DIE FURCHE · 23 8 Politik 6. Juni 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 7 ONLINE WEITERLESEN „Ohne Zuwanderung wäre in Österreich Schluss“ und zugleich kommen nicht so viele junge Pflegende nach, um jene zu ersetzen, die jetzt das Pensionsalter erreichen.“ Angesichts des demographischen Wandels wird Österreich also in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Zuwanderung brauchen. Sie sei wichtig, um in absehbarer Zeit mehr junge Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen und so den Pflegebereich zu entlasten, sagt Monika Riedel: „Migration ist hier natürlich ein Thema. Aber dazu müssten wir Österreich auch attraktiv machen. Die österreichische Migrationspolitik der letzten Jahre hat uns aber als Einwanderungsland nicht wahnsinnig attraktiv gemacht.“ Die politische Rhetorik sei Teil davon, meint die Expertin. Gleichzeitig betont Riedel, dass Zuwanderung nur einen Teil des Personalbedarfs decken könne: „Das funktioniert nicht in der breiten Masse. Wir sind gut beraten, wenn wir hier auch autark bleiben, auf eigene Pflegekräfte setzen und ihnen den Beruf schmackhaft machen.“ DIE FURCHE: Wie sehr ist Österreich im EU-Vergleich von Einwanderung geprägt? Roland Verwiebe: Sehr, vor allem mit Blick auf die vergangenen Jahre. Innerhalb von 15 Jahren hat der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich um rund eine Million zugenommen. Die Gesellschaft hat sich dadurch stark verändert: In Wien haben mittlerweile die Hälfte aller Menschen einen Migrationshintergrund. Es gibt kaum eine internationalere Stadt in Europa – am ehesten noch Paris oder London. Aber selbst die deutschen Großstädte sind nicht so international wie Wien. In anderen Bundesländern liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hingegen bei 15 bis 20 Prozent. [...] DIE FURCHE: Kann man quantifizieren, welchen Beitrag Migrantinnen und Migranten für Österreich leisten? Verwiebe: Jedenfalls einen zentralen. Ein paar Beispiele: Sie könnten kein Spital in Österreich ohne Einwanderung betreiben. Sie könnten die Müllabfuhr nicht betreiben. Sie könnten den öffentlichen Nahverkehr nicht betreiben. Sie würden nicht genug Fahrer für die Taxifirmen finden. Auch die ÖBB könnten Sie nicht betreiben. Österreich braucht die Fachkräfte aus Italien, Portugal, Polen, Kroatien und ja, auch aus Syrien. Foto: Sandra Scholz Soziologe Roland Verwiebe von der Universität Potsdam forscht schwerpunktmäßig zu Migration. Haben wir Ihr Interesse geweckt? Das ganze Gespräch über die Rolle von Migration für Österreich finden Sie auf furche.at. „ Die österreichische Migrationspolitik der letzten Jahre hat uns als Einwanderungsland nicht wahnsinnig attraktiv gemacht. “ Monika Riedel, Gesundheitsökonomin am IHS Die Pflege ist freilich nur eine von zahlreichen Branchen, die längst händeringend nach Fachkräften suchen. Industrieverbände sprechen davon, dass der österreichischen Wirtschaft bis 2030 mehr als 63.000 Fachkräfte im Bereich Technik und IT fehlen werden. Umso angestrengter versucht Österreich, qualifizierte Personen über die Rot-Weiß-Rot-Karte aus dem Ausland zu gewinnen. Derzeit funktioniert die Karte über ein Punktesystem: Um als Drittstaatsangehöriger eine Rot-Weiß- Rot-Karte zu erlangen, muss man mit Sprachkenntnissen, Ausbildung und vor allem Arbeitserfahrung je nach Berufsgruppe mindestens 55 bis 70 von maximal 90 bis 100 Punkten erreichen. Für Mangelberufe reicht eine geringere Punktezahl. Zudem gibt es insgesamt fünf Varianten der Rot- Weiß-Rot-Karte. Der Rechnungshof hat dieses System zuletzt als allzu kompliziert sowie für Antragstellerinnen schwer verständlich kritisiert und deshalb eine Vereinfachung des Ablaufs angeregt. Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) hat jedenfalls mit der Rot-Weiß-Rot-Karte – auch über die Wahl hinaus – noch viel vor: Bis Jahresende will er 10.000 ausgestellte Karten erreichen (im Vorjahr waren es rund 8000). Auch die kommende Bundesregierung wird sich – unabhängig ihrer Parteifarben – weiter mit den Zuwanderungsregularien beschäftigen müssen. Dann könnten irgendwann auch Ärztinnen wie Olga K. leichter in Österreich Fuß fassen – ganz ohne Schikanen. Medien ... Zeitungen/Zeitschriften print/digital Fernsehen Radio Social Media Plattformen ... haben starken regionalen Bezug 11 % 30 % 42 % 76 % Die aktuelle Media-Analyse zeigt eindeutig: Zeitungen und Magazine sind das perfekte Umfeld für Ihre Werbung. Denn sie werden in hohem Maße als regionaler, glaubwürdiger, kritischer und gesellschaftlich relevanter wahrgenommen. Zeitungen und Magazine bringen’s – Print und digital. ... sind besonders glaubwürdig 4 % 39 % 31 % 30 % Quelle: Media-Analyse 2023, Feldzeit: Juli-September 2023, n=2.058 ... berichten kritisch 25 % 24 % 58 % 47 % ... sind gesellschaftlich relevant 33 % 28 % 23 % 17 %
DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Religion 9 Die Leiterin der neu eröffneten Ehemaligen Synagoge in St. Pölten, Martha Keil, über alten und neuen Judenhass, Erinnerungskultur und die bevorstehenden „Jewish Weekends“. Das Gespräch führte Till Schönwälder Seit den Novemberpogromen von 1938 gibt es in St. Pölten keine jüdische Gemeinde mehr. Seit diesem April befindet sich aber dort, wo sich einst St. Pöltens Jüdinnen und Juden zum Gebet versammelten, ein mit Geldern von Bund, Stadt und Land finanzierter Gedächtnisort. Das Kulturzentrum Ehemalige Synagoge (ehemalige-synagoge.at) soll an das einstige jüdische Leben in der Landeshauptstadt erinnern und neue Räume eröffnen. Warum es sich dabei für die wissenschaftliche Leiterin der Einrichtung, die Historikerin und Judaistin Martha Keil, lediglich um die zweitbeste Lösung handelt, erklärt sie im FURCHE-Interview. DIE FURCHE: Sie wollen mit der Ehemaligen Synagoge St. Pölten. der Geschichtsvergessenheit etwas entgegensetzen. Können solche Orte helfen, aus der Geschichte zu lernen? Martha Keil: Ja, mir liegt natürlich die „Ehemalige Synagoge“ am Herzen – und ich hoffe sehr, dass viele Schulklassen kommen und diesen Gedächtnisort besuchen. Aber das ist nur die zweitbeste Lösung. Die beste wäre, wenn es wieder eine jüdische Gemeinde dort gäbe. Ich finde den Ort trotzdem wichtig, weil er viel erzählt vom guten jüdischen Leben in diesem Haus und in dieser Stadt, auch wenn es nicht mehr existiert. Wir haben mit der Ehemaligen Synagoge viel vor, sie soll Räume öffnen, wo sich Menschen jeder Religion und Herkunft treffen. Wir haben jetzt etwa die „Jewish Weekends“. Da wird an zwei Wochenenden (Anm.: 7. bis 9. und 14. bis 16. Juni) ein breites Spektrum jüdischer Kultur abseits von Klischees zu erleben sein. Die Musik erzählt schließlich auch von jüdischem Leben in Vergangenheit und Gegenwart! Es werden österreichische Erstaufführungen internationaler Ensembles und vieles mehr geboten. Foto: Till Schönwälder „Es bleibt trotzdem Antisemitismus“ DIE FURCHE: Die Synagoge in St. Pölten wurde erst im April wiedereröffnet. Bund, Land und Stadt hatten die Kosten von 4,6 Millionen Euro übernommen. Gibt es in Österreich mittlerweile eine angemessene Erinnerungskultur? Keil: Die Renovierung ist sehr fein und löblich. Aber im Prinzip müssen wir sagen, es gab eine Zeit, da wurden Jüdinnen und Juden nicht geschützt und nur deswegen können wir uns hier und jetzt als die großen Beschützer jüdischen Lebens gerieren. Das ist eine Tatsache, auch wenn es paradox ist und nicht nett klingt. Es ist verständlich, dass bei der Eröffnung alle mit auf die Fotos wollen, es stellt sich aber die Frage, was wir eigentlich feiern sollen. Auch ich verdanke dem Verbrechen der Schoa meinen Beruf und mein Gehalt, das ist schon pervers in gewisser Weise. Wir sind Nutznießer. Ich bin mir auch bewusst, dass wir als Kultur- und Gedenkstätte als Feigenblatt für die Politik dienen könnten, aber ich denke auch, es sind sinnvoll verwendete Gelder. Denn die Aufarbeitung tut auch in Österreich weiter Not, man hat sich hier immer gut versteckt hinter dem großen Bruder Deutschland und sich als „erstes Opfer“ dargestellt. Aber Österreich hatte eigentlich absolut dieselbe Motivation, da ganz ehrlich sehr beflissen zu sein. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Verantwortung begann hier sehr spät. DIE FURCHE: Beinahe täglich hört man aktuell von Angriffen auf Jüdinnen und Juden. Sehen Sie seit dem 7. Oktober jüdisches Leben in Österreich gefährdet? Keil: Ich sehe individuelles jüdisches Leben gefährdet, weil es einfach viel mehr Radikale gibt und anscheinend geglaubt wird, dass antisemitische Aggression mit einer „Pro-Palästina-Solidarität“ besser gerechtfertigt werden kann. Man kanalisiert diese antisemitische Wut, die man in sich hat, jetzt mit einem politischen Argument. Auch soziale Medien, die so viel anonymes „Dreck-Geschleuder“ ermöglichen, tragen dazu das Ihre bei. Also ja, da ist eine größere Gefährdung, wenn ein Mensch als jüdisch erkennbar ist. Ich habe auf dem Weg zu diesem Interview im Bus einen jungen Mann mit Schaufäden (Anm. Fäden, die an den vier Ecken des jüdischen Gebetsschals hängen) gesehen und mir gedacht, „Du bist ein richtig mutiger Bursche, gratuliere!“. Wenn ich in der Situation wäre, weiß ich nicht, ob ich mich das trauen würde. DIE FURCHE: Aber wie ist zu erklären, dass dieser Hass aktuell weltweit derartig zunimmt? Keil: Es wird als Solidarität mit dem unterdrückten Volk der Palästinenser argumentiert und ich verstehe, dass man für Unterdrückte protestiert, und das sind Palästinenser ohne Zweifel. Wie das passiert, zeigt aber, dass die Protestierenden mindestens auf dem einen Auge blind sind. Wo ist die Solidarität mit den entführten und vergewaltigten Frauen, mit den hingemetzelten Kindern und alten Menschen? Wer so etwas als Widerstand bezeichnet, entlarvt sich entweder als hasserfüllter Antisemit oder er verkennt die Lage vollkommen. Aber ich glaube, da steckt doch leider hasserfüllter Antisemitismus dahinter. Das ist es, was ich fürchte, und der wird immer salonfähiger. Natürlich werden die Menschen in Gaza in einer entsetzlichen Lage gehalten, aber wer ist dafür verantwortlich? Wer stellt sie auf die Dächer als Schutzschilder und wer steckt sie in den Tunnel, wer schützt sie nicht? Wer gibt Millionen für Waffen aus statt für Nahrung und Schulbildung für die eigene Bevölkerung? Hier muss man schon auf die Umstände schauen, man macht es sich zu leicht, wieder einmal Israel als Sündenbock für all diese Missstände zu definieren. DIE FURCHE: Früher war Antisemitismus zumeist rechtsextrem konnotiert, jetzt ist Judenfeindlichkeit auch von muslimischer Seite und aus dem linken Spektrum zu beobachten. Woran liegt das? Keil: Antisemitismus hat es in der Geschichte immer in ganz unterschiedlichen politischen Lagern gegeben, weil es einfach ist, sich auf einen gemeinsamen „Außenfeind“ zu fokussieren. Wenn ich jetzt immer öfter lese, dass der Antisemitismus mit den muslimischen Einwanderern importiert wird, kann ich nur den Kopf schütteln. Wir, mit unserer Geschichte, brauchen wirklich nicht woanders hinschauen und mit dem Finger auf andere zeigen. Jetzt steht gerade der islamistische Antisemitismus im Fokus und der linke, mit seiner Israelkritik. Aber man darf den rechten Antisemitismus deswegen nicht vergessen. Wenn man all diese Formen auf ihre Kernaussage reduziert, dann begründen sie sich alle in einem alten, klassischen mittelalterlichen Antijudaismus, der sich aus dem Christentum speist. Sich das zu vergegenwärtigen und dann noch einmal vor der eigenen Tür zu kehren, wäre angebracht. DIE FURCHE: Können Sie die Studierendenproteste verstehen, die sich von den USA aus auch auf den deutschsprachigen Raum und die Uni Wien ausgebreitet haben? Keil: Nein, gerade hier bei uns kann ich das gar nicht nachvollziehen. Die Protestierenden hier haben ja einfach von den US- Universitäten ihre Forderungen abgeschrieben, die für die österreichischen Universitäten überhaupt nicht passen. Es zeugt Kanalisierte Wut Die Historikerin und Judaistin Martha Keil sieht in den Pro-Palästina-Protesten letztlich einen Kanal, um antisemitische Wut mit einem politischen Argument besser rechtfertigen zu können. Martha Keils Text über Judenvernichtung vor der Schoa finden Sie unter „600 Jahre Wiener Gesera“ (21.10.2020) auf furche.at. „ Ich bin mir auch bewusst, dass wir als Kultur- und Gedenkstätte als Feigenblatt für die Politik dienen könnten. “ auch von einer unglaublichen Geschichtsvergessenheit. Wenn das meine Studierenden wären, würde ich ihnen sehr deutlich klarmachen, was der Holocaust war, dass Österreich dafür verantwortlich ist, dass das hier einfach so nicht geht. Wir können hier nie völlig blind in eine Richtung argumentieren und die Existenz Israels muss unabdingbar und bedingungslos akzeptiert werden. Es ist ja kein Zufall, dass es Israel gibt. Aber sie scheinen nichts zu wissen von der Genese Israels, wie es entstanden ist, dass es da einen Teilungsbeschluss gab und so weiter. Es gab hier ja ein völkerrechtliches Abkommen, das ist UNO-Geschichte. DIE FURCHE: Wie könnte eine friedliche Zukunft in Israel aussehen? Keil: Um ehrlich zu sein, sehe ich da aktuell kaum positiv in die Zukunft. Es gibt momentan einen Eskalationszustand und ein Bedrohungspotenzial, die so schlimm sind wie noch nie. Ich hatte immer die Hoffnung, es könnte zwischen Israel und Palästina einmal so werden wie in Nordirland. Da hat man auch lange gedacht, das Land würde nie zur Ruhe kommen, und dann ist es doch irgendwie gegangen. Wer war die treibende Kraft? Die Frauen! Ich habe auch in Israel und Palästina ein unbedingtes Vertrauen in die Frauen auf beiden Seiten. Es gibt diese Bewegungen schon jetzt dort, gemeinsame Gruppen von arabisch-israelischen, palästinensischen und jüdischen Familien, die ihre Kinder bei Attentaten verloren haben. Diese Größe muss man erst einmal haben. Aber sie haben alle die Erkenntnis erlangt, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
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