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DIE FURCHE 07.03.2024

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DIE FURCHE · 102 Das

DIE FURCHE · 102 Das Thema der Woche Frauen? Vergessen7. März 2024AUS DERREDAKTIONAußerhalb des Fokus: Dort finden sich viele Frauen wieder – ob in Gesellschaft,Politik, Kunst oder Kirche. Doch wie konnte es dazu kommen?Waren sie nicht gut genug, wie viele bis heute vermuten? Oder wurden sieeinfach aus dem Licht gestoßen? „Die Verächtlichmachung, die Anonymisierung,der Diebstahl und die Auslöschung begleiten die weibliche Kunstvon Anfang an“: Dieser Satz aus Veronika Schuchters Essay, der den vonBrigitte Schwens-Harrant gestalteten Schwerpunkt „Frauen? Vergessen“einleitet, bringt das Problem auf den Punkt – nicht nur im Kulturbereich.Anlässlich des Weltfrauentags am 8. März rücken wir deshalb mehr dennje Frauen ins Licht: schreibende Frauen (wie Marie Holzer, Lina Loosoder Carolina Schutti), putzende Frauen (siehe Leitartikel), predigendeFrauen (wie die baptistische Pastorin Mira Ungewitter) oder politisch fädenziehendeFrauen (wie Kaiserin Eleonora Magdalena). Prägend war auch dieliberale Imamin Rabeya Müller, die 67-jährig gestorben ist und von UrsulaBaatz gewürdigt wird. Was wir Ihnen sonst noch in dieser Ausgabe bieten?Ein Schlaglicht auf die bevorstehende Salzburg-Wahl, ein spannendes Interviewmit einem Militärhistoriker zum Gaza-Krieg, eine Reportage über dasLeben im Autismus-Spektrum, eine Erinnerung an Kardinal König sowiean dessen Berater Karl Rahner. „Der Geist weht, wo er will“, hat der großeTheologe in der FURCHE formuliert. Ein schönes Motto zum Frauentag. (dh)Von Veronika SchuchterEn-hedu-annaDie Autorin und Priesterin lebte im 23. Jahrhundertv. Chr. in Ur. Auf einer Alabasterscheibefindet sich eine Darstellung von ihr.Literaturgeschichtsschreibung,so möchte man meinen,ist an und für sichnicht sonderlich komplex.Man versucht festzustellen,welche Autorinnen und Autorenes gegeben hat, welche Texte sie geschriebenhaben, welche man für bedeutendhielt und hält, welche Strömungenund Epochen sich ausmachenlassen. Und wo sollte man da beginnen,wenn nicht am Anfang?Doch der Anfang fehlt. Denn amAnfang der Literatur steht eine Frau.Die ersten jemals überlieferten literarischenTexte, die man einer konkretenPerson zuordnen kann, stammenvon der sumerischen HohepriesterinEn-hedu-anna, die ihre Texte vormehr als 4000 Jahren in Mesopotamienverfasste. Sie fehlt in LiteraturundKulturgeschichten, sie zu kennen,ist Spezialwissen. Im kollektivenGedächtnis wird ihr gerade einmal eineKomparsinnenrolle zugestanden.Es ist an Absurdität eigentlich nichtzu überbieten, doch die Wahrscheinlichkeit,dass man ein gesamtes Literaturstudiumabsolviert, ohne diesenNamen jemals zu hören oder mitder Tatsache konfrontiert zu werden,dass der erste überlieferte literarischeText einer namentlich identifiziertenPerson von einer Frau stammt,ist groß. Dabei sind ihre Texte nichtnur literaturhistorisch von Interesse,weil es eben die ersten waren, sie lesensich auch atemberaubend.Am Anfang der Literatur steht eine Frau. Frauenhaben geschrieben, wurden gelesen, waren anerkannt.Es wird Zeit, das endlich auch zu erzählen.Aus demLichtgestoßenParallelwelt der AutorinnenInformiert man sich heute über Enhedu-anna,tut sich das Gefühl einerParallelwelt auf. Sie sei die Urahninaller Autorinnen, ist da zu lesen, siestehe am Anfang der weiblichen Literatur,sie sei die „bedeutendste Frauengestaltihres Jahrtausends“, verkündetetwa Wikipedia. Wieso ist sienicht die Urahnin aller Autorinnenund Autoren? Wieso sollte sie nur fürdie weibliche Literatur relevant sein?Und wieso um alles in der Welt lerntnicht jedes Kind schon in der Schuleihren Namen?Immerhin, eines stimmt: En- heduannaist tatsächlich die Urahnin allerAutorinnen, weil sich schon an dieserersten Autorin, die am Anfang dessensteht, was wir Autorschaft nennen,gesellschaftspolitische, kulturelleund wissenschaftliche Prozesseund Verfehlungen im Umgang mitFrauen zeigen. Sie werden unsichtbargemacht, man relativiert ihre Bedeutung,vernichtet sie, analog dazu,wie es in der patriarchalen Geschichtemit ihren Körpern gemacht wurdeund wird.Dabei kann man wirklich nicht sagen,dass sich nichts tut. Zögerlich,aber doch werden auch Autorinnenmit Werkausgaben und Handbüchernbedacht, zuletzt kam beispielsweiseendlich Marlen Haushofer zuihrem Recht, mit der 2023 erschienenen,überfälligen Werkausgabe. Entlarvendist hingegen, wie über dieSchriftstellerinnen (wahlweise einfügenkönnte man auch Künstlerinnen,Komponistinnen usw., die Prozessesind die gleichen) gesprochenwird und wie ihre Rolle in der Literaturgeschichteerzählt wird. Erzählt,ja, das ist das richtige Wort, denn Geschichtsschreibungist immer Erzählung,und sie konzentriert sich aufFoto: Wikipedia (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)die Defizite, statt endlich zu erzählen,wie reich die weibliche Literaturgeschichtetrotz aller Unterdrückungund Verhinderung ist.Ausgraben müsse man sie, heißtes, wiederentdecken, ins Licht holen –ohne dass dabei die Frage gestelltwird, die eigentlich auf der Handliegt: Wieso müssen wir sie denn erstwiederentdecken? Wenn wir vergesseneoder unbekannte Autorinnen„ausgraben“ sollen, wer hat sie denneingegraben? Wer hat sie aus demLicht gestoßen?Vermittelt wird das Bild einer kulturellenweiblichen Einöde, jahrtausendelangedark ages, in denen eshöchstens ein paar Lichtgestalten gegebenhabe, herausragende Persönlichkeiten,„Frauengestalten“, dieaber bedauerlicherweise Einzelfälleseien. Ein paar wenige weiblicheLeuchttürme im Meer der begabtenMänner.Warum das so sei, dafür hat sichim Laufe der Jahrhunderte höchstensdie Begründung geändert. Fabulierteman noch bis Marcel Reich-Ranickisomatische Defizite herbei, ersetzteman dann die Gebärmutter als Argumentmit Analphabetismus und mangelnderBildung. Unter diesen Umständenkonnten halt keine großenWerke von Frauen entstehen, bis aufeben jene wenigen Ausnahmen.Dass Frauen inallen gesellschaftlichenBereichenmassive strukturelleDiskriminierungenerfahren haben undbis heute erfahren,was ihnen eine aktiveTeilhabe amkulturellen Feld erschwert,ist eine Tatsache.Doch wird damitauch verdeckt,dass es viel mehraktive Frauen in derLiteratur gegeben hat, dass Frauenzu allen Zeiten geschrieben habenund, noch viel wichtiger, dass sie gelesenwurden und anerkannt waren,von Frauen und von Männern. Beispielsweiseerhielt die 1492 geboreneitalienische Lyrikerin VittoriaColonna schon zu Lebzeiten kommentierteAusgaben ihrer Gedichte, überdie an der Universität zudem Vorlesungengehalten wurden.„Ich werde meinen Namen nennen“Auch die feministische Kanonkritikist keine Erfindung der 1970erJahre, vielmehr wussten schreibendeFrauen schon immer, wie mit ihremWerk umgegangen werden würde,und setzten sich durchaus zurWehr. Schon im zwölften Jahrhundertstellte Marie de France ihrer Dichtungvoran: „Ich werde meinen Namennennen, damit man sich an micherinnert: Maria heiße ich, ich stammeaus Frankreich. Mag sein, daßviele Schriftsteller behaupten werden,mein Werk sei das ihre. Aberich will nicht, daß irgendeiner es ihnenzuschreibt. Der handelt nämlichfalsch, der nicht an sich selbst denkt.“Dies ist in mehrerlei Hinsicht revolutionär:Da stellt sich eine Autorin hinund weigert sich, sich mit der Auslöschungihres Geschlechts abzufindenund unter männlichem Pseudonymoder anonym zu publizieren,wie es so viele Schriftstellerinnen bishinein ins 21. Jahrhundert getan haben.Sie reklamiert ihre Autorschaftfür sich und benennt auch die Strategien,wie Autorinnen unsichtbar gemachtwerden. Noch dazu kritisiertesie in ihrer Dichtung die sexuelle Unterdrückungvon Frauen – und wardabei auch noch erfolgreich, wie zahlreichezeitgenössische Abbildungenzeigen. Sie wird als gelehrte Frau dargestellt,deren Werk sogar vom englischenKönig Heinrich II. in Empfanggenommen wird.Aus Frauen gebaut„ Wieso müssenwir sie denn erstwiederentdecken?Wenn wir vergesseneoder unbekannteAutorinnen ‚ausgraben‘sollen,wer hat sie denneingegraben? “Nicht weniger revolutionär ist dasWerk Christine de Pizans aus dem 14.Jahrhundert. Nach dem Tod ihres Vatersund ihres Ehemannes verarmtesie, doch statt zu verzweifeln, wurdesie Schriftstellerin, die ihre eigenenWerke verlegte und herstellte. Ihr Werk„Das Buch von der Stadt der Frauen“war eine Reaktion auf die frauenfeindlicheLiteraturihrer Zeit. Der Titelist dabei doppeldeutig:Zum einen solltediese Stadt Zufluchtfür Frauen sein, siewird aber auch ausFrauen gebaut, nämlichaus hundertenvon beeindruckendenhistorischen undmythologischen-Frauen, die Pizanbeschreibt. Sie belegt,dass es immerFrauen gegeben hat, die von der Literaturbis zur Politik in allen Gesellschaftsbereichentätig waren, dieErfolg hatten und die respektiertwurden. Von Pizan selbst gibt es Darstellungen,die zeigen, wie sie aus ihremWerk liest, umringt von zuhörendenMännern.Die Beispiele, die man noch nennenkönnte, würden Regalmeter füllen,und das sind nur die, die wir tatsächlichirgendwann „ausgegraben“ undwieder „ins Licht geholt“ haben. Doches gibt so viele mehr, und auch wennwir ihre Namen nie kennen werden,macht es wenig Sinn, die Geschichteso zu erzählen, als habe es zwischenEn-hedu-anna und Sappho seltsamerweisekeine Frau gegeben, die poetischeWorte verfasst hat. Stattdessenmüssen wir uns einer unbequemenWahrheit widmen: Die Verächtlichmachung,die Anonymisierung,der Diebstahl und die Auslöschungbegleiten die weibliche Kunst vonAnfang an. Diese Prozesse gilt eszu beleuchten. Ein erster Schritt istes, die Erzählung von den wenigenherausragenden Ausnahmen nichtfortzuführen und ihr eine eigeneErzählung entgegenzusetzen. UnsereVorfahrinnen haben gezeigt,wie das geht.Die Autorin ist Literaturwissenschafterinan der Universität Innsbruck.

DIE FURCHE · 107. März 2024Das Thema der Woche Frauen? Vergessen3Die Schriftstellerin und Feuilletonistin Marie Holzer (1874–1924) schrieb unermüdlich über weibliche Lebensbedingungen und Benachteiligung –bis sie von ihrem Mann ermordet wurde. Ihr beeindruckendes Lebenswerk machten erst wissenschaftliche „Grabungen“ wieder sichtbar.Produktiv und politischVon Christine RiccabonaEin Nachlass von Marie Holzer hatsich nicht erhalten, keine Sammlungihrer zahlreichen Texte gibtes, kein Foto, das sie zeigt. Nurwenige Dokumente bezeugen ihrLeben, etwa ihre in feingliedriger Handschriftverfassten Briefe im ForschungsinstitutBrenner-Archiv im Nachlass Ludwigvon Fickers sowie jene im Nachlass ArthurSchnitzlers in Cambridge. Die Autorin undMitarbeiterin in karitativen Vereinigungenengagierte sich in der sozialdemokratischenFrauen- und Arbeiterbewegung undbezahlte dies am Ende mit ihrem Leben.Marie Holzer, geborene Rosenzweig-Rode, stammte aus einer jüdisch assimilierten,großbürgerlichen Familie inCzernowitz in der heutigen Ukraine, derGeburtsstadt von Paul Celan und Rose Ausländer,damals Kronland der Monarchie.Eine weltoffene, gebildete Atmosphäre imkulturellen Umfeld der Familie darf vermutetwerden. Ihr Vater, Leon Rosenzweig-Rode, war mit Karl Emil Franzos befreundetund betätigte sich wie auch ihr Bruder,Walther Rode, als Schriftsteller.Marie versuchte sich im Schauspiel amStadttheater und begann ebenfalls baldzu schreiben. 1895, knapp zwanzigjährig,ging sie die Heirat mit dem aus der Steiermarkstammenden Armeeoffizier HansHolzer ein. 1905 – Marie Holzer war mittlerweileMutter von drei Kindern – übersiedeltedie Familie nach Prag, in einesder künstlerischen, intellektuellen Zentrender Monarchie. Nach dem Ausbruchdes Ersten Weltkriegs lebte sie, nachdemOberst Holzer beim Militärkommando inInnsbruck eine Stellung erhielt, bis zu ihremTod 1924 in Innsbruck.Als Literaturkritikerin und Feuilletonistinpublizierte Holzer ab 1905 hunderte vonBeiträgen in einer Vielzahl von Zeitschriften,unter anderem in sozialdemokratischenMedien, im Prager Tagblatt, in denLeipziger Neuesten Nachrichten, der NeuenHamburger Zeitung, der Neuen Freien Presse,der Österreichischen Frauen-Rundschauoder auch in der von Auguste Fickert herausgegebenenWiener Zeitschrift NeuesFrauenleben.Für die Rechte der FrauFoto: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)Holzer schrieb unermüdlich über weiblicheLebensbedingungen, Ungleichheitund Benachteiligung, über Fragen desFrauen- und Eherechts, die Vereinbarkeitvon Mutterschaft und Studium, Frauenarbeitund Erziehung. Sie rezensierte Bücher,unter anderem von Grete Meisel-Heß, GertrudBäumer, Gabriele Reuter, ElisabethMießner, Ellen Key, Helene Stöcker, HenrietteHerzfelder und Wilhelmine Wiechowski.Wo sie konnte, bezog sie Stellung fürdie Rechte der Frau, für das Recht auf einselbstbestimmtes Leben, auf Bildung undwirtschaftliche Unabhängigkeit. Und siesezierte mit subtiler, ironischer Schärfedie Scheinmoral der bürgerlichen Ehe.1911 erschien Marie Holzers Prosaband„Im Schattenreich der Seele“, in demsie expressive Stimmungsbilder und Momentaufnahmenvorlegte. Holzers Textesind kleine Sozialstudien und verbindenErkenntnisse der Psychoanalyse mitsozial kritischen und feministischen Standpunkten.Der Prosaband wurde in der literarischenÖffentlichkeit ihrer Zeit kaumbemerkt, und zu einer zweiten Buchpublikationist es nie gekommen. Vermutlichfand die überaus produktive Literaturkritikerinund Feuilletonistin einfach keineZeit dafür, vielmehr dürfte sie mit ihrerjournalistischen Tätigkeit maßgeblichzum Lebensunterhalt der Familie beigetragenhaben. Eine Auswahlbibliografieihrer Artikel und Feuilletons findet sichunter anderem auf der Homepage des ForschungsinstitutsBrenner-Archiv.Wie viele Publizistinnen der ersten Frauenbewegungerfuhr Marie Holzer erst inden 1990er Jahren im Rahmen der feministischenLiteraturwissenschaft entsprechendeAufmerksamkeit. In den Datenbankenund Lexika einschlägiger Forschungsprojektezur feministischen Kulturgeschichtesind die wichtigsten Koordinaten der TätigkeitsfelderMarie Holzers als Schriftstellerin,Sozialdemokratin und Feministinverzeichnet und die (kaum vorhandenen)biografischen Daten festgehalten. Einzelneihrer Texte fanden Aufnahme in Anthologiendes Expressionismus, der Avantgardeund der feministischen Literatur der erstenFrauenbewegung.Diesen Grabungsarbeiten von Literaturwissenschafterinnenist es zu verdanken,dass wie in vielen Fällen auch bei MarieHolzer ein beeindruckendes Lebenswerksichtbar wurde. So war Marie Holzer einewichtige Mitarbeiterin von Franz Pfemfertsexpressionistischer Zeitschrift DieAktion. Einer ihrer darin erschienenen Texteist beispielsweise der oft zitierte Berichtüber Else Lasker-Schülers Lesung in Pragim Jahr 1913, der Marie Holzers eigene Vertrautheitmit der künstlerischen BohemePrags verrät. Verbunden war sie vor allemauch mit den Inhalten und Zielen der Frauenbewegungenin Wien, Berlin und Prag.Insbesondere der Kontakt mit dem von WilhelmineWiechowski gegründeten deutschenVerein „Frauenfortschritt“ dürfteprägend für sie gewesen sein.Über die Lebensjahre der Autorin währendund nach dem Ersten Weltkrieg inInnsbruck ist wenig bekannt. Von Prag aushatte sie bereits 1913 Kontakt zur InnsbruckerZeitschrift Der Brenner gesucht und einenBrief an den Herausgeber Ludwig vonFicker geschickt, einen weiteren 1920, indem sie sich als Leserin des Brenner zu erkennengibt.„ Wo sie konnte, bezog sie Stellung fürdie Rechte der Frau, für das Recht aufein selbstbestimmtes Leben, auf Bildungund wirtschaftliche Unabhängigkeit. “In Innsbruck schrieb Holzer weiterhineine Vielzahl von Beiträgen – an ihrem neuenLebensort nun auch für die in Innsbruckerscheinende, sozialdemokratische Volks-Zeitung und die Innsbrucker Nachrichten,in denen sie mit viel Gespür die InnsbruckerGesellschaft und die sozialen Bedingungenwährend des Krieges und die Abgeschiedenheiteiner „Kleinstadt im Krieg“schildert. Sie beschreibt die Atmosphäream Brennerpass als militärisch kontrolliertemAlpenübergang, verfasst ein „Dolomitengedicht“,das sich auch als Klage gegenden Krieg lesen lässt.In dieser Zeit wurde ihr Interesse an derkonkreten Verbesserung der Lebensbedingungenvon Frauen zunehmend wichtiger.So leitete sie während des Krieges eine Fürsorgeanstaltund später, nach dem Krieg,als besonders die städtischen Arbeiterfamilienvon der Hungersnot betroffen waren,Lesen Sie auchdas Gesprächvon BrigitteSchwens-Harrant mitEvelyne Polt-Heinzl: „Wiesofehlen immerdie Frauen? KanonRevisited“,8.11.2018,furche.at.MarieHolzerGeboren am11. Jänner 1874 inCzernowitz, ermordetam 5. Juni 1924in Innsbruck: KeinFoto ist von ihr erhalten.Nur wenigeDokumente bezeugenihr Leben,darunter handschriftlicheBriefean Ludwig vonFicker.arbeitete sie in einer öffentlichen Suppenküche.Sie schloss sich dem FrauenlandeskomiteeTirol der sozialdemokratischenArbeiterbewegung Österreichs von MariaDucia an und leistete politische Arbeit fürdas Frauenstimmrecht, für Friedenssicherung,für verbesserte Lebensbedingungender Arbeiterinnen, für Gesundheit und Bildung.Sie nahm am Parteileben teil, hieltVorträge für die Mädchensektion in der Jugendorganisationund arbeitete für die Vereinigungarbeitender Frauen in Innsbruck.Selbstbestimmtheit als ProvokationOberst Holzer hingegen hatte nach demErsten Weltkrieg nicht nur seinen militärischenRang, vielmehr auch Ansehen,Identität und Bedeutung verloren. DieSelbstbestimmtheit Marie Holzers, ihresoziale Arbeit, ihre gesellschaftspolitischeund feministische Haltung waren für HansHolzer offenbar eine unerträgliche Provokationund mit seiner autoritären, patriarchalen,im Weltbild der Monarchie verankertenMachtordnung nicht vereinbar. Dievon Marie Holzer angestrebte Scheidungverhinderte der Offizier mit der Waffe: ImJuni 1924 erschoss Holzer seine Frau undsich selbst.Vielleicht kommt bei zukünftigen Forschungenin Archiven mehr von MarieHolzer ans Tageslicht, es wäre ihr zu wünschen.Eine Herausgabe ihrer Artikel, zumindestin einer Auswahl, wäre schon jetzteine lohnenswerte Arbeit.Die Autorin ist Literaturwissenschafterinund Mitarbeiterin am ForschungsinstitutBrenner-Archiv der Universität Innsbruck.

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