DIE FURCHE · 23 8 International 7. Juni 2023 Von Tobias Müller Am Ende wählte Célia Xakriabá dramatische Worte. „Sie werden indigenes Blut an den Händen haben“, hielt die Abgeordnete der linken Partei PSOL ihren Kolleginnen und Kollegen im brasilianischen Abgeordnetenhaus vor. Es war der Dienstag vergangener Woche. Soeben hatte das Kongressunterhaus in Brasília für ein umstrittenes Gesetz gestimmt, das die Zahl geschützter indigener Territorien begrenzt – und zwar auf diejenigen, die bereits im Oktober 1988, als die brasilianische Verfassung in Kraft trat, als solche markiert waren. Mit 283 zu 155 Stimmen nahm die Kammer den Gesetzesentwurf Nummer 490 an. Amazonasgebiet als Gradmesser Xakriabá (33) gehört selbst dem gleichnamigen Volk an und setzte sich schon vor ihrer politischen Karriere für die Rechte indigener Brasilianer ein. Was sie und andere Aktivisten derart empörte: Das Gesetz könnte Landansprüchen von Indigenen, die zum fraglichen Zeitpunkt 1988 bereits von dort vertrieben waren oder deren Präsenz dort noch nicht offiziell bestätigt war, den Boden entziehen. Die Regierung vermag damit leichter indigenes Land zu beanspruchen und jene, die dort siedeln, vertreiben. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit von Straßenbau- und anderen Infrastrukturprojekten in sensiblen Naturgebieten ebenso wie ihre agrikulturelle Nutzung. Ein schwerer und symbolischer Schlag ist das Gesetzesvorhaben auch für die Regierung des linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der zu Jahresbeginn seinen rechtsextremen Vorgänger Jair Bolsonaro ablöste. Den Schutz der indigenen Bevölkerung und ihrer Protest der Opfer Auch nach dem erhofften Machtwechsel gilt es für die Mitglieder der indigenen Bevölkerung Brasiliens (man geht von rund 305 Völkern aus), weiterhin für ihre Rechte auf die Straße zu gehen. Das neue brasilianische Gesetz für indigenes Land zeigt, dass die Wahl Lulas zum Präsidenten längst nicht alle Probleme löst. Global sieht man: Dem Schutz von Naturgebieten stehen mächtige Interessen gegenüber. Der latente Schatten des Bolsonarismus Territorien schrieb sich Lula, der bereits von 2003 bis 2010 das Amt bekleidete, im Wahlkampf auf die Fahnen und bekräftigte dieses Vorhaben zum Amtsantritt. Es ist eines der offensichtlichsten Anzeichen dafür, dass nun ein anderer Wind weht im größten Land Südamerikas – ein Kontrapunkt zur skandalumwitterten Legislaturperiode Bolsonaros, der Umweltschutz und Landrechte gezielt kommerziellen Interessen und einer verstärkten wirtschaftlichen Ausbeutung des Regenwalds unterordnete. „ Die Abgeordneten stimmten dafür, die Zuteilung geschützter Territorien wieder dem Justizministerium – obwohl ein Ministerium für Indigene existiert – zu unterstellen. “ Vor allem der Schutz des bedrohten Amazonasgebiets, so viel lässt sich jetzt bereits sagen, wird für Lulas dritte Amtszeit als Präsident zu einem Prestigeprojekt – und gerade auf internationaler Ebene, wo man ihn nach seiner Wahl als Hoffnungsträger feierte, zum Gradmesser für deren Bewertung. Er hat den illegalen Goldminen den Kampf angesagt und erklärte noch im April sechs Territorien im Zentrum, Nordosten und im Süden des Landes zu geschützten indigenen Gebieten – die ersten seit 2018. Damit ist dort jede Form von Minenbau verboten und kommerzielle Land- und Holzwirtschaft an strenge Vorgaben gebunden. Lula erklärte, seine Regierung wolle diese Gebiete „legalisieren“ und, wie es im brasilianischen Kontext heißt, „demarkieren“. Rechte Kräfte in beiden Kammern Klar ist: Die Landrechte von Ureinwohnern sowie Umwelt- und Klimaschutz gehören unter der Regentschaft des Partido dos Trabalhadores (PT) zusammen. Durch das neue Gesetz jedoch wird deutlich, dass die Lula-Administration ihre Vorstellungen nicht nach Gutdünken umsetzen kann. Im Enthusiasmus über die Abwahl des faschistoiden Jair Bolsonaro verloren manch westliche Beobachter bald aus den Augen, dass nicht nur Lulas Wahlsieg wesentlich knapper war als erwartet, sondern auch Bolsonaros Partido Liberal (PL) in beiden Parlamentskammern die stärkste Partei ist und diese mit der Hilfe rechter Alliierter dominiert. Über dem vermeintlich strahlenden neuen Brasilien hängt damit der latente Schatten des Bolsonarismus. Mit einem entsprechenden Fanal hatte bereits das neue Jahr begonnen, als kurz nach der Vereidigung Lulas tausende fanatisierte Anhänger des Wahlverlierers Bolsonaro in Brasília das Kongressgebäude, den Obersten Gerichtshof sowie den Präsidentenpalast stürmten, wobei Teile der Sicherheitskräfte sie gewähren ließen (vgl. FURCHE Nr. 3). Der Capitol-Moment Brasiliens unterstrich nachhaltig, wie tief gespalten die brasilianische Gesellschaft ist. Gerade die Situation von Minderheiten sowie Ökologie und Klima stellen in dieser Konstellation neuralgische Punkte dar. Die NGO „Observatório do clima“ kritisierte, die Abgeordneten hätten mit ihrer Entscheidung „eine deutliche Botschaft an das Land und die Welt“ abgegeben: Bolsonaro sei weg, doch die Vernichtung indigener Gemeinschaften und der Umwelt gehe weiter. Die tonangebende Tageszeitung Folha de São Paulo sprach derweil von einem „neuen Rückschlag für Lulas Regierung“. Es war nicht der einzige letzte Woche: Nur einen Tag später stimmten die Abgeordneten dafür, die Zuteilung Foto: APA / AFP / Miguel Schincariol eventuell neuer geschützter indigener Territorien künftig wieder dem Justizministerium zu unterstellen. Lula hatte bei seiner Amtsübernahme extra ein Ministerium für die indigene Bevölkerung ins Leben gerufen und die Aktivistin Sônia Guajajara an seine Spitze berufen. Beschnitten wurde von einer Parlamentsmehrheit auch das Umweltministerium: Nach dem Willen der Abgeordneten verliert es seine Befugnisse bezüglich der Flächennutzung, mit dem die Lula-Administration gegen illegale Abholzung und Landraub vorgehen wollte. Auch das Umweltministerium besetzte sie mit einer Schlüsselfigur: der bekannten Umweltaktivistin Marina Silva, die bereits in Lulas vorherigen Amtszeiten diese Position bekleidete. Beide Umstrukturierungen waren provisorischer Natur und bedurften der Zustimmung des Parlaments. Durch dessen Weigerung sind sie nun nachhaltig beschädigt. Die Rolle des Agrobusiness Inhaltlich steht damit vorerst ein Fragezeichen hinter der Ankündigung Lulas Anfang des Jahres, man werde „alle gegenüber indigenen Völkern begangene Ungerechtigkeiten“ korrigieren. Dass der Senat Gesetz 490 aufhält, gilt als unwahrscheinlich. Verhindern könnte es freilich ein Veto des Präsidenten. Für Lula stellt sich in dieser Konstellation allerdings die Frage, ob er seinen jüngsten Ankündigungen treu bleibt oder dem konzilianten, realpolitischen Regierungsstil, den er in seinen früheren Amtsperioden gegenüber der Wirtschaft pflegte. Konkret sehen die Verhältnisse so aus, dass 300 der 513 Mitglieder des Unterhauses zur Lobby des brasilianischen Agrobusiness gehören. Vorläufig geht von den Anlaufschwierigkeiten der Lula-Regierung auch eine Botschaft an den Rest der Welt: Selbst im Fall eines so essenziellen Klimafaktors wie in diesem Fall des Amazonasgebiets mag es noch so viele wissenschaftliche Belege über dessen Rolle geben. Läuft sein Schutz veritablen ökonomischen Interessen entgegen, werden sich deren Vertreter mit Händen und Füßen zur Wehr setzen. Ihren Schutzpatron Bolsonaro haben sie im brasilianischen Kontext dafür nicht einmal nötig, da seine Agenda ihn überdauert hat und längst nicht nur im rechtsextremen Spektrum anschlägt. Wer in Europa nun ob dieser Entwicklungen zur Bestürzung neigt, täte gut daran, genau zuzuhören, wenn im hiesigen Diskurs wieder einmal diskutiert wird, ob es nicht an der Zeit sei, die Klimapolitik vorübergehend auszusetzen. Auch für diese Forderung braucht es keinen zeternden Faschisten, sondern den französischen Präsidenten Macron oder zuletzt Belgiens Premier De Croo.
DIE FURCHE · 23 7. Juni 2023 Gesellschaft 9 Der liberale „European Way of Life“ sei von außen wie innen bedroht, meint Politikwissenschafterin Ulrike Ackermann. Ein Gespräch über Putin, Populismus und Diskursverengung durch Identitätspolitik. „Da herrscht geistige Foto: Club Alpbach Steiermark / Foto Fischer Entleerung“ Das Gespräch führte Doris Helmberger Was bedroht unsere Freiheit? Geht es nach Ulrike Ackermann, dann sind es neben Russland und China sowie Rechts- und Linkspopulisten auch die enger werdenden Räume des Sagbaren. Mit ihrer Kritik an der „neuen Schweigespirale“ (s. Buchtipp) polarisiert die Politikwissenschafterin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung im deutschen Bad Homburg auch selbst. Was kritisiert sie? Und wo liegen generell die größten Bedrohungen für liberale Demokratie und Menschenrechte? DIE FURCHE hat mit ihr im Rahmen des diesjährigen Pfingstdialogs „Geist & Gegenwart“ – Thema: „The European Way of Life. Anspruch und Wirklichkeit“ – auf Schloss Seggau gesprochen. DIE FURCHE: Frau Ackermann, für die meisten gehören liberale Demokratie und Menschenrechte zu Europas Identität. Für Sie auch? Ulrike Ackermann: Sie sind tatsächlich ein wesentlicher Teil der europäischen Geschichte und zählen zu den wichtigsten Errungenschaften, die wir für die westliche Zivilisation benennen können. Über viele Jahrhunderte und in blutigen Kämpfen haben wir die Demokratie erstritten – beginnend mit der griechischen Polis, wo sich die ersten Farben der politischen Freiheit und des Rechtsstaats herausgebildet haben. Eine weitere wichtige Station war das römische Recht mit der Unterscheidung von mein und dein. Ganz wesentlich waren natürlich auch das Christentum und das Judentum – durch die Herausbildung des Gewissens und der Verantwortlichkeit des Einzelnen vor Gott. Ein großer Schub kam dann durch die Renaissance, die Aufklärung und natürlich durch die Französische Revolution in der Formulierung der Menschenrechte. All das ist aber immer auch im Kontext mit den Entwicklungen in Amerika zu sehen, weil all diese europäischen Gedanken durch Migrationsströme und Flucht vor Verfolgung über den Atlantik gebracht worden sind. Insofern ist Amerika ohne Europa nicht denkbar – aber umgekehrt ist auch Europa und die Weiterentwicklung seiner Werte nicht ohne Amerika denkbar. DIE FURCHE: Wenn wir von der Geschichte in die Gegenwart kommen, so orten viele derzeit aber große Gefährdungen dieser liberalen Demokratie samt ihren Freiheiten und Rechten – und zwar von außen wie von innen. Woher kommt aus Ihrer Sicht derzeit die größte Bedrohung? Ackermann: Natürlich von außen – an erster Stelle durch den russischen Krieg gegen die Ukraine. Denn dieser Krieg wendet sich ja nicht nur gegen dieses Land. Er begann bereits 2014 mit der Eroberung der Krim als Antwort darauf, dass die Ukraine sich dem liberalen Europa anschließen wollte. Aber Putin hat schon lange vorher und völlig unverhohlen Kampfansagen an den westlichen Liberalismus gemacht. DIE FURCHE: Was meinen Sie konkret? Ackermann: Putins Chefideologe, Alexander Dugin, hat in seinen Büchern ganz klar gesagt, dass man die westliche „Dekadenz“ bekämpfen müsse. Auch rechtsradikale Bewegungen wurden von Putin ganz offen unterstützt, um die europäischen Gesellschaften zu spalten. Und das geht ja zum Teil auch auf. Eine weitere Bedrohung ist natürlich China. Das ist jetzt nicht mehr nur einfach ein Wettbewerber unter anderen, sondern eine immer militanter gewordene digitale Diktatur. Die Gewissheit nach 1989, dass sich unser westliches Modell liberaler Demokratie und Marktwirtschaft einfach automatisch in der Welt verbreiten und durch seine Überlegenheit überall siegen würde, gilt also nicht mehr. Andererseits haben wir natürlich auch Krisen innerhalb unserer westlichen Gesellschaften, die nicht nur durch Putin ausgelöst wurden. Etwa jene im Zuge der digitalen Revolution, die Millionen Arbeitsplätze freisetzen könnte. Oder die Spaltung von Stadt und Land. Die politische Klasse hat viel zu spät erkannt, was da auf uns zukommt. DIE FURCHE: Nämlich was? Ackermann: Dass die klassischen sozialen, religiösen oder beruflichen Bindungskräfte an die alten Volksparteien überhaupt nicht mehr funktionieren. Überall sind die Wechselwähler die größte Wählergruppe geworden. Und all diese Umwälzungen und Krisen – Finanzkrise, Migrationskrise, Wachstumskrise, Corona, Inflation, Klimakrise – haben dazu geführt, dass kaum noch Zukunftsoptimismus zu finden ist, sondern viele Angst haben: um ihren Arbeitsplatz, aber auch um ihren bisherigen Lebensalltag. In solchen Zeiten haben dann populistische Führer – egal ob auf linker oder rechter Seite – Hochkonjunktur. Die rechte und die linke Seite werden also stärker – und die Mitte schwächer. DIE FURCHE: Was aus Ihrer Sicht noch dazukommt, ist, dass die klassischen Volksparteien „ihren Kompass verloren“ hätten, wie Sie sagen ... Ackermann: Ich spreche hier auch von „geistiger Entleerung“. Die Volksparteien haben auf die neuen Herausforderungen programmatisch zu wenig zu sagen, sie sind zu sehr auf sich selbst bezogen und haben, wenn sie an der Macht waren, gerade in großen Koalitionen so getan, als sei der Staat ihr Eigentum. Zugleich haben sie nicht gesehen, dass die Kluft zwischen Bevölkerung und politischer Klasse immer größer wird. Und das bereitet den Boden für Infragestellungen von populistischer Seite – nach dem Motto: Wir brauchen eine starke Hand! „ Die politische Klasse hat viel zu spät erkannt, was durch die Spaltung von Stadt und Land auf uns zukommt. “ Unter „Merkels Zeit ist vorbei“ (19.2.2020) finden Sie auf furche.at ein Interview von Oliver Tanzer mit Ulrike Ackermann. Diese Forderung sieht man übrigens auch bei wirtschaftlichen Akteuren, die gerne mit Diktatoren verhandeln, weil sie sagen: Ach, da sind die Wege schneller, da brauchen wir nicht so lange Verfahren. Deshalb ist China sehr beliebt oder die Golfstaaten, wo man nicht unbedingt auf die Werte schaut. Vor diesem Hintergrund wachsen dann die Zweifel: Ist dieser Weg, den wir über viele Jahrhunderte genommen haben, tatsächlich erfolgreich und gut? Oder ist das nicht alles eine Sackgasse? DIE FURCHE: Bleiben wir noch bei der „geistigen Entleerung“ der Volksparteien. Sie selbst haben einst Angela Merkel in der FUR- CHE für ihren Mitte-Kurs scharf kritisiert . Doch auch ihr Gegenbild, Sebastian Kurz, ist mittlerweile Geschichte. Zugleich gibt es in der lange profillosen SPÖ – zumindest in Österreich – durch Andreas Babler womöglich eine Re-Ideologisierung. Wie sehen Sie diese Entwicklungen – im europäischen Kontext und in Österreich? Ackermann: Viele haben der CDU vorgeworfen, sich immer mehr von ihrem Markenkern entfernt zu haben. Es gab unter Merkel eine „Sozialdemokratisierung der CDU“ – und die AfD greift nun viel davon ab, was früher klassischer Konservatismus war. Zugleich hat sich die SPD unter Gerhard Schröder mit Hartz 4 und den Sozialreformen von linken Positionen zum Pragmatismus hin entwickelt. Alle haben also um die Mitte gerungen, am Ende kam es zu Angleichungen. In Frankreich wiederum gibt es diese alten Parteien faktisch gar nicht mehr. Emmanuel Macron hat zwar den Versuch der Erneuerung gestartet, ist aber immer selbstherrlicher geworden. Und wenn ich mir einen Kommentar zu Österreich erlauben FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE