DIE FURCHE · 23 20 Musik 6. Juni 2024 Das „Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘“ bei den Wiener Festwochen und ein eigenwilliges Musiktheater in der Kammeroper. Nur halbe Sachen Foto: Herwig Prammer Von Walter Dobner Nichts ist schlechter als fehlende oder ungenügende Kommunikation. Das zeigte sich auch bei den Wiener Festwochen. Noch hatten sie nicht begonnen, und schon gab es einen Eklat, ausgelöst durch den neuen Intendanten Milo Rau. Mit zwei Requien, Brittens „War Requiem“ und dem „Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘“ des zeitgenössischen ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych, wollte er an die kriegerischen Turbulenzen der Gegenwart erinnern – mehr noch: sie geißeln. Ein kluges Konzept. Prominente Interpreten waren als Dirigenten vorgesehen: für Britten Teodor Currentzis, für den ukrainischen Beitrag die aus Brody stammende, Bayreuth-erfahrene frühere Chefdirigentin der Grazer Oper und gegenwärtige Musikdirektorin des Opernhauses von Bologna Oksana Lyniv. Nicht, dass Lyniv grundsätzlich etwas gegen Currentzis’ Engagement gehabt hätte. Aber mit jemandem Teil eines Projekts zu sein, dem – wie diesem Dirigent – bis heute kein Wort über die russische Aggression gegenüber Russland über die Lippen gekommen ist, das konnte die ukrainische Maestra nicht akzeptieren. Vor allem auch, weil man sie davor nie von diesem Plan informiert, sie vielmehr vor beschlossene Tatsachen gestellt hatte. Vielleicht wäre es mit Courage sowie einigem diplomatischen Geschick gelungen, dennoch zu einer Lösung zu kommen, um der ursprünglichen Absicht zum Durchbruch zu verhelfen. Offensichtlich aber nicht, denn schließlich luden die Festwochen Currentzis aus, eine problematische Entscheidung. Schadensbegrenzung bedeutet nicht immer Konfliktlösung. Dabei wäre Brittens „War Requiem“ – noch dazu in der geplanten Besetzung – gewiss auf ein ebenso großes Interesse gestoßen wie die beiden ukrainischen Beiträge, die Lyniv mit der ihr eigenen Energie und Kompetenz an der Spitze des Kyiv Symphony Orchestra, den Mitgliedern des YsOU Young symphony Orchestra of Ukraine, des National Choir of Ukraine „Dumka“ und den prägnant akzentuierenden Solisten im Wiener Konzerthaus präsentierte. Zuerst Evgeni Orkins „Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester, basierend auf Paul Celans gleichnamigem Gedicht. Dann Stankovychs das größte Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs thematisierende „Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘“ (Text: Dmytro Pawlytschko). Beides sind von den ihnen zugrunde liegenden Themen höchst „ Es ist eine Art literarischmusikalisches Pasticcio, in dem die Titelfigur des Richard III. gleich verdreifacht erscheint. “ inspirierte, bewegende Bekenntnismusiken, welche die Konzentration der Zuhörer bewusst fordern. Allerdings: Wenn dieses Projekt ein solches Festwochen-Anliegen war, weshalb wurde es nur einmal aufgeführt? Und warum hat man sich nicht der Mühe unterworfen, dazu ein informatives Programmheft zu gestalten, nicht so ein dünnes Placebo? Was soll dieser „Richard III.“? Am Ende doch nur eine halbe Sache, wie auch die letzte Kammeroper-Premiere dieser Saison: „Richard III. Musiktheater nach der Tragödie von William Shakespeare“ mit Musik von Henry Purcell respektive einiger seiner Zeitgenossen. Es ist eine Art literarisch-musikalisches Pasticcio, in dem die Titelfigur gleich verdreifacht erscheint. Um damit die Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit zu verdeutlichen? Oder um das ohnedies schon durch eine mehr beliebige als durchdachte Dramaturgie (Kai Weßler) angekränkelte Geschehen noch unübersichtlicher zu machen? Zwar kann man nachlesen, welche Stücke nach und nach erklingen. Das Programmheft bietet auch einen Leitfaden zum aus dem originalen Shakespeare gefilterten Geschehen. Um es als Lehrstück für Tyrannei, wie ein Aufsatz in diesem Programm übertitelt ist, darzubieten, hätte man es allerdings nicht so übertrieben, geradezu schrill in Ausdruck und Kostümen (Constanza Meza-Lopehandia) offerieren müssen. Besser wäre gewesen, wenn die Regie (Kateryna Sokolova) den Fokus deutlicher auf das eigentliche Anliegen des Stücks gelenkt hätte. Auch musikalisch hielt sich dieser Abend sehr in Grenzen. Das Bach Consort Wien, diesmal unter Benjamin Bayl, hat man schon inspirierter aufspielen gehört. Von den Sängerinnen und Sängern – darunter Timothy Connor als Einspringer für den erkrankten, die Rolle des Richard auf der Bühne aber mimenden Christoph Filler – hätte man sich mehr Artikulationsklarheit und Phrasierungsraffinesse gewünscht. Auch hier wäre ungleich mehr drinnen gewesen. Wiener Festwochen Noch bis 23. Juni Richard III. Wiener Kammeroper 8., 10., 12., 15., 17., 19., 21., 23.6. Grafenegg grafenegg .com Wo die Natur die 1. Geige spielt Sommerklänge — 20/06–10/08 Festival — 16/08–08/09
DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Film 21 Sabin Tambrea und Henriette Confurius brillieren in „Die Herrlichkeit des Lebens“. Ein mehr als poetischer Film zum hundertsten Todestag von Franz Kafka. KURZKRITIKEN Liebe vor dem Vergehen Von Otto Friedrich Schwindsucht – so wurde die Volksseuche Tuberkulose genannt. Die lautmalerische Bezeichnung passt auf die von Sabin Tambrea gespielte Dichtergestalt, deren letztes Lebensjahr der ebenso poetische wie mitnehmende Film „Die Herrlichkeit des Lebens“ von Georg Maas und Judith Kaufmann ins Kino bringt. Der Dichter ist Franz Kafka, und der Plot des überaus gelungenen Unterfangens beruht auf dem gleichnamigen Roman von Michael Kumpfmüller aus 2004 – der nicht nur das Sterben des Prager Literaten zum Inhalt hat, sondern zuvorderst seine Liebe zu Dora Diamant, jener Erzieherin, Schauspielerin und politischen Aktivistin, die Kafka bis zum Tod am 3. Juni 1924 begleitete und knapp drei Jahrzehnte überlebte. Das Bild, das der Film von Kafka zeichnet, ist das eines sinnenfrohen, offenen und liebesdurstigen Mannes. Der Titel ist dessen Conclusio – und ein Zitat aus Kafkas Tagebüchern: „Ich glaube, dass die Herrlichkeit des Lebens immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt. Aber verhängt, in der Tiefe unsichtbar. Ruft man sie beim richtigen Namen, dann kommt sie.“ Keine Rede von dem sexuell Verklemmten, der an sich und der Welt irre wurde, wie sich Kafka – auch aus einer fehlgeleiteten Gleichsetzung seiner Literatur mit DRAMA der Biografie des Dichters – in vielen Hinterköpfen festgesetzt hat. Vielmehr entwickelt sich hier der flüchtige Augenblick einer Leidenschaft, die spät, aber gerade noch in ein Leben einbricht. Und die kein Widerspruch zum beständigen Ausblick auf den Tod ist, der Kafka ein Jahr später ereilen wird. Schon die erste Szene des Films umfasst ikonografisch, was dann erzählt wird: Eine bleiche Gestalt in feinem Tuch und Schuhwerk sitzt im Strandkorb in Müritz an der Ostsee. Rund um ihn eine aufgeweckte Kinderschar in Badekleidung – wie auch deren Erzieherin Dora. Der Herr gibt der Schar eine Geschichte zum Besten, deren unausweichlicher Endpunkt der Tod ist. Trotz solcher Auguren verlieben sich die 25-jährige Jüdin Dora und der wenig religiöse, 40-jährige Jude Kafka. Sie bringt ihm die Religion wie auch Unbeschwertheit näher. Er steuert nicht nur die Paradoxien der Existenz bei, die in seinen Schriften so gegenwärtig sind, sondern auch Neugier und Lebenslust, selbst wenn diese durch die Krankheit schleichend bis jäh konterkariert werden. Lehrer, macht die Hausaufgaben! Nicht alle Jobs sind gute Jobs. Der eines Jungpädagogen an einem französischen Collège gehört zum Beispiel eher nicht dazu. Das erfährt der Leider-nicht-Arzt und darob Neo-Professor Benjamin (leidenschaftlich dargestellt von Vincent Lacoste) gleich an seinem ersten Schultag, als ihm in seiner Klasse einfach gar niemand zuhört. Dabei geht es um die Mathematik, die natürlich jeder zum Überleben braucht! Dass Benjamin nicht akzeptiert wird, ist ein nicht unbekanntes Phänomen im (französischen) Schulalltag, der durchwachsen ist von Migrationsproblemen, juveniler Orientierungslosigkeit und den familiäre Stress-Situationen der Eleven. Jedoch zeigt der durchwegs positiv gestimmte Film von Regisseur und Drehbuchautor Thomas Lilti, dass es um die Freude am Lernen so schlecht nicht bestellt sein muss: Da raufen sich Lehrer und Schüler immer wieder zusammen, erleben gemeinsam wundersame Bildungsfortschritte – und ganz nebenbei darf der Junglehrer auch zart mit seiner Kollegin Meriem (Adèle Exarchopoulos), einer alleinerziehenden Mutter, anbandeln. Ein Senior-Prof (François Cluzet) und eine zart besaitete Kollegin (Louise Bourgoin) komplettieren ein überaus sympathisches und spielfreudiges Ensemble, das – zumindest in der französischen Originalversion – zu dialogischer Hochform aufläuft. Da kommt der erwartbare Problemfall in Gestalt eines ruppigen, widerspenstigen Schülers gerade recht, der auch illustriert: Die Lehrerschaft, die nach der totalen Kontrolle strebt, hat auch ihre Hausaufgaben zu machen, macht sie aber nicht immer. Und so ist „Ein richtig guter Job“ vor allem einer, in dem alle an einem Strang ziehen. Ein richtig schöner Film! (Matthias Greuling) In der Schilderung der beiden zwischen Berlin, wo die muffige Wohnsituation die Krankheit fortschreiten lässt, und Kafkas Tod in Kierling zitiert der Film auch die Parabel „Gibs auf!“, wo Kafka einen Schutzmann auf die Frage nach dem Weg antworten lässt: „‚Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, „ Die Zerbrechlichkeit Tambreas und die erfrischende Jugendlichkeit von Confurius ergänzen einander ideal. Was für ein Bild wird hier dem Publikum nahegebracht! “ Einander gefunden Die junge Jüdin Dora Diamant (Henriette Confurius) bringt Kafka (Sabin Tambrea) Religion und Unbeschwertheit nahe, er ihr Neugier und Lebenslust – trotz seiner Krankheit. so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“ Auch diese Paraphrase über die Vergänglichkeit findet in „Die Herrlichkeit des Lebens“ eine erstaunliche Entsprechung. Der stille Film lebt vor allem durch das Schauspiel von Sabin Tambrea sowie von Henriette Confurius als Dora. Die Zerbrechlichkeit Tambreas und die erfrischende Jugendlichkeit von Confurius ergänzen einander ideal. Was für ein Bild von Franz und Dora wird hier dem Publikum nahegebracht! Eine subtile und mehr als reife Leistung. Die Herrlichkeit des Lebens D/A 2024. Regie: Georg Maas, Judith Kaufmann. Mit Sabin Tambrea, Henriette Confurius, Manuel Rubey. Filmladen. 98 Min. Vincent Lacoste (links) und François Cluzet müssen sich mit ihren Schülerinnen und Schülern ordentlich plagen. Ein richtig guter Job (Un métier sérieux) F 2023. Regie: Thomas Lilti. Mit Vincent Lacoste, Adèle Exarchopoulos, François Cluzet. Panda. 101 Min. Exorzismus als Quotenhit Auf der US-Streaming-Plattform Shudder hat der Horrorfilm „Late Night with the Devil“ alle Zuschauerrekorde gebrochen. Nun gibt es die Gelegenheit, den Streifen im Kino zu erleben. Talk-Show- Host Jack Delroy (David Dastmalchain) lädt darin zu Halloween 1977 ein angeblich besessenes Mädchen samt Psychologin in seine Sendung ein, um die Quoten nach oben zu treiben. Im Studio bricht schnell Chaos aus, als der böse Geist das Mädchen nicht mehr loslassen will. Alles nur Show? Die Brüder Cameron und Colin Cairnes haben sichtlich Freude daran, ihr okkultes Horrordrama mit viel Liebe zum Detail auszustatten, sodass man zeitweise wirklich das Gefühl hat, eine Fernsehshow aus den 70ern zu sehen. Dastmalchain legt seine ambivalente Figur gekonnt zwischen traumatisiertem Witwer und kalkulierendem TV-Promi auf der Suche nach der nächsten Sensation an. Da ist es verschmerzbar, dass ein Film, der überzeugend als Mockumentary beginnt, am Ende mit seinen eigenen Regeln bricht. (Philipp Waldner) Late Night with the Devil USA 2023. Regie: Cameron & Colin Cairnes. Mit David Dastmalchain, Laura Gordon. Polyfilm. 93 Min. Gut eingespielte böse Buben Jede Filmreihe hat ihre berechtigten Fortsetzungen – auch, wenn dazwischen viele Jahre liegen mögen, so wie im Fall von „Bad Boys“. Von Teil eins zu Teil vier, der nun in Österreichs Kinos anläuft, liegen stattliche 29 Jahre. An den Hauptdarstellern, Will Smith und Martin Lawrence, sind diese Dekaden zwar nicht spurlos vorübergegangen, aber neidisch werden kann man schon ob ihrer optischen Jugendlichkeit. Die beiden Cops Mike Lowrey (Smith) und Marcus Burnett (Lawrence) dachten eigentlich schon an ihren Ruhestand, doch das Leben als Cop hält andere Pläne für sie bereit. Ein neuer Fall wartet! Der Rest ist strikt nach Rezept umgesetzt: Die bösen Buben kombinieren wieder sündteure Action-Effekte mit schamlosem Witz, doch es erfolgt eine Umkehr der Ordnung: Sonst jagen die „Bad Boys“ ihre Gegner, nun sind sie erstmals selbst auf der Flucht. Das generiert wiederum neue, bisher nicht gesehene fulminante und spaßige Situationen, die einer Reihe guttun. (Matthias Greuling) Bad Boys: Ride or Die USA 2024. Regie: Adil El Arbi, Bilall Fallah. Mit Will Smith, Martin Lawrence, Vanessa Hudgens, Alexander Ludwig.Sony. 119 Min.
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