Aufrufe
vor 9 Monaten

DIE FURCHE 07.03.2024

  • Text
  • Welt
  • Zeit
  • Foto
  • Salzburg
  • Wien
  • Buch
  • Kirche
  • Menschen
  • Frauen
  • Furche

DIE FURCHE · 1014

DIE FURCHE · 1014 Diskurs7. März 2024ERKLÄRMIR DEINEWELTGibt es wirklicheine Lustam Morden?Den gesamten Briefwechselzwischen Hubert Gaisbauerund Johanna Hirzberger könnenSie auf furche.at bzw. unterdiesem QR-Code nachlesen.Hubert Gaisbauerist Publizist. Er leitete dieAbteilungen Gesellschaft-Jugend-Familie sowieReligion im ORF-Radio.Den Briefwechsel gibt esjetzt auch zum Hören unterfurche.at/podcastNun ist es ziemlich genau ein Jahr, dass wir einanderunsere Welt erklären, was mich recht oft dazuangeregt hat, im Denken über manche Dinge undZustände in meiner Welt etwas tiefer zu schürfen. Zu Ihremletzten Brief: Ich finde es bemerkenswert, dass Siesich in der Selbsterfahrungsgruppe „selbst umklammert“haben. Das baut angeblich Angst ab und soll überhauptgut für die Seele sein. Noch besser, wenn dafür auch derBegriff „Selbstumarmung“ zutreffend sein könnte. Aberich bin ja kein Trainer oder so und denke, dass es gut seinkönnte, wenn jemand da wäre, der unsso vertraut ist, dass wir uns umarmenlassen können. Die Sehnsucht danachwird man wohl nicht geschlechtsspezifischunterscheiden wollen. Denkeich. Angesichts der nervenden Bussibussi-Hysterieund des kumpelhaftenUmarmens und Rückenklopfens beiden Begrüßungszeremonien der Politikerwill ich mich nicht in den verordnetenRahmen einer sterilen Kollektivprüderieversetzen lassen. Wennwir auf liebevolle Gesten verzichten,entgeht uns doch so viel: zum Beispieldie heilende Wärme des Wohlwollenseiner keuschen Zärtlichkeit.„ Vielleicht definiertsich Männlichkeitnoch immer durchKrieg und Gewalt.Dieses Handelnund Hantieren mitKriegsgeräten, dieMordwerkzeugesind. “Worüber ich aber eigentlich schreiben wollte, sind meineGedanken, die Ihr Unbehagen bei mir ausgelöst haben.Es lässt sich für mich auf einen Punkt bringen. Derheißt: Es ist „typisch Mann“, keine persönliche Verantwortungübernehmen zu wollen. „Ich kann nichts dafür“, warschon in Kindertagen eine beliebte – männliche? – Ausrede.Stimmt. Aber es war auch die Antwort des Brudermördersauf die Frage: Wo ist dein Bruder Abel? Keine Ahnung!Und außerdem: Bin ich denn der Hüter meines Bruders,meiner Schwester? Oft frage ich mich, gibt es wirklich eineLust am Töten? Am Morden? Die Geschehnisse, deren Bilderwir täglich geliefert bekommen, lassen in mir diesenVerdacht aufkommen. Vielleicht definiert sich Männlichkeitnoch immer durch Krieg und Gewalt. Dieses Handelnund Hantieren mit Kriegsgeräten, die letztlich Mordwerkzeugesind! Die Lust am Besiegen der anderen Seite.Es ist wohl auch bei vielen Frauenmorden so: Männerbeenden einen Machtkampf brutal, bevor sie eine Niederlagehinnehmen. Im medialen Disput über die Frauenmordehat die Chefredakteurin einerWochenzeitung gewagt zu schreiben:„Aber all diese Mörder sind vor allemeines: gekränkte Seelen.“ Irgendwannverlassen, zurückgewiesen, gedemütigt.„Ihre Gefühlswelt, eine verbohrte,verhärmte.“ Wenn das ein Manngeschrieben hätte, wäre er dafür beschimpftworden. Was steckt in derSeele der Befehlshaber und der Ausführendender Kriege im Großen, inder Ukraine, in Gaza, der vierzig anderenKriege auf der Welt; und auf jedemgeografischen Punkt auf dieser Erde,wo das Leben auch nur einer Frau oderauch nur eines Mannes oder auch nureines Kindes gewaltsam ausgelöscht wird?Immer wieder lese ich in den Tagebüchern der Etty Hillesum,diesem 900-Seiten-Dokument gläubiger Humanität.Ich lese: „Ich sehe keinen anderen Weg, als dasssich jeder von uns auf sich selbst besinnt und in sich alldas ausrottet und vernichtet, um dessentwillen er anderevernichten zu müssen glaubt.“ Liebe Frau Hirzberger,es tut mir leid, dass ich keinen tröstlicheren Schluss fürheute finde. Ich grüße Sie dennoch herzlich,Von Karl RahnerVor 120 Jahren wurde einer der bedeutendstenIn FURCHE Nr. 23Theologen des 20. Jahrhunderts geboren: Karl Rahner.38009. Juni 1962 Auszüge aus einem Schlüsselessay für DIE FURCHE.Am 5. März 1904 in Freiburg im Breisgaugeboren, prägte der Jesuit Karl Rahner wiekaum ein anderer die katholische Theologiedes vergangenen Jahrhunderts. Auf demZweiten Vatikanischen Konzil fungierte er alsBerater Kardinal Königs. Davor, zu Pfingsten1962, skizzierte er sein Bild von Kirche.„Der Geist weht,wo er will“AUSGABENDIGITALISIERTWir leben in einer Zeit, wo es einfachnotwendig ist, im Mut zumNeuen und Unerprobten bis zuräußersten Grenze zu gehen, bis dorthin,wo es für eine christliche Lehre und einchristliches Gewissen eindeutig und indiskutabeleine Möglichkeit, noch weiterzu gehen, einfach nicht mehr gibt. [...]Soll der Geist nicht ausgelöscht werden,dann bedarf es einer richtigen und mutigenInterpretation des kirchlichen Gehorsams.Dieser ist eine heilige Tugend.[...] Es gibt keinen echten Geist Christi,der aus der Kirche der Bischöfe, des Papstes,des Amtes hinausführt. Aber wennes wahr ist, daß der Geist Gottes in derKirche nicht nur durch das Amt, sondernauch durch die Unbeamteten, von ihnenher auf das Amt zu wirkt, dann habendie Menschen, denen Gott die Gnade unddie Last des Charismas schenkt [...], auchdas Recht und die Pflicht, sich nicht einfachhinter ein stummes und im Grundebequemes, gar nicht wirklich demütigesParieren zu verstecken, sondern zu sprechen,zu rufen, ihre Meinung, die durchausdie des Geistes Gottes sein kann,auch vor dem Amt der Kirche kundzututn[sic], immer aufs neue, auch wennsie lästig fallen, auch wenn es „oben“nicht genehm ist.[...] Zu den Voraussetzungen für das Lebendigwerdendes Geistes gehört auchder Mut zu diesem unvermeidlichen Antagonismusin der Kirche. Die Kirche istnicht so „ein Herz und eine Seele“, daß esin ihr keinen Kampf, kein Leid des gegenseitigenMißverstehens geben dürfte. Esgibt wirklich viele Charismen in der Kirche,und keiner hat alle, und keinem isteine Verwaltung aller Charismen aufgetragen,denn selbst die Sorge um die Einheitdes Glaubens und der Liebe, die daseine Amt in der Kirche hat, bedeutet keineeigentliche Verwaltung aller Charismendurch die amtliche Kirche. Nein, wirChristen werden und sollen in vielem verschiedenerMeinung sein, wir sollen verschiedeneTendenzen haben, es brauchtnicht jedes jedem positiv zu passen. Liebe,die auf Uniformität aufbauen dürfte,wäre leicht. In der Kirche aber soll derGeist der Liebe herrschen, die die vielenund verschiedenen bleibenden Gaben zueiner Einheit bindet, der Liebe, die den anderenauch noch annimmt und geltenläßt,so man ihn nicht mehr „versteht“.Das Prinzip, das mit der Liebe der Kirchein ihrem Handeln mitgegeben ist, besagt,daß jeder in der Kirche seinem Geistfolgen dürfe, solange nicht sicher feststeht,daß er einem Ungeist nachgibt, daßFoto: Gürer, IHSalso seine Rechtgläubigkeit, seine Freiheit,sein guter Wille vorauszusetzen seienbis zum wirklichen Beweis des Gegenteilsund nicht umgekehrt. [...] Geduld,Toleranz, Gewährenlassen des anderen[...] sind spezifisch kirchliche Tugenden,die aus dem Wesen der Kirche, die keintotalitäres System ist, erfließen und Voraussetzungendafür sind, daß der Geistnicht ausgelöscht wird.VON 1945BIS HEUTEÜBER 175.000ARTIKELSEMANTISCHVERLINKTDEN VOLLSTÄNDIGENTEXT LESEN SIE AUFfurche.atMedieninhaber, Herausgeberund Verlag:Die Furche – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KGHainburger Straße 33, 1030 Wienwww.furche.atGeschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner,Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-FlecklChefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-FlecklRedaktion: Philipp Axmann, Dr. Otto Friedrich(Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche,Dipl.-Soz. (Univ.), Brigitte Quint (Chefin vomDienst), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. BrigitteSchwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH)Manuela TomicArtdirector/Layout: Rainer MesserklingerAboservice: +43 1 512 52 61-52aboservice@furche.atJahresabo (inkl. Digital): € 298,–Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,–Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende derMindestbezugsdauer bzw. des vereinbartenZeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist.Anzeigen: Georg Klausinger+43 664 88140777; georg.klausinger@furche.atDruck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 GrazOffenlegung gem. § 25 Mediengesetz:www.furche.at/offenlegungAlle Rechte, auch die Übernahme vonBeiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten.Art Copyright ©Bildrecht, Wien.Dem Ehrenkodex der österreichischenPresse verpflichtet.Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling.Produziert nachden Richtlinien desÖsterreichischenUmweltzeichens,Druck Styria,UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 107. März 2024Diskurs15Johann Pock hinterfragte vor einer Woche an dieser Stelle die Kritik von Rom (und KardinalSchönborn) am Synodalen Weg der deutschen Katholiken – und ortete „Angst“. Eine Replik.Hat das Recht immer„dem Leben“ zu folgen?Wovor die Kritiker denn Angsthätten, fragte der Wiener PastoraltheologeJohann Pock inder letzten FURCHE angesichtsder jüngsten Diskussionenüber den Kurs des deutschen Katholizismus.Ein Mahnschreiben aus dem Vatikanhatte die Deutsche Bischofskonferenz aufgefordert,nicht über die Satzung des geplantenSynodalen Ausschusses abzustimmen, WiensKardinal Christoph Schönborn hatte in einemInterview mit communio.de die Bedenken Romsbekräftigt. In Deutschland will man den vonder Deutschen Bischofskonferenz (DBK) unddem Zentralkomitee der deutschen Katholiken(ZdK) veranstalteten Synodalen Weg verstetigenund ein landesweites Beratungs- und Entscheidungsgremiuminstallieren. Bisher ist esjedoch nicht gelungen, den Papst und die Kurievon dieser Idee zu überzeugen. Neben Schönbornhat sich auch der emeritierte KurienkardinalWalter Kasper zum Thema geäußert.Also: Wovor haben Papst, Kurie, Schönbornund Kasper Angst? Es ist typisch für die aktuelleDiskussionskultur, die Auseinandersetzungmit den Argumenten der Gegenseite zuüberspringen und sich stattdessen für Motivlagenund verborgene Beweggründe zu interessieren.Pocks rhetorische Frage kommt ohneAntwort aus. Doch wir kennen die gängige Erklärungaus der deutschen Debatte: Die römischenBehörden seien getrieben von der „Angstvor Macht- und Kontrollverlust“, meint etwa JoachimFrank, Journalist und ZdK-Mitglied. Espasst in diese Logik, dass Johann Pock die diesbezüglichenBeiträge als kirchenpolitische Interventionenwahrnimmt.Produktiver Streit braucht ArgumenteUnd doch wäre es das Ende jeder vernünftigenAuseinandersetzung, wenn man sich daraufeinlassen würde, dass sich mit dem Verweisauf die Genese einer Aussage ihre Geltungwiderlegen ließe. Sprich: Selbst wenn sich jemandvermeintlich aus „Angst“ oder kirchenpolitischemInteresse äußert, heißt das nicht,dass er deswegen im Unrecht ist. Produktiv istStreit nur, wenn man argumentiert.Inzwischen hat der Hildesheimer Bischof HeinerWilmer übrigens auf die Kritik geantwortet.Foto: PrivatDIESSEITSVON GUTUND BÖSEVonBenjamin Leven„ Es widersprichtdem katholischenEinheitsverständnis,wenn zentrale Fragenunterschiedlichbeantwortet werden.“Unter der Überschrift „Wir haben verstanden“signalisiert er die Bereitschaft zur konstruktivenAuseinandersetzung. Die Beiträge vonKardinal Kasper sollte man jedenfalls nichtvorschnell abtun. Denn sie weisen mit ihrenVorschlägen einen Ausweg aus einer verfahrenenDebatte. Auch die Warnung von KardinalSchönborn, die kirchliche Einheit im Glaubenund die Gemeinschaft mit dem Papst nicht zugefährden, muss ernst genommen werden.Johann Pock meint: Der Einwand verfängtnicht. Denn die deutschen Reformthemen seienauch bei der Versammlung der römischenBischofssynode im Oktober 2023 benannt worden.Gegenargument: Es stimmt, im „Synthese-Bericht“des Treffens tauchen viele der Fragendes Synodalen Weges auf, allerdings nichtdie in Deutschland gefundenen Antworten aufdiese Fragen. Zu vielem, was in Deutschlandund Österreich als „heißes Eisen“ gilt, heißt esin dem Bericht nur, es seien „unterschiedlicheEinschätzungen geäußert worden“. Die bei unsvieldiskutierten Themen Sexualität und sexuelleIdentität werden in dem Bericht außerdemnur ganz am Rande erwähnt. Ein Freifahrtscheinfür unilaterale Veränderungen lässtsich daraus nicht ableiten.Pock verweist auf die Möglichkeit „regionalerEntscheidungen“. Gegenargument: Esstimmt, dass die Kirche seit jeher subsidiär organisiertist und es in vielen praktischen FragenUnterschiede zwischen den Ortskirchengibt. Und doch hat sie Einheit immer auch alsgemeinsames Fürwahrhalten bestimmter Aussagenverstanden. Das ist für eine globale Kircheeine große Herausforderung: Was in einerKultur selbstverständlich ist, erscheint in einemanderen Kontext womöglich als Zumutung.Aber die Vorstellung, dass wesentliche Fragender Glaubens- und Sittenlehre in verschiedenenWeltgegenden, gar in Nachbarländern, unterschiedlichbeantwortet werden könnten,würde einem katholischen Einheitsverständniswidersprechen. Sie wäre außerdem eineForm des Wahrheitsrelativismus, durch densich jede weitere Debatte erübrigen würde:Die einen sagen so, die anderen sagen so.Nötige Kirchenrechtsänderung?Am Ende, meint Johann Pock, brauche es „kirchenrechtlicheÄnderungen“, „um Reformen inder katholischen Kirche nachhaltig zu platzieren“.Hier ist dem Theologen zuzustimmen: Einekirchliche Praxis, die sich dauerhaft außerhalbder Rechtsordnung bewegt, öffnet Tür undTor für pastorale Willkür und ist in hohem Maßemissbrauchsanfällig.Bei den erforderlichen Änderungen müsseman freilich einem „alten römischen Rechtssatz“folgen, so Pock weiter: „Ius sequitur vitam– das Leben hat nicht dem Recht zu folgen,sondern Recht dem Leben der Menschenzu dienen.“ Gemäß der oben betonten Unterscheidungzwischen Genese und Geltung istes unerheblich, dass der Sinnspruch erstmalsin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftaucht– es sich mithin nicht um ein antikesRechtsprinzip handelt. Wird er deskriptiv verstanden,hat er seine Berechtigung. Die „normativeKraft des Faktischen“ lässt sich ja nichtleugnen. Aber besitzt der Satz selbst wiederumnormative Gültigkeit? „Hat“ das Recht in jedemFall „dem Leben“ zu folgen? Es gibt ein paar alteRechtsgrundsätze, die dem entgegenstehen.Der Autor ist Redaktionsleiter Online derinternat. kath. Zeitschrift Communio.QUINT-ESSENZVon Brigitte QuintDas NorwegengateEin Kollege von einem anderen Mediumwollte unlängst von mir wissen,wie ich den Fauxpas von LenaSchilling bewerte. Er finde, man müsseihr dafür „eine auflegen“. Für alle, diejetzt nur Bahnhof verstehen, eine kurzeZusammenfassung der Causa: LenaSchilling, Spitzenkandidatin der Grünenfür die EU-Wahl, war von ORF-SatirikerPeter Klien ausgerechnet auf dem eigenenBundeskongress vorgeführt worden.Er fragte Schilling nach dem EU-Mitgliedsstatusvon Norwegen – und blicktein ein durch und durch ratloses Gesicht.Es wurde offensichtlich, dass die 23-jährigeKlimaaktivistin ihre Hausaufgabenzu den 27 EU-Staaten nicht gemachthatte. Spott und Häme brachen sich binnenSekunden in den sozialen NetzwerkenBahn. Für Grünen-Kritiker oder jene,die Klimaaktivisten und/oder selbstbewussten,vorlauten jungen Leuten mitArgusaugen begegnen, ist so etwas natürlichein gefundenes Fressen.Es wäre ein Leichtes, in die gleicheKerbe zu schlagen. Ich will Lena Schillingaber keine „auflegen“. Ich finde vielmehr,die Entscheidung, eine blutjungeQuereinsteigerin, Idealistin, ja, Rebellinins Rennen zu schicken, ist eine Unart.Die Ernennung zur Spitzenkandidatinwar für Schilling sicher schmeichelhaft,und so wie viele aus der Generation Zglaubt sie vermutlich ernsthaft, die Welthat nur auf sie gewartet. Einen Gefallenhat man ihr mit der Nominierung nichtgetan. Man verwehrt ihr, sich Schrittfür Schritt in das knallharte Politbusinesseinzufinden, zu lernen, zu wachsen.Stattdessen steht sie nun im feuerrotenRampenlicht – wo sie Gefahr läuftzu verbrennen. Das Norwegengate dürftenur ein Vorgeschmack gewesen sein.Lena Schilling wird verheizt, weildie erfahrenen Entscheidungsträgerinnenund -träger in der Partei kurzsichtigund wahrscheinlich auch feige sind.Sie setzen auf eine junge, unbefangeneHeilsbringerin, die bislang vergraulteWählerherzen zum Schmelzen bringensoll. Letzteres wäre eigentlich deren Jobgewesen. Dann hätte Lena Schilling Vorbilder,die ihr Orientierung gäben, undzudem Zeit genug, ihre Wissenslückenlangfristig zu schließen.NACHRUFFeministische Vordenkerin zwischen den DisziplinenWie wirken biologische und technische Systemezusammen? Was passiert dort, wo sich dasMenschliche mit dem Nichtmenschlichen koppelt?In ihrem tiefen Verständnis der Herausforderungendurch die Digitalisierung war die Medien- und KulturwissenschafterinMarie-Luise Angerer ihrer Zeitweit voraus.1958 in Bregenz geboren, analysiert sie im Laufeihrer Karriere, wie sich die gesellschaftliche Haltunggegenüber neuen Technologien verändert, von einer anfänglichenEuphorie hin zur aktuellen Skepsis. Eine„kritische Distanz einzunehmen“ und „gleichzeitig keinenausschließlichen Kulturpessimismus zu verbreiten“,sei dabei die besondere Herausforderung, erklärt sie2019 gegenüber dem ORF Vorarlberg.Bereits in ihrer Habilitationsschrift „Medienkörper.Produktion und Repräsentation von Geschlechtsidentitäten“befasst sich Angerer mit der komplexen Beziehungzwischen Körper, Identität, Gender und neuenMedien – ein Forschungsschwerpunkt, der sie währendihrer gesamten Karriere begleiten wird.Entscheidende Fragen rund um die Verbindung zwischendem Menschen und digitalen Medientechnologienwirft sie auch in ihrem Buch „Body Options“ aus demJahr 1999 auf. Körperlichkeit nehme in neuen Medien,gerade wegen ihrer physischen Abwesenheit, eine zentraleRolle ein, so Angerer.Auch in ihrem Buch „Nicht-bewusst“, erschienen imJahr 2022, behandelt die Theoretikerin die human-technologischeBeziehung. Im Zentrum ihres letzten Werkssteht das Zusammenspiel „zwischen dem Rhythmus desmenschlichen Körpers und der Taktung der Maschine“.Darüber hinaus entwickelt die Vorarlbergerin medienundgeisteswissenschaftliche Theorien rund um Affekt,also das körperlich manifestierte Empfinden von Gefühlen,wobei sie stets einen interdisziplinären Zugang verfolgt.So verknüpft sie ihre Thesen unter anderem mitpsychologischen und kognitionswissenschaftlichen sowiekunsthistorischen Erkenntnissen. Besonders prägendfür ihre wissenschaftliche Arbeit sind ihre internationalenForschungsaufenthalte, unter anderem inKalifornien und Sydney.Anschließend an eine Professur in Köln bekleideteMarie-Luise Angerer zuletzt den Lehrstuhl für Medienwissenschaftenan der Universität Potsdam. Am 2. Märzist sie mit 65 Jahren verstorben. (Magdalena Schwarz)Foto: Thomas Roese/Universität PotsdamDie VorarlbergerKultur- und MedienwissenschafterinMarie-Luise Angererist vergangeneWoche verstorben.

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023