehr Transparenz bei der Umsetzung. Zugleich wird der Ausbau im Bereich Kinderhospize von den Berufsverbänden und Interessensvertretungen als dringend notwendig betrachtet – vor allem auch, um pflegende Eltern und Familien zu entlasten. Ein erstes Domizil für chronisch kranke Kinder und Jugendliche entsteht derzeit im Wiener „Haus der Barmherzigkeit“ am Standort Seeböckgasse – das „Haus Fridolina“. Bis Jahresende sollen die ersten Bewohnerinnen und Bewohner in das Haus einziehen. Ein multiprofessionelles Team soll dort sowohl Langzeitpflege als auch Kurzzeitangebote zur Entlastung von Familien gewährleisten. Es sind erste Schritte, um bestehende Versorgungslücken zu schließen. Weitere sollen folgen: Zum Beispiel wenn es darum geht, schwerkranke oder behinderte Jugendliche beim Erwachsenwerden zu betreuen. „ Österreichweit leiden mehr als 5000 Kinder und Jugendliche an unheilbaren sowie lebensverkürzenden Erkrankungen. “ Durch die Anstrengungen und medizinischen Fortschritte der vergangen Jahrzehnte ist die Lebenserwartung in diesem Bereich gestiegen. Folglich braucht es auch weitere Anstrengungen, damit die Betroffenen nicht nur eine Kindheit, sondern auch ein Erwachsensein in Würde erleben können. Erkennen, was dahinter steckt. THEOLOGISCHE KURSE Der Theologische Kurs Theologie intensiv erleben. Wissen kompakt Gott neu denken | Ostkirchen | Kunst & Theologie Studienreisen: Ravenna | Jüdisches Prag | Bulgarien Online Module Bibel-Hebräisch | Bibel-Griechisch | Basisinfo Christentum AKADEMIE am DOM Was wirklich zählt. mehr wissen – tiefer fragen – klarer urteilen www.theologischekurse.at jetzt informieren & anmelden

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023