DIE FURCHE · 23 24 Theater 7. Juni 2023 Vermehrt junge Menschen strömen zu den Wiener Festwochen. Der scheidende Intendant Christophe Slagmuylder hat sie mit seinem Programm in den Blick genommen. Von Christine Ehardt Den Verlauf eines Lebens zeichnet das diesjährige Wiener-Festwochen-Programm nach; dem Lebensabschnitt der Kindheit und Jugend ist dabei ein besonderer Schwerpunkt gewidmet. Der scheidende Intendant Christophe Slagmuylder setzt verstärkt auf Stücke von und über Jugendliche sowie auf Veranstaltungen, die sich an ein FEDERSPIEL Pinocchio Die Romanvorlage von Carlo Collodi aus dem Jahr 1883 wurde ergänzt mit Themen aus Umweltbildung, Kapitalismuskritik sowie Identitätsfragen zu Gruppenzwang und Geltungsdrang. Der Kampf gegen niemand Seit den späten Achtzigerjahren erreicht ein Aufruf Politik, Literatur, Kunst und Pädagogik gleichermaßen: Nationalismus bekämpfen! Nationalismus ist schlecht – hören wir einerseits – und erleben ihn andererseits überall und täglich. Schon als Kind hat es mich interessiert, was österreichische Nationalisten sich eigentlich von Nationalisten in Burkina Faso erwarten. Und ich kam zum Ergebnis, dass es darauf nur zwei mögliche Antworten gibt: 1. Nationalisten in Burkina Faso müssen untröstlich sein, keine Österreicher zu sein, und versuchen, es zu werden. 2. Nationalisten in Burkina Faso müssen Nationalisten ihres Staates sein und dürfen Österreicherinnen und Österreicher nicht leiden können. Die Umfragen, die ich bei Personen durchführte, die ich für Nationalisten hielt, brachten nichts ein. Man gab mir ausweichende Antworten, und zweitens musste ich erkennen, dass es in Österreich gar keine Nationalisten gab. Zumindest bekannte sich niemand dazu. Mehr Jugend fürs Theater Als Ivica Vastić bei der WM 1998 ein Tor gegen Chile schoss, titelte die Kronen Zeitung: „Ivo, jetzt bist du ein richtiger Österreicher“. Die Gegenprobe funktionierte nicht. War Vastić zuvor ein unrichtiger Österreicher gewesen? Er hatte die österreichische Staatsbürgerschaft. Aber war das vielleicht nicht genug? Müssen Zuwanderer bei der WM ein Tor gegen Chile schießen, um richtige Österreicher zu werden? Nationalismus ist keine Ideologie. Vom Uns und vom Wir wird dann geredet, wenn man eine Zusammengehörigkeit beschwören möchte, deren Grundlage nur Imagination ist. Und diese Imagination soll in den Angesprochenen eine emotionale Reaktion auslösen: das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, benachteiligt worden zu sein. Es ist ein Hass gegen niemand, ein Kampf gegen niemand. Wer nicht gegen Chile spielt, kann auch kein Tor gegen Chile schießen. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser Foto: Diana Pfammatter „ Ein Märchen für die ganz jungen Theatergäste wurde mit der magisch-fantastischen Inszenierung ‚Pinocchio‘ der Künstlerin Wu Tsang gezeigt ... “ junges Publikum wenden. Dass es nicht schwer sein muss, junge Menschen fürs Theater zu begeistern, zeigt sich am Zustrom des jugendlichen Festivalpublikums, das tatsächlich vermehrt die Besucherreihen füllt. Angebote wie das U30-Ticket oder der digitale Festwochen-Kompass, der über einen Fragenkatalog eine Auswahl an Stücken auf Basis eigener Interessen bietet, fördern das. Auch die Spielstätten lenken den Fokus auf die junge Generation in der Stadt. Doris Uhlichs Performance „Melancholic Ground“ findet auf einem Spielplatz statt, die dänische Choreografin Mette Ingvartsen kreierte eine Skateboard-Arena im Museumsquartier und holte sich für ihre Tanzperformance „Skatepark“ Inspirationen bei den Freizeitorten ihrer Kinder. Ein Märchen für die ganz jungen Theatergäste wurde mit der magisch-fantastischen Inszenierung „Pinocchio“ der amerikanischen Künstlerin Wu Tsang und ihrer Theatergruppe „Moved by the Motion“ gezeigt. Die abenteuerliche Reise der zum Leben erwachten Holzpuppe ist für alle ab sieben Jahren gedacht, erreicht mit ihrer bezaubernden Bühnensprache aus Musik, Animation, Licht und Schauspiel aber weit größere Publikumsschichten. Der Theateradaption der Romanvorlage Carlo Collodis aus dem Jahr 1883 wurde ein wilder Themenmix aus Umweltbildung, Kapitalismuskritik sowie Identitätsfragen zu Gruppenzwang und Geltungsdrang hinzugefügt. Eine vorlaute Amsel (Kay Kysela) und eine sanftmütige Schnecke (Deborah Macauley) begleiten die Zuschauer durch den ruhigen Fluss der Vorstellung. Die achtzigminütige Aufführungsdauer wird gegen Ende aber nicht nur den Kindern zu lang, und auf so manche Gute-Laune-Schlussweisheit („Öffne dein Herz“) hätte verzichtet werden können. Weniger fantastisch als politisch war die Stimmung bei der musikalischen Gruppenperformance „Singing Youth“ im Schauspielhaus. Die ungarische Theatermacherin Judit Böröcz, der bildende Künstler Bence György Pálinkás und der Komponist Máté Szigeti diskutieren die wechselvolle Geschichte der gleichnamigen Skulptur des griechischen Bildhauers Memos Makris vor der Puskás Aréna in Budapest. Das Sportstadion und sein Denkmal sorgten nicht erst seit der Fußball-Europameisterschaft im Jahr 2021 für Schlagzeilen, sondern wurden bereits zu Zeiten des Kommunismus für politische Zwecke vereinnahmt. In einer gesungenen Collage aus Popsongs, Politreden (vor allem Viktor Orbáns), Zeitungsausschnitten und historischen Kampfliedern spüren sechs junge Sänger und Sängerinnen den spannungsvollen Zusammenhängen von Gegenwart und Vergangenheit Ungarns mit kraftvollen Stimmen und minimalistischen Bewegungsabläufen nach. Die so satirische wie nüchterne Aufführung verdeutlicht eindrücklich, wie Sport und Kultur immer wieder aufs Neue für Indoktrination und Propaganda genutzt werden. Gespräch im Parlament Bereits zum Festivalauftakt brachte die Wiederaufnahme des letztjährigen Überraschungshits „Close Encounters“ der italienischen Künstlerin Anna Rispoli (sie hielt 2021 die Festwochen-Eröffnungsrede) die Stimmen junger Menschen zu Gehör. Dieses Jahr fand ihre bemerkenswerte Arbeit, die gemeinsam mit Jugendlichen aus Österreich entstand, im Sitzungssaal des frischsanierten Parlamentsgebäudes statt. Dort, wo normalerweise Politiker ihre Reden schwingen, verfolgte man über Kopfhörer Teile des Gesprächs zwischen einem Schüler und einem Lehrling, die man als Theaterbesucher mit einem jungen Performanceteilnehmer an der Seite live nachsprechen und so zu einem Dialog zusammenführen konnte. Der „Deeptalk“ über Zukunftssorgen, Ängste und Meinungen Heranwachsender geht nahe und fordert nicht nur zum Einfühlen auf, sondern vergegenwärtigt eindringlich aktuelle Forderungen und Herausforderungen junger Menschen. In Joël Pommerats „Contes et légendes“ („Märchen und Legenden“), das ab 14. Juni zu sehen ist, verhandelt der französische Regisseur ebenfalls die Probleme Jugendlicher von heute, setzt seine Coming-of-Age-Geschichte aber in ein futuristisches Setting. Hier stehen Roboter den Schülern als soziale Lernhelfer zur Seite. Angesichts der Erfahrungen von Distance-Learning und ChatGPT ein durchaus realistisch anmutendes Szenario, das einmal mehr die Sicht unserer Gesellschaft auf junge Menschen sowie die Sicht junger Menschen auf unsere Gesellschaft bei den heurigen Festwochen öffnet. Joël Pommerat: Contes et légendes Odeon, 14., 15., 16. Juni www.festwochen.at
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