DIE FURCHE · 108 International7. März 2024PolitischeTaktiererEine Aufnahme ausdem Jahr 1977.Ariel Sharon (re.), zudem Zeitpunkt einerder wichtigstenFürsprecher derSiedlerbewegung,mit dem damaligenPremierministerMenachem Begin.Das Gespräch führte Brigitte QuintEinst ging die israelische Regierungdavon aus, dass die Hamasihren Fokus auf Glauben, Bildungund Wohltätigkeit legenwürde – und pushte sie so sogar,sagt der israelische Militärhistoriker MartinLevi van Creveld. Ein Trugschluss, wieer im Interview mit der FURCHE ausführt.Zudem erklärt er, warum er die Anarchie,die sich aktuell in Gaza Bahn bricht, für diebedenklichste Entwicklung hält, sich seineHaltung zum militärischen VorgehenIsraels in den vergangenen Jahren gründlichverändert hat und weshalb BenjaminNetanjahu mitunter verschweigt, dass ersäkular sozialisiert wurde.Lesen Sie dazuden Kommentarvon UlrichH. J. Körtner:„Theopolitikist im Nahostkonfliktfatal“(24.1.2024) auffurche.at.Der israelische Militärhistoriker Martin Levi van Creveldüber Sharons verfehlte „Hamas-Politik“, den explosiven Mixaus Religion und Nationalismus sowie Ägyptens Rolle.„Netanjahuist einOpportunist“DIE FURCHE: Israels Militär gibt als Hauptzielim Gazakrieg an, die Strukturen derHamas zerschlagen zu wollen. Wie konntees eigentlich so weit kommen, dass dieHamas zur führenden politischen Kraft inGaza geworden ist?Martin Levi van Creveld: Die Hamas ist eineislamische Bewegung mit tiefen Wurzelnin der arabischen Geschichte, insbesonderein Ägypten mit seiner Muslimbruderschaft.Der Aufstieg der Hamas lässt sich aufdie späten 1970er und frühen 1980er Jahrendatieren. Damals war Ariel Sharon unterPremierminister Menachem Begin Verteidigungsministervon Israel. Es galt, derwachsenden Macht von Jassir Arafats palästinensischerBefreiungsbewegung undder Ersten Palästinensischen Intifada (Arabischfür „Abschütteln“) entgegenzuwirken.Aus Sharons Sicht und der seiner Beraterbestand der beste Weg darin, eine Bewegung,die religiöser veranlagt und – davonging man damals aus – gemäßigter ist, inder südlichen, armen und rückständigenHälfte des Westjordanlandes zu ermutigen,sich mehr einzubringen. Die Hoffnung war,dass diese Bewegung ihren Fokus auf Gebet,Bildung und Wohltätigkeit legt und nichtauf anti israelischen Terrorismus.Ein Trugschluss. Anstatt gemäßigter alsdie PLO zu werden, wurde die Hamas nochradikaler. Sie lehnte jeden Frieden mit Israelprinzipiell ab. Israel bemühte sich daraufhinrasch, die Bewegung wieder zu unterdrücken,einschließlich der „gezieltenTötung“ ihres ersten Anführers, ScheichAhmed Yassin, und seines Nachfolgers AbdelAziz al-Rantissi – doch das erwies sichals erfolglos. Im Gegenteil: Die Macht derHamas breitete sich im Gazastreifen aus.Im Jahr 2006 führte die Hamas sogar einenPutsch durch, bei dem einige der PLO-Funktionäre im Gazastreifen getötet undder Rest vertrieben wurden.DIE FURCHE: Welche historischen Fehler giltes hier zu benennen?Van Creveld: Ich bin mir nicht sicher, obman hier von historischen Fehlern sprechenkann. Der Versuch, „gute“ Araber –mit denen man reden und vielleicht einenKompromiss schließen konnte – von„schlechten“ – die nur die Sprache der Gewaltund des Krieges verstanden – zu unterscheiden,hat tiefe Wurzeln in der zionistischenund/oder israelischen Geschichte.„ Da der Iran an vier Fronten aktivan der Bekämpfung Israels beteiligt ist,muss Israel die Kontrolle über Gazaund das Westjordanland behalten. “DIE FURCHE: Die Hoffnung, dass sich dieHamas mehr auf die Religion besinnt undweniger politisch agiert, ist eindeutig einefalsche gewesen. Aber wenn man bei dieserLesart bliebe: Sind die „Hamasniks“heute weniger gläubig, als frühere Generationen?Und: Gilt eine solche These auchfür die Gegenseite? Wie gläubig ist BenjaminNetanjahu? Wie bewerten Sie seinePerson?Van Creveld: Ob die heutige Generationvon Hamas-Aktivisten mehr oder wenigerreligiös gesinnt ist als ihre Vorgänger, istschwer zu sagen. Es scheint jedoch, dass esihnen vielleicht in größerem Maße als ihrenVorgängern gelungen ist, sowohl aufdie islamische Religion als auch auf denpalästinensischen Nationalismus zurückzugreifen.Die Kombination ist explosiv.Und das nicht nur im Nahen Osten.Zu Netanjahu: Er stammt aus einer säkulargesinnten Familie – sein Vater war Geschichtsprofessor.Netanjahu hat das Judentumnie so praktiziertwie orthodoxe Juden. Erist ein Opportunist. Jenachdem, an welchesPublikum er sich wendet,betont er entwederseine säkulare Sozialisationoder er versucht,diese zu verschleiern.Eines scheint jedochsicher: Er tritt in dieFußstapfen seines wichtigstenMentors, desehemaligen PremierministersYitzhak Shamir,und ist ein Hardliner.Im Privaten, so wurdemir gesagt, noch mehrals in der Öffentlichkeit.DIE FURCHE: Die Rolle des AnrainerstaatesÄgypten erscheint für so manchen Beobachterdurchaus ambivalent. Zwar trittder Staatschef als Vermittler auf, aber wiekann es sein, dass international so wenigDruck ausgeübt wird, zumindest die Vulnerabelstenaus Gaza aufzunehmen?Foto: Foto: Getty Images / GPO / Yaakov SaarMartin Levi van Creveld ist emeritierterProfessor an der HebräischenUniversität in Jerusalem.Van Creveld: Der ägyptisch-israelischeFriedensvertrag ist mittlerweile etwasmehr als vierzig Jahre alt. Aber diese Tatsachehat die ägyptische Regierung nicht davonabgehalten, mehr oder weniger die Augenvor der Tatsache zu verschließen, dassviele, wenn nicht die meisten der Waffen,die die Hamas derzeit in Gaza einsetzt, ausdem ägyptischen Sinai eingeschmuggeltwurden. Tatsächlich glauben einige, dassder Konflikt zwischen Israel und Gaza inKairo nicht unwillkommen ist. Die Kehrseiteist: Die Öffnung der Grenze zwischenÄgypten und Gaza könnte zur DestabilisierungÄgyptens beitragen. Das ist das Letzte,was Präsident Abdel al-Sisi will oderinnenpolitisch gebrauchen kann.DIE FURCHE: Haben Sie eine Idee, wie es mitdem Gazastreifen langfristig weitergeht?Wird es jemals Frieden geben können?Wenn ja, wie?Van Creveld: Ab 1967, dem Jahr, in dem derSechstagekrieg ausgetragen wurde und Israeldie Kontrolle über das Westjordanlandund den Gazastreifen erlangte, gehörteich persönlich zur israelischen Linken. ImJahr 2005 habe ich sogar ein Buch mit demTitel „Verteidigung Israels“ veröffentlicht,um meine Position zu erläutern. Ich befürchte,dass sich meine Position seitdemgeändert hat. Da der Iran an vier Fronten –Gaza, Westjordanland, Libanon und RotesMeer – aktiv an der Bekämpfung Israelsbeteiligt ist, hat Israel absolut keine andereWahl, als eine Form der Kontrolle über dieersten beiden Fronten zu behalten. Immerhinsind es von Tel Aviv nach Gaza nur etwa55 Kilometer; von Tel Aviv bis zum Westjordanlandetwa 30 Kilometer.DIE FURCHE: Vor mittlerweile 25 Jahren habenSie in der NZZ geschrieben, dass Israelim Gazastreifen jemanden braucht, anden es den Schlüssel übergeben kann. Zitat:„Die Erfahrung zeigt, dass es nirgendwohinführt, wenn man eine Organisationzerschlägt.“ Vom israelischen Standpunktaus bekäme man es dann mit einer nochschlimmeren Organisation zu tun. SehenSie das im Jahr 2024 noch genauso?Van Creveld: Die größte Gefahr ist heutenicht eine weitere, noch radikalere palästinensischeOrganisation in Gaza, sondernüberhaupt keine Organisation. Das Ergebniskann nur Anarchie und noch mehr Blutvergießensein. Eine Ahnung davon, wasdann passieren wird, gab es am Donnerstag,dem 29. Februar, als die Menschen im Gazastreifen,die verzweifelt nach Nahrungsuchten, gegeneinanderkämpften und gleichzeitigvon israelischenFoto: APA / AFP / Menahem KahanaTruppen beschossenwurden, die in der Mittegefangen waren und umihr Leben fürchteten.Das Beste, was Gazapassieren könnte, wäre,dass es zu einer Vereinbarungkommt, damitdas Leben mehr oder wenigerwieder zur Normalitätzurückkehren kann.Aber die Dinge scheinensich doch nicht in dieseRichtung zu entwickeln.DIE FURCHE: Jüngst schriebenSie in der „Welt“, der Sieger des aktuellenGaza-Krieges stehe schon fest: die Hamas.Wie meinen Sie das?Van Creveld: Es war Henry Kissinger, dereinmal sagte, dass die Stammspieler verlieren,solange sie nicht gewinnen; wohingegendie Guerillas gewinnen, solange sienicht verlieren.
DIE FURCHE · 107. März 2024Religion9Kardinal König(1905–2004)In seinen letzten Lebensjahren(Bild: vor einerTV-Aufnahme) war Königeine moralische Autorität.Wie dasII. Vatikanumin Österreichankommensoll, analysierte Kardinal König am29.1.1966, siehe „Im Jahre 1 nachdem Konzil“ auf furche.at.Von Otto FriedrichDie FURCHE war nochkeine vier Monate alt,als am 23. März 1946ein Beitrag unter demTitel „Der Kampf umdas Alte Testament“ erschien,in dem dessen Autor in Bezug aufdie kurz zuvor noch von NS-Ideologenals „jüdisches Buch“ desavouierteHebräische Bibel klarstellte,dass das Alte Testament auchfür die katholische Kirche „GottesWort“ ist. Besagter Text war dererste FURCHE-Beitrag von FranzKönig, damals Religionslehrer inKrems und noch gar nicht Professoran der Katholisch-TheologischenFakultät Salzburg. Das klareEintreten des Autors für dieBedeutung des jüdischen Monotheismushat heute nichts von seinerArgumentationskraft verloren.Und es markiert den Beginn einersechs Jahrzehnte langen Wegbegleitungvon Franz König fürdie FURCHE. Es gab eine gegenseitige„Freundschaft“ und Wertschätzungzwischen dem dannals Kardinal an der Kirchenspitzedes Landes Stehenden und dieserZeitung – bis zum Ende seinesLebens: Das allerletzte Interview,das König vor seinem Tod führte,gab er der FURCHE. Es ist am26. Februar 2004 erschienen undhandelte – wegen dessen 100. Geburtstags– von „seinem“ KonzilstheologenKarl Rahner.Ein Kirchenmann im AufbruchKardinal König war in der zweitenHälfte des 20. Jahrhundertsder bedeutendste Repräsentantder katholischen Kirche Österreichs.Der geistige und geistlicheAufbruch des II. Vatikanums(1963–65) kulminierte hierzulandein der Ära König.Dabei war der Wiener Erzbischofsstuhlganz und gar nichtTeil der Lebensplanung des gebürtigenNiederösterreichers, der1948 als Universitätslehrer nachSalzburg ging und sich dort inreligionswissenschaftliche Forschungenstürzte: „Christus unddie Religionen der Welt“, sein1951 erschienenes Buch, schienden Weg des Intellektuellen undProfessors vorzuzeichnen.Doch schon ein Jahr später ernannteihn Pius XII. zum Koadjutorbischofvon St. Pölten. Als 1956der Erzbischofsstuhl in Wien vakantwar, gab es eine große Überraschung:Nicht der favorisierteFranz Jachym, der als Erzbischofkoadjutordie Wiener Kircheschon faktisch geleitet hatte, kamzum Zug – es gab Interventionenaus der ÖVP in Rom gegen diesePersonalie. König wehrte sich zunächst,nahm aber dann doch denRuf des Papstes nach Wien an.Zwischen Rom und der österreichischenPolitik gab es damals jedocheinige Konflikte, weil sichdie Regierung und der Vatikanüber die Anwendbarkeit des Konkordatesnicht einigen konnten.Zur „Strafe“ musste König daherauf seinen Kardinalshut warten.Lesen Sie denersten Beitragvon FranzKönig für dieFURCHE: „DerKampf um dasAlte Testament“vom 23.3.1946,siehe furche.at.Erinnerungen an Kardinal König, dessen Todestag sich am13. März zum 20. Mal jährt. Fast sechs Jahrzehnte – von 1946bis 2004 – währte seine Verbundenheit mit der FURCHE.Mitgestalterund Anwaltdes KonzilsÜber diese Konflikte berichteteDIE FURCHE ausführlich.Als Ende 1958 Johannes XXIII.den Papstthron bestieg, war eineseiner ersten Amtshandlungendie Kardinalsernennung vonFranz König. Und die „Konkordatsprobleme“wurden schnellgelöst. Unter dem Roncalli-Papsterreichte König aber auch seineweltkirchlich bedeutende Rolle:Er gehörte zu den federführendenAkteuren der progressivenBischofsmehrheit auf dem ZweitenVatikanischen Konzil; beratenvon seinem KonzilstheologenKarl Rahner (vgl. Seite 14) arbeiteteer an allen wesentlichenKonzilsdokumenten mit.Religionen, Ökumene, KontakteBesonders war Kardinal Königan der Konzilserklärung NostraAetate über die nichtchristlichenReligionen gelegen (1965), derenFragen, „Was ist der Mensch? Wasist Sinn und Ziel unseres Lebens?[...] Was ist jenes letzte und unsagbareGeheimnis unserer Existenz,aus dem wir kommen und wohinwir gehen?“, er im Gespräch undin seinen Wortmeldungen in späterenJahren oft zitierte. Für Königwar das Konzil das wichtigsteEreignis seines Lebens, das hater immer wieder auch öffentlichbetont.König gehörte in der Folge zuden einflussreichsten Vertreternder katholischen Kirche im Dialogmit den Weltreligionen, er ermöglichteauch Bahnbrechendesin der Ökumene mit den orthodoxenund altorientalischen Kirchen– die von ihm diesbezüglichins Leben gerufene Stiftung ProOriente begeht heuer ihr 60-Jahr-Jubiläum.Als Erzbischof diesseits des EisernenVorhangs knüpfte Königauch Kontakte zu den verfolgtenKirchen in den real sozialistischenStaaten und suchte Österreichals Vermittler und Zufluchtsortauszubauen.König implementierte auch dieErgebnisse des II. Vatikanumsin Österreich und Wien. Die WienerDiözesansynode 1969/71 giltdiesbezüglich bis heute als innerkirchlicherMeilenstein. Allerdingsbegann nach dem konziliarenAufbruch ab dem PontifikatJohannes Pauls II. (1978–2005)das Pendel in die andere Richtungauszuschlagen, und aus Österreichreisten „besorgte“ Kreisenach Rom und schwärzten den liberalenKurs Königs an.Der großväterliche Freund1985 trat König als Erzbischofvon Wien zurück, ein Jahr späterdemütigte ihn Rom mit derErnennung von Hans HermannGroër zu seinem Nachfolger –der schrullige Marienverehrerwar bekanntlich der erste Missbrauchsfallauf Kardinalsebene.König nahm diesen auch persönlichenAffront ohne nach außensichtbare Verbitterung hin.„ Der geistige und geistliche Aufbruchdes II. Vatikanums (1963–65) kulminiertehierzulande in der Ära König.“Foto: Kathbild.at„Typisch Rahner“am 26. Februar2004: Das allerletzteInterviewvon KardinalKönig stand inder FURCHE,nachzulesenauf furche.at.In seinen letzten beiden Lebensjahrzehntenwurde KardinalKönig eine moralische Autoritätdes Landes: „Als pater patriae,Vater der Nation, war und bleibtFranz König ein Ausnahmefall,ein Segen für Österreich – als ‚guterHirte‘, als Christ und Mensch.“Auf diesen Punkt brachte dies derdamalige FURCHE-Herausgeber –und persönliche Freund des Kardinals– Heinz Nußbaumer.Aber auch der FURCHE-Redakteurkann von der großväterlichenFreundschaft berichten, diesich in den letzten Lebensjahrenzwischen dem Kardinal und derFURCHE entwickelt hatte: Immerwieder rief der greise, aber geistigso wache und junge Kirchenmannan – er hatte einen Artikeldieser Zeitung gelesen und wolltedazu etwas fragen oder etwasbemerken. Und nicht nur einmalmachte er auf Entwicklungenoder Ereignisse aufmerksam, diedem Journalisten vielleicht nochgar nicht so bewusst waren.So rief der Kardinal auch persönlichEnde 2003 an, ob er dennin der FURCHE nicht etwas überden Jesuitentheologen Jacques Dupuisschreiben könne: Der führendeExperte für den interreligiö senDialog stand vor einer Maßregelungdurch die vatikanische Glaubenskongregation,und Königfand, dass man dort Dupuis Unrechttat. Den damals 98-jährigenKardinal drängte es, Widerspruchzu äußern. Dieser letzte OriginalbeitragKönigs für DIE FURCHEvom Dezember 2003 zeigte ihneinmal mehr in der für ihn typischenNo blesse, die trotzdemnichts an Klarheit vermissen ließ.Auch zwei Jahrzehnte nach seinemTod bleibt bewusst, wie sehrÖsterreichs Kirche eine Gestaltwie Kardinal König fehlt.VORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at
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