DIE FURCHE · 23 14 Diskurs 7. Juni 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Wir brauchen den teilnahmsvollen Blick Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Ihre apodiktische Feststellung, „bewunderndes Anschauen gibt es nicht“, hat mich getroffen. Sie schränken zwar ein: „wenn es sexualisierte Blicke sind“. Heißt das, dass der „männliche Blick“ immer nur ein sexualisierter sein kann? Oder: Woran erkennen Sie, dass ein Blick „nicht sexualisiert“ ist? Ich jedenfalls werde mich hinfort einer strengeren Selbstbeobachtung unterziehen. Von Langeweile, liebe Frau Hirzberger, werde ich noch nicht heimgesucht. Vor einigen Tagen habe ich einen Vortrag über den geliebten Novalis gehalten. Und das Schönste dabei war – wie so oft – die Vorbereitung. Das Eintauchen „ Liebe Frau Hirzberger, kleiden Sie sich einmal am Tag in Poesie: Dann werden Sie unverwundbar! Glauben Sie mir, dem alten Romantiker! “ in eine Welt-Anschauung (!), in die Romantik, in der alles mit allem zusammenhängt, Diagnose und Heilung einer verwundeten Welt! Poesie ist wirklich ein Schutz gegen das Verbleichen der Ideen in der Alltagswäsche der Routine. Im Alltagsgewäsch und Geschwätz. Liebe Frau Hirzberger, kleiden Sie sich einmal am Tag in Poesie: Dann werden Sie unverwundbar! Glauben Sie mir, dem alten Romantiker! Noch einmal: Anschauung. So wie Poesie brauchen wir den wohlwollenden Blickkontakt zum Leben. Wir sind ja und bleiben Babys! Wollen „angesehen“ sein! Bei dem besagten Vortrag saß eine sehr hübsche Frau (oh nein, das muss ich jetzt streichen!), also da saß eine Frau in meiner direkten Blickrichtung (sie war wirklich schön, was kann ich dafür!), aber ich konnte den Blick nicht zu ihr heben, denn sie hat während des ganzen Vortrags so unendlich teilnahmslos geschaut! Und mir wäre der Enthusiasmus eingefroren und der Sprechmund ausgetrocknet, hätte ich sie angeschaut. Was wir für unser Leben so notwendig brauchen, ist der teilnahmsvolle Blick! Ich habe unlängst von einer Kommunikationstrainerin gehört, man solle – um in einem Gespräch souverän zu wirken – den Blick beim Zuhören vom Gegenüber abwenden. Welch ein Schwachsinn! Die schönsten Momente – einst bei Gesprächen für die Sendung „Menschenbilder“ – habe ich beim Zuhören im Anschauen des Gesichts erlebt. Dann ist etwas nicht Nennbares zurückgekommen! Ich bin sicher, dass es auch zu hören war. Es sind doch die „erleuchteten Augen des Herzens“, mit denen wir reden können und hören. Sonst hätte ja der Verfasser des Epheserbriefs (1,18) nicht so begeistert davon geschrieben. Munch? Lieber Rembrandt! Und weil mir so überhaupt nicht fad ist, bin ich – leider, leider – noch immer nicht barfuß in den Wald gelaufen. Kommt aber sicher. Wie versprochen. Einstweilen bemühe ich mich, möglichst oft die vierundvierzig Stufen in mein Dach- und Studierkämmerchen auf den Zehenspitzen zu gehen, weil es mir meine liebe Physiotherapeutin dringend geraten hat. Aber das ist natürlich kein Waldersatz! Ihre Feststellung, dass Sie „kein Gemälde“ sein wollen, hat mich zu einem Gedankenspiel verlockt: Was, wenn ich mich in ein Gemälde verzaubern könnte? Möchte ich „Der Schrei“ von Edvard Munch sein? Manchmal vielleicht. Viel lieber aber Rembrandts verschmitztes „Selbstbildnis als Zeuxis“ – und ich würde mich wundern, wie gelangweilt manche Menschen an mir und anderen großartigen Bildern vorübergehen können. Alles Liebe für Sie, Von Hermann Wasserbacher und Eva Zeglovits In FURCHE Nr. 39 29. September 2016 Wie empfinden die Menschen die Wahlwiederholung samt Verschiebung? Welche Gefahren birgt dieses Tohuwabohu? Eine Wahlbeobachtung. Verflixt und zugeklebt Dieser Tage erlebt dieses Land ein Déjà-vu der Sonderklasse: Ein wichtiger politischer Entscheidungsträger wurde nach einem endlosen Hin und Her – das gespickt war von Intrigen, verstörenden Machtkämpfen, Auftritten von beleidigen Leberwürsten, einer Giraffe, die mitkandidierte, einem Outing, wie viel Nichtwissen in puncto Ideengeschichte (Stichwort Marxismus) vorhanden ist, und Wahlhelfer(inne)n, die das Zählen, Sortieren, Kontrollieren verlernt haben – namentlich bekanntgegeben. Der neue SPÖ-Vorsitzende soll Andreas Babler heißen (ohne Gewähr). In ausländischen Medien liest man nun auffällig oft von der „österreichische Wurschtigkeit“, die sich ähnlich wie 2016 Bahn gebrochen hat. Zur Erinnerung: Damals galt es, den dritten Anlauf zu nehmen, um den Bundespräsidenten zu wählen. Zunächst hob der Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Wahl wegen Verstößen gegen das Wahlgesetz auf, wodurch die Wiederholung des zweiten Wahlgangs erforderlich wurde. Dieser wiederum musste verschoben werden, weil der Klebstoff auf den Briefwahlzetteln nicht hielt. Im FURCHE-Fokus „Die ratlose Republik“ versuchten damals Expert(inn)en des Instituts für empirische Sozialforschung den peinlichen Lapsus einzuordnen: Seit bald einem Jahr beschäftigt sich die interessierte Öffentlichkeit nun mit der Bundespräsidentenwahl 2016. Runde um Runde wurde der Hürdenlauf in die Hofburg verlängert. Dabei hat der seit Monaten dauernde Wahlkampf mehr zur Diskussion gestellt als bloß die Kandidaten und ihre Positionen. Zunächst stand nur die Meinungsforschung in der Kritik – von Einflussnahme und Publikationsverboten war die Rede. Spätestens seit der Stichwahl geht es aber um viel mehr: um das reibungslose Funktionieren der Demokratie, um die Legitimität der Briefwahl und um die Performance der Behörden beim Abwickeln der Wahl – und nicht zuletzt um den guten Ruf unserer Demokratie. [...] Wenn alles gut geht und niemand das Ergebnis anficht bzw. keiner Anfechtung stattgegeben wird, wird der neue Präsident Ende Jänner 2017 angelobt – mehr als ein Jahr nach der Kandidatennominierung. [...] Demokratie wird angreifbar Wähler mögen zustimmen, dass mit fehlerhaften Briefwahlkarten keine ordnungsgemäße Abwicklung möglich und die Verschiebung unumgänglich ist. Es bleibt aber ein Nachgeschmack in Richtung „Die kriegen das einfach nicht hin!“. [...] Es bleibt auch der Nachgeschmack, dass sich eine Wahl nicht unter gleichen Bedingungen wiederholen lässt. Politisch kann zwischen Mai und Dezember viel passieren, was Auswirkungen auf die Wahl hat. [...] Wenn auch nur der Foto: APA / Helmut Fohringer leiseste Zweifel daran besteht, dass hier nicht ordentlich gearbeitet wird, dass der Wählerwille nicht korrekt abgebildet wird, dann wird die Demokratie angreifbar. Dann wird zwar einer der beiden Kandidaten auch die letzte Hürde in die Hofburg nehmen, aber es könnte sein, dass der eine oder andere Wähler diese Hürde nicht mehr nimmt – und enttäuscht von der Wahl zurückbleibt. 3800 AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) 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DIE FURCHE · 23 7. Juni 2023 Diskurs 15 Bildungswissenschafter Stefan T. Hopmann hat in FURCHE Nr. 19 „Die Matura als Schein“ betrachtet. Doch das greift zu kurz, die wahren Probleme liegen woanders. Eine Replik aus Lehrersicht. Jenseits von Symbolik und Selektion Wir Menschen lieben Rituale. Zu diesen gehört mittlerweile, dass Kundige und weniger Kundige jedes Jahr ihre Meinungen zum Thema Matura veröffentlichen. Der Bildungswissenschafter Stefan T. Hopmann gibt diesem Ritual heuer eine originelle Wendung. Er stellt die These auf, dass die Matura ein überflüssiges Ritual darstelle. Das Prozedere habe mehr mit Schamanentum zu tun als mit … Womit eigentlich? Hopmanns These ist pointiert formuliert. Aber ich halte sie für eine grobe Vereinfachung. Denn die neue teilzentrale Matura ist in mehrfacher Hinsicht eine Verbesserung gegenüber der früheren Variante. Erstens: mehr Objektivität und Notenwahrheit. Lehrkräfte haben nicht mehr die Möglichkeit, ihren Klassen vorab Prüfungsthemen mitzuteilen – das geschah selbstverständlich immer im Namen der Humanität. Zweitens: ein positiver Washback-Effekt. Die Lehrkraft kann einer fünften Klasse sagen: „Seht her, ich weiß nicht, welche Themen zur schriftlichen Matura kommen, ich weiß nicht, welches Themengebiet ihr bei der ,Mündlichen‘ ziehen werdet. Aber ich kann euch da rauf vorbereiten, und niemand wird bevorzugt!“ So kann die Lehrperson zu einem Coach oder einer Lernbegleiterin werden, was die Bildungswissenschaft seit Jahren fordert. Es gibt ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Vorbereitung. Foto: Privat möglichen, die schriftliche Matura doch noch positiv abzuschließen. Wie reliabel oder objektiv sind solche Leistungsfeststellungen ohne externe Kontrolle, auch in Relation zu einer mehrstündigen schriftlichen Klausur? In die Beurteilung der schriftlichen Klausuren soll auch weiterhin die Jahresnote einbezogen werden. Das kann bedeuten: Die Lehrkraft gibt im Jahreszeugnis vorsorglich ein „Befriedigend“; klug vorausschauend, dass das „Nicht genügend“ auf die Klausur dann ein „Genügend“ als Gesamtnote werden muss. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Georg Cavallar „ Für einen viel zu hohen Prozentsatz ist das Recht auf Bildung nicht gewährleistet. Das ist unser Hauptproblem. “ Problematisch ist zudem, dass es seit der Pandemie keinen externen Vorsitz bei der mündlichen Matura mehr gibt (vgl. den Gastkommentar von Martin Deutsch in der letzten FURCHE). Das verringert die externe Kontrolle und damit die angestrebte Objektivität. Mit diesen Unzulänglichkeiten wird der Versuch einer validen und objektiven Zen tral matura an entscheidenden Punkten vom Bildungsministerium unterminiert. Warum eigentlich? Steht der politische Wille dahinter, dass nicht zu viele Kandidat(inn)en bei der Matura „durchfallen“ sollen? Wie wäre es, darüber eine offene Diskussion zu führen? Statt – wie das vielerorts geschieht – darüber zu jammern, dass viel Sinnvolle Kritik ist angebracht Das birgt zugegebenermaßen die Gefahr des teaching to the test (vgl. die aktuelle AK-Studie, siehe Seite 16). Andererseits ist das gezielte Vorbereiten etwa in Englisch (monologisches und dialogisches Sprechen) nicht nur kein Problem, sondern sogar höchst wünschenswert. Sinnvolle Kritik an der nicht mehr ganz neuen Matura ist aber durchaus angebracht. Baustellen sind die schriftlichen Klausuren; etwa in Deutsch, wo Lehrkräfte gezwungen sind, die sprachliche Richtigkeit von Texten ganz schwach zu gewichten. Ähnliches gilt für die Schreibaufgaben bei der Englischmatura. Diese machen nur 25 Prozent der Gesamtnote aus. Fragen drängen sich auch bei den 20-minütigen „Kompensationsprüfungen“ auf, die es erzu viele „unserer Maturant(inn)en“ nicht mehr studierfähig seien, nicht mehr anspruchsvolle und lesbare Texte verfassen können, mit komplexer Lektüre überfordert seien? Dieses Gesudere ist ein Ritual, aber völlig wirkungslos. Frühe Weichenstellungen sind wichtig Aber ich bin verhalten optimistisch. Offensichtlich haben die Verantwortlichen gelernt und vermeiden etwa Laberthemen bei der Deutschmatura oder Aufgabenstellungen in der Mathematikklausur, die de facto eine höhere „Textlesekompetenz“ erforderten als in Deutsch. Auch die heurige Englischmatura war anspruchsvoller als während der Pandemie, was zu einer Verringerung der grade inflation, der Noteninflation, beigetragen hat. Stefan T. Hopmann kritisiert an der Matura fehlende Chancengerechtigkeit. Es ist zutreffend, dass das österreichische Schulsystem (wieder) weniger Chancengleichheit bietet, als es sollte – obwohl auch hier differenziert und die Legende der ererbten Bildung hinterfragt werden sollte. Die teilzentrale Matura ist jedenfalls der falsche Watschenbaum. Relevant sind nämlich bereits die Weichenstellungen im Vorschulalter – Stichwort „frühkindliche Förderung“ – und die Wahl der Volksschule. In diesen Bereich müssen viel mehr Aufmerksamkeit und Geld investiert werden. Für einen viel zu hohen Prozentsatz eines Jahrgangs ist derzeit das Recht auf Bildung nicht gewährleistet. Zehn bis 20 Prozent der Menschen über 15 Jahre in Österreich sind funktionale Analphabeten: Das ist unser Hauptproblem (und eine Katastrophe) – nicht die Frage, ob die Matura ein Ritual darstellt, mit den Schulverantwortlichen als Schamanen, die Inszenierungen lieben. Die teilzentrale Matura bedeutet insgesamt mehr Notenwahrheit, aber es fehlt der Mut, diese konsequent umzusetzen. Vielleicht haben wir es mit einem typisch österreichischen Phänomen zu tun: Die Idee ist brauchbar, aber es mangelt an sinnvoller Umsetzung. Mit halben Lösungen sind nur wenige zufrieden. Der Autor ist AHS-Lehrer, Buchautor, Dozent für Neuere Geschichte und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Ich bin disqualifiziert Jüngst hatte ich an dieser Stelle des Kanzlers Lieblingssager „Es gibt keine Denkverbote“ moniert. Mein Argument: Weil der Mensch sich nur selbst verbieten kann, was er denkt, sollte er das auch tun – damit sich zweifelhafte Gedanken nicht nach draußen Bahn brechen. Nun schreibt mir ein Leser; fordert mich heraus. Er will, dass ich meine Meinung zu Hitlers Geburtshaus kundtue – also dazu, was mit diesem geschehen soll. Ein Appell, der mich demaskiert hat. Dazu später. „Es gibt keine Denkverbote.“ Damit schlawinert sich Nehammer durch, dann muss er keine Stellung beziehen. Eines Kanzlers unwürdig – finde ich. Aber was weiß ich. Ab Tag eins meiner Journalistenlaufbahn habe ich immer wieder E-Mails erhalten, in denen ich dazu aufgefordert wurde, einen Artikel über Hitlers Geburtshaus zu verfassen. Dazu gekommen ist es nie. Meist betreute einer der Kollegen das Thema federführend. Ich gestehe: Ich war stets heilfroh, wieder einmal davongekommen zu sein. Womit ich beim Demaskieren wäre. Kann man nicht einfach alles falsch machen, wenn man sich zu Hitlers Geburtshaus äußert? Oder schreibe ich mich ausgerechnet mit diesem Satz um Kopf und Kragen? Als die Idee mit der Polizeistation aufkam, war ich fast erleichtert. Endlich gibt es eine Lösung für dieses Schreckensgemäuer, dachte ich pragmatisch. Was mich disqualifiziert. Sollte ich stattdessen wie so manche dafür plädieren, das Bauwerk abzureißen, an seiner Stelle ein „Mahnmal der Schande“ zu errichten? Ich kann allerdings auch dem Vorschlag etwas abgewinnen, auf dem Grundstück einen unzugänglichen Wald zu pflanzen. Gegenargumente gibt es für beides. Und die ehemalige Besitzerin, so hört man, ist ob der Enteignung empört. Muss mich das empören? Ich bin kein Fan von Empörungsjournalismus. Darf ich das so schreiben? In einem Text, in dem ich Hitlers Geburtshaus thematisiere? Lieber Leserbriefschreiber, Sie sehen, ich kann mich zur Causa nur unangemessen äußern. Weil ich mich weggeduckt habe. Ich fürchte, da bin ich nicht allein. Warum sonst hätte sich der Gedanke mit der Polizeistation nach draußen Bahn brechen können? NACHRUF Bei Martin Buber in die (Gesellschafts-)Schule gegangen In den letzten Jahren ist es stiller geworden um den Kommunitarismus, der jedenfalls Ende des 20. Jahrhunderts in den Diskussionen um politische Theorien einen wichtigen Platz einnahm. Bill Clinton oder Tony Blair galten als Politiker, die kommunitaristische Ansätze, die eine Gegenbewegung gegen den Neoliberalismus, einen Weg zwischen den rechten und linken Gesellschaftstheorien versucht hatten. Der Kommunitarismus, der die Entfaltung des Individuums eingebettet in eine soziale Gemeinschaft propagiert, wurde wesentlich vom US-amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni geprägt. Am 31. Mai ist Etzioni 94-jährig in Washington, D.C. verstorben. Geboren 1929 als Werner Falk in Köln, floh Etzioni 1936 mit seinen Eltern vor den NS-Verfolgern nach Palästina. 1946 nahm er am israelischen Unabhängigkeitskampf teil. 1950 begegnete Etzioni Martin Buber, dessen Idee des dialogischen Prinzips prägte ihn nachhaltig. Nach Soziologiestudien in Kalifornien ging Etzioni für 20 Jahre als Soziologieprofessor an die Columbia University in New York. Der Gegner des Vietnamkriegs gehörte in der Folge der liberalen Washingtoner Denkfabrik „Brookings Institution“ an und war Berater des US-Präsidenten Jimmy Carter. Ab 1980 übernahm er den Kommunitarismus-Lehrstuhl an der George-Washington-Universität in der US-Hauptstadt. In jungen Jahren war Etzioni in Israel der Kibbuz-Bewegung zugehörig, daraus entwickelte er unter Zuhilfenahme religiöser Ansätze aus Judentum, Christentum, aber auch Konfuzianismus seine Theorie des Kommunitarismus, den er als ein Austarieren zwischen Gemeinwohl und Individualinteressen verstand. Allerdings rief einer der Ausgangspunkte des Kommunitarismus, nämlich dass sich Bürger einer Gesellschaft tugendhaft verhalten sollten, auch die Kritik hervor, dass dies zu „Tugendterror“ führe – eine Auseinandersetzung, die insbesondere in den letzten Jahren an Schärfe zunahm, wobei die kommunitaristischen Ursprünge dieser Debatte zuletzt wenig im Vordergrund waren. „Die Welt braucht eine neue globale Architektur und zusätzliche Ebenen des Regierens, um Probleme zu bewältigen, mit denen weder Nationen noch traditionelle Formen zwischenstaatlicher Organisationen fertigwerden können.“ Diesem Ausspruch des nun in hohem Alter verstorbenen Amitai Etzioni ist dennoch auch heute wenig hinzuzufügen. (Otto Friedrich) Foto: picturedesk.com / akg-images / Armin Pongs Amitai Etzioni, am 4. Jänner 1929 als Werner Falk in Köln geboren, verstarb am 31. Mai 2023 in Washington, D.C.
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