DIE FURCHE · 23 24 6. Juni 2024 Von Manuela Tomic Aus dem Backsteingebäude der ehemaligen Ankerbrotfabrik im zehnten Wiener Gemeindebezirk erklingt der Danse Bacchanale von Camille Saint-Saëns. Im gläsernen Proberaum des „Superar“-Orchesters üben Kinder und Jugendliche. Geigen werden gestimmt, Blasinstrumente geputzt, der Ablauf geprobt. Man merkt schnell, dass „Superar“ keine gewöhnliche Musikschule ist. Hier werden Kinder und Jugendliche an klassische Musik herangeführt, die sonst keinen Zugang dazu hätten. Ein kostenloses Programm ermöglicht es ihnen, über Jahre hinweg Musik zu machen. Auch die Instrumente werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Sie lernen Stücke von Mozart, Brahms, Liszt und Beethoven. Im Nebenzimmer sitzen Aset und Fatima. Aset ist schon ein Medienprofi, Fatima etwas nervös. Interviews zu geben, ist für die Mädchen nicht alltäglich. Aset ist seit elf Jahren bei „Superar“, Fatima seit neun. Fatima trägt einen grauen Pullover und eine zerrissene Jeans, wie sie heute alle tragen. Auf Asets Schneidezahn glitzert ein Strassstein, ihr weißes T-Shirt ziert eine Kette. Ganz normale Teenager eben. Aber die beiden haben Talent. Bei „Superar“ haben sie gelernt, Geige zu spielen. Am 23. Juni dürfen sie bei den Olympischen Sommerspielen in Paris auftreten. Das „Superar“-Orchester aus Wien schickt sechs Streicher nach Frankreich, wo die jungen Musikerinnen und Musiker in der eigens für die Kulturolympiade inszenierten Musik- und Tanzshow „La Vie fantastique“ im Pierre-Boulez-Saal der Philharmonie de Paris zeigen, was sie können. Kulturelle Vielfalt und Inklusion stehen dabei im Mittelpunkt. Weg von der Straße Aset und Fatima haben schon einige Auftritte hinter sich, zum Beispiel in Straßburg anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft 2022. „Dort haben wir auch anlässlich des Krieges in der Ukraine für den Frieden gespielt“, erzählt die 16-jährige Fatima. Insgesamt sechs Mal sind sie bereits zu Proben nach Frankreich gereist. „Wenn ich Selfies vom Eiffelturm auf Instagram poste, beneiden mich meine Schulfreundinnen“, erzählt die 18-jährige Aset, „aber sie wissen nicht, dass die Proben auch sehr hart und anstrengend sind.“ In der Schule sind sie die Lieblinge ihrer Musiklehrerinnen. „Man fühlt sich so gebildet, weil man alle Komponisten kennt und die Noten perfekt lesen kann“, erzählt Aset lächelnd. Ihr Lieblingskomponist ist Gustav Holst. Privat hören Aset und Fatima Rap und Afrobeats. „Am Anfang war es komisch, klassische Musik zu spielen“, sagt Fatima, „aber es gibt Stücke, die richtig cool sind und solche, die Erinnerungen wecken.“ Fatima und Aset gehören zu jener Generation, deren Eltern einen Migrationshintergrund haben, die aber in Österreich geboren wurden. Fatimas Eltern stammen aus Bosnien und sind noch vor dem Krieg nach Österreich gekommen. Asets Eltern sind Tschetschenen und kurz vor ihrer Geburt vor dem Foto: Nicolas Lascourrèges Stolze Eltern „Viele Familien kommen zum ersten Mal in den Konzertsaal“, erzählt Sabine Gretner, Geschäftsführerin von „Superar“. Dass ihre Kinder klassische Musik spielen, macht die Familien stolz. Die Initiative „Superar“ ermöglicht allen Kindern kostenlosen Musikunterricht. Fatima und Aset haben so Geige spielen gelernt. Am 23. Juni treten sie in Paris auf. „Man fühlt sich so gebildet“ Krieg geflohen. Sie haben in der Schule von „Superar“ gehört und sich angemeldet. Ihre Geschwister waren bereits im Programm. „Ich wollte immer alles machen, was meine ältere Schwester macht“, sagt Aset und lacht. Bei Fatima war es ähnlich. Ob klassische Musik in ihren Familien eine Rolle spielt? Fatima und Aset lachen. „Nein, gar nicht“, sagen sie. Neben ihnen sitzt Sabine Gretner, die Geschäftsführerin von „Superar“. „Man merkt, dass die Eltern sehr stolz auf den Erfolg ihrer Kinder sind. Viele kommen zum ersten Mal in den Konzertsaal und staunen, was ihre Kinder leisten.“ Es gehe bei „Superar“ aber nicht darum, perfekte Musiker und Musikerinnen auszubilden, sagt Gretner. „ Am Anfang war es komisch, klassische Musik zu spielen, aber es gibt Stücke, die richtig cool sind und solche, die Erinnerungen wecken. Fatima, Geigerin “ „Manche Kinder meinen, sie würden auf der Straße rumhängen, wenn sie nicht hier wären.“ Sie wolle die Kinder fürs Leben ausbilden. Sie lernen, aufeinander zu hören, sie lernen Disziplin und dass es wichtig ist, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, sagt sie. Aset möchte keine professionelle Musikerin werden, sondern nach der Schule Chemie studieren. Dann wird sie kurz nachdenklich. „Aber wenn ich die Chance bekäme, professionell in einem Orchester zu spielen, dann würde ich das machen“, sagt sie mit einem Leuchten in den Augen. Die vielen Reisen, die Proben, Orchester mit Hunderten von Jugendlichen, „das ist schon cool“, sagt Aset, und sie genieße es sehr. Fatima will die Musik als Hobby behalten. Derzeit besucht sie eine Handelsschule. „Superar“ wurde 2009 vom Wiener Konzerthaus, den Wiener Sängerknaben und der Caritas Wien nach dem Vorbild des venezolanischen Förderprogramms „El Sistema“ gegründet. Das wohl berühmteste Ziehkind Lesen Sie dazu auch den Text „Musizieren muss nicht weh tun“ von Doris Helmberger- Fleckl (11. Dezember 2014) auf furche.at. des Programms ist der Dirigent Gustavo Dudamel. Mit zehn Jahren begann der Venezolaner Violine zu studieren, später auch Komposition. Mit zwölf Jahren leitete er das Jugendorchester seiner Heimatstadt. Schnell wurde sein Talent entdeckt. Heute ist er musikalischer und künstlerischer Leiter des Los Angeles Philharmonic Orchestra. Doch Karrieren wie seine sind selten. Auf der Suche nach Investoren Mit 28 Standorten in sieben Ländern setzt sich „Superar“ für die kostenlose musikalische Förderung von Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrem kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Hintergrund ein. Auf die Frage, aus welchen Ländern die Kinder im „Superar“- Orchester kommen, schüttelt Gretner den Kopf: „Ich will den Kindern keinen Stempel aufdrücken. Es ist egal, woher sie kommen, aber wir sprechen bei ‚Superar‘ 27 Sprachen“. Gretner ist es wichtig, die Kinder nicht zu schubladisieren. Natürlich sind seit 2022 auch Kinder und Jugendliche aus der Ukraine dabei. Für sie gebe es sogar ein eigenes Angebot mit ukrainisch sprechenden Pädagoginnen und Pädagogen, erklärt die Geschäftsführerin. Jedes Jahr müsse sie sich um Fördermittel bewerben. Das sei nicht einfach. Jährlich fehlen 100.000 Euro. Derzeit ist „Superar“ auf der Suche nach Investoren. In einer Woche geht es für Fatima und Aset wieder nach Paris. „Wir haben immer Betreuerinnen dabei, die auf uns aufpassen“, erzählt Fatima. Nervös sind die beiden nicht. Sie wollen ihren Auftritt bei den Olympischen Spielen genießen. „Wenn ich allein auf der Bühne stünde, hätte ich schon Angst“, sagt Fatima, „aber im großen Orchester fühle ich mich sicher.“ Von Manuela Tomic MOZAIK Praktikum Mit 21 ergatterte ich ein Praktikum bei der taz in Berlin. Am ersten Tag schlürfte ich vier Tassen sauren deutschen Filterkaffee und saß mit Herzflimmern und Ohrensausen in der Redaktion, die über die Eurokrise und Frauenfußball-WM debattierte. „Kako si?“, rief mir Rüdiger, ein altgedienter „tazler“, vom anderen Ende des Büros zu. „Gut geht’s“, antwortete ich. Beim Mittagessen verstummte ich jedoch vor Staunen, als mir Rüdiger erzählte, dass er in den 90er-Jahren Mitarbeiter der OSZE in Sarajevo war. Meine ersten Geschichten trugen Titel wie „Piep, piep, tot“ oder „Keine Angst vor Putin“. Einmal ging es ums Vogelsterben, ein andermal um den deutschen Atomausstieg. Von Deniz Yücel, der die lachende Linke spaltete, lernten wir vormittags im Hausunterricht die Kunst der Satire. Mittags mampfte ich mit den anderen Praktis Currywurst und witzelte im Garten des alten Rudi-Dutschke-Hauses unter einem riesigen Penis-Relief. Nach der Arbeit verabredeten wir uns am Checkpoint Charlie, wo es vor Touristen wimmelte, die sich neben Sandsackbarrikaden und falschen US-Soldaten grinsend fotografierten. In diesem Sommer fühlte ich mich, als könnte ich die letzten bunten Reste der Mauer einreißen. Am Ende des Praktikums ging mir das Geld aus und ich zog zurück zu meiner Mutter nach Kärnten. Mit einer Chipstüte in der Hand schmiedete ich in meinem Kinderstockbett Pläne für meine weitere Karriere. Heute habe ich „Angst vor Putin“ und meine Hoffnung auf eine friedliche Revolution ist mehr als „piep, piep, tot“. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch!
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