DIE FURCHE · 23 2 Das Thema der Woche Ausgespielte Demokratie 6. Juni 2024 AUS DER REDAKTION Es gab schon langweiligere Zeiten im Journalismus. Umso mehr freut es mich, mit Till Schönwälder (re.) einen neuen Kollegen begrüßen zu dürfen, der als Historiker und in Religionsfragen beschlagener bisheriger Kathpress-Redakteur das neue Ressort „Religion und Sinnfragen“ verantwortet. Zum Auftakt hat er mit Martha Keil, Leiterin der „Ehemaligen Synagoge“ in St. Pölten, über Judenhass gesprochen – und zudem die jüngsten Ausrutscher von Papst Franziskus analysiert. Vorgänger Otto Friedrich widmet sich indes in seiner FURCHE-Kolumne „Zeit-Weise“ den medialen Selbstbeschädigungen durch die Causa Schilling – und geht hier mit dem Standard hart ins Gericht. Wie Illiberale die liberale Demokratie angreifen, analysiert Philipp Axmann im Fokus, zu dem er auch den Eingangsessay beisteuert. Und Franz Fischler erinnert sich an Österreichs EU-Beitrittsvotum vor 30 Jahren. Zwei weitere Highlights erwarten Sie im Feuilleton: Brigitte Schwens-Harrants Essay über die Kriterien der Literaturkritik; und Martin Tauss’ Interview mit Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger. Verabschieden müssen wir uns von unseren tollen Trainees, Astrid Wenz und Paul Maier, die nun weiterziehen. Es bleibt spannend im Journalismus! (dh) Foto: Privat Von Philipp Axmann Das Ende der Geschichte war in den 1990ern eigentlich eine ausgemachte Sache: Die „freie Welt“ triumphierte über Autokratien sowjetischer Spielart. Ein weltweiter Siegeszug der liberalen Demokratie wurde prognostiziert. Doch die Geschichtsbücher mussten rasch um weitere Kapitel ergänzt werden. Heute, drei Jahrzehnte nach dem Untergang der UdSSR, wird das westliche Lebens- und Politikmodell erneut attackiert. Doch diesmal kommen die Angriffe nicht nur von außen, sondern auch aus den vermeintlich eigenen Reihen: Demokratisch gewählte Volksvertreter bauen in dutzenden Ländern der Welt (von Ungarn bis Argentinien) Errungenschaften der Aufklärung ab: von der Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Beschränkung der Regierungsmacht bis hin zu den bürgerlichen Freiheiten. Grundlegende Säulen liberaler Verfassungsmodelle bröckeln. Das ist keine Alterserscheinung der Demokratie, sondern ein Schadensfall mit Fremdeinwirkung – und Selbstverschulden demokratischer Fürsprecher. „Echtes Volk“ und Volkskanzler Doch was charakterisiert die illiberale Ideologie, die neuerdings Aufschwung erfährt? Zum einen konservative und religiös geprägte gesellschaftliche Vorstellungen. Zum anderen widerspricht sie der liberalen Vorstellung von Demokratie als Wettstreit um die besten politischen Ideen, dessen Werkzeuge freie Medien und freie Meinungsäußerung sind. Liberale glauben im Kern daran, dass ein gemeinsames öffentliches Ringen um politische Fragen zu den besten Antworten auf diese Fragen führt. Sie geben daher konkurrierenden und einander widersprechenden Meinungen Platz. Illiberale beschreiben das Volk – den Demos als Basis der Demokratie – nicht als pluralistische Gesellschaft, sondern als homogenes Ganzes – als das eine, wahre und echte Volk, das sich im Kampf gegen eine „korrupte Elite“ befindet, von der es unterdrückt wird. Das schlägt sich im Staatsmodell nieder: Nachdem die angeblichen „Eliten“ als illegitim angesehen werden, darf nur der Wille des „echten Volks“ für die Politik relevant sein. Damit gibt es keine Rechtfertigung für Pressefreiheit, NGOs oder Verfassungsgerichte, denn sie schützen laut Illiberalen nur die Elite. Das „echte Volk“ kann in der illiberalen Ideologie nur vom „echten (An-)Führer“ repräsentiert werden, der allein den (angeblichen) Volkswillen kennt. In diese Ideologie fügt sich das Gerede von einem „Volkskanzler“. Illustration: Rainer Messerklinger Lesen Sie zum Thema auch „Neues Ringen um Demokratie“ von Anton Grabner-Haider vom 2. November 2022 auf furche.at. Foto: APA / AFP / Alex Halada Warum erstarken nach Jahrzehnten der Liberalisierung und Demokratisierung nun wieder illiberale Kräfte? Um das zu verstehen, müssen wir die Argumentation von Orbán, Trump und Co. ernsthaft untersuchen, ohne sie vorschnell zu verurteilen. Denn nur mit Mut zur Selbstkritik können Liberale ihr eigenes System verbessern. Mit erhobenem Zeigefinger und Moralismus lässt sich der Illiberalismus nicht eindämmen, sondern nur mit besserer Politik. Wie also argumentieren die Illiberalen – und womit könnten sie Recht haben? Der vielleicht wirkmächtigste Vorwurf an den Liberalismus ist, dass er seine ökonomischen Versprechen nicht einhalten konnte. Rasant wachsende soziale Ungleichheit sorgt für existenzielle Ängste und soziale Spannungen. Dass die „Verlierer“ in diesem System nicht weiter freudig nach Liberalisierung rufen, darf niemanden überraschen. Der Philosoph Michael Weinman und der Politikwissenschafter Boris Vormann spitzen im Buch „The Emergence of Illiberalism“ präzise zu: „Der ökonomische Liberalismus ist gescheitert, aber der politische Liberalismus wird dafür verantwortlich gemacht.“ Das persönliche Gespräch Darüber hinaus stellen Illiberale den Liberalismus als „undemokratisch“ dar. So behauptete etwa Viktor Orbán, sein Ungarn würde für die „illiberale Demokratie“ stehen und die EU für den „undemokratischen Liberalismus“. Orbán spielt darauf an, dass politische Entscheidungen in Systemen wie der EU vermehrt nicht von den Volksvertretern im Parlament gefällt werden, sondern „ Liberale Verfassungen sind grundsätzlich angreifbar. Das wusste Adolf Hitler, der stolz verkündete, die Nazis hätten ,in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt‘. “ Foto: APA / AFP / Simon Wohlfahrt Die Alternative Liberalismus, Marktwirtschaft und Globalisierung verkauften sich als „Politik ohne Alternative“. Eine ganz andere – illiberale – Politik liefern Viktor Orbán und Herbert Kickl. Empörung allein wird sie nicht stoppen. Weltweit wird der westliche Politikstil attackiert. Wieso der Illiberalismus zurückkehrt, welche Ideologie hinter ihm steckt – und wie sich Demokratien vor ihm schützen können. Schadensfall mit Fremdeinwirkung von Institutionen wie der Zentralbank, die zwar demokratisch legitim geschaffen wurden, die aber zweifellos als weniger unmittel- bar-demokratisch bezeichnet werden können als etwa das Parlament. Außerdem sind liberale Verfassungen durch ein „technisches“ Dilemma grundsätzlich angreifbar: Die Demokratie lässt sich mittels Demokratie abschaffen. Solange Verfassungsänderungen in einem politischen System möglich sind, können Mehrheiten zustande kommen, die die Verfassung in eine undemokratische Richtung verändern. Adolf Hitler hat diese Schwachstelle ausgenutzt und so zusammengefasst: Die Nationalsozialisten hätten „in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt“. Ein erster Ansatz für die Verteidigung der liberalen Demokratie setzt genau hier an und schlägt einige „technische“ Verbesserungen der Verfassung vor. Dem illiberalen Zugang, alle Macht auf eine Person oder Instanz zu zentrieren, kann ein Staat entgegenwirken, indem seine Macht auf möglichst viele, voneinander unabhängige Stellen aufgeteilt wird. Etwa durch die Schaffung (oder kompetenzmäßige Stärkung bereits existierender) zweiter Kammern in Parlamenten. In der Exekutive kann man zur Demokratisierung über Direktwahlen für wichtige Ämter nachdenken, so etwa über das eines obersten Staatsanwalts. Neben dieser horizontalen Verteilung der Staatsgewalt, muss auch ihre vertikale Achse voll ausgenutzt werden: Durch Subsidiarität. Je näher „am Volk“ Entscheidungen getroffen werden, desto wahrscheinlicher werden sie von diesem auch getragen. Eine Bürgermeisterin kann ihre Entscheidungen den Bürgern in persönlichen Gesprächen erklären – mit einem Vorwurf der Technokratie wird sie nicht konfrontiert sein. Abschließend sind auch neue Formen der Partizipation wie Bürgerparlamente ernsthafte Überlegungen wert. Auch im Umgang mit nicht-staatlichen Organisationen können Staaten ihre demokratische Grundfeste stärken: Beispielsweise, indem sie Pressefreiheit nicht nur passiv erlauben, sondern aktiv Medienvielfalt fördern. Insgesamt muss Demokratie als durchgehender beratender Prozess der ganzen Gesellschaft verstanden werden – nicht als einmaliger Abstimmungsakt darüber, wer für fünf Jahre lang uneingeschränkt herrschen darf. Autoritär oder bloß konservativ? (Links-)Liberale machen allzu oft den strategischen Fehler, bei Orbán und Co. deren traditionelle Gesellschaftspolitik und deren demokratieschädigende Maßnahmen in einen Topf zu werfen. Dabei sind es nur letztere, die aus verfassungsliberaler Sicht nicht legitim sind. Beides kann man kritisieren – doch nicht beides gefährdet die liberale Demokratie. Wer jeden Konservativen zum Antidemokraten erklärt, verliert Bürgerliche an Rechtspopulisten. Weiters muss die politische Binsenweisheit „keine Toleranz den Intoleranten“ tatsächlich in ein Programm umgemünzt werden: Der Liberalismus muss sich selbst wieder besser verkaufen, seine Vorzüge bewerben, seine Begründung aus den Menschenrechten heraus in den Vordergrund stellen. Das gelingt nur mit politischer Bildung. Der politische Liberalismus ist nicht zufällig auf dem Nährboden der Aufklärung gewachsen. Wenn wir ihn wieder blühen sehen wollen, brauchen wir einen fruchtbaren Boden – und müssen also aufklärerisches Denken fördern. Ökonomische Ungleichheit und mangelnde Aufstiegschancen bedrohen den Liberalismus existenziell – er muss sich weiterentwickeln, um wieder genau das zu leisten, was ihn seit jeher stark macht: möglichst viel Wohlstand
DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Das Thema der Woche Ausgespielte Demokratie 3 für möglichst viele Menschen zu schaffen. Der Liberalismus muss sich (wie in seinem Ursprung) als breites, menschenrechtliches Projekt verstehen, nicht bloß als Begründung der Marktwirtschaft. Liberale Parteien müssen die Sorgen, Ängste und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen. Niemand muss sich vom Kampf für Minderheitenrechte verabschieden – doch wenn der Eindruck entsteht, alle Parteien links der Rechtsradikalen und rechts der Linksradikalen kümmern sich mehr um Gendern und Wokeness als um Gehalt und Wohnkosten, verwundern aktuelle Wahlergebnisse nicht mehr. Zurück ins Parlament Mit all dem ist aber noch nicht Viktor Orbáns Vorwurf entkräftet, der Westen würde einen „undemokratischen Liberalismus“ an die Stelle der Demokratie setzen. Der niederländische Politikwissenschafter Cas Mudde gibt ohne Überheblichkeit zu, dass ein Quäntchen Wahrheit in Orbáns Kritik steckt: Demokratisch gewählte Volksvertreter haben national und international ökonomische und finanzielle Macht an unabhängige, großteils technokratische Institutionen wie Zentralbanken abgetreten. Zudem wurden einige wichtige gesellschaftspolitische Entscheidungen in den letzten Jahren nicht von Parlamenten, sondern von Gerichten getroffen. Wobei das Delegieren der Macht an neue Institutionen natürlich durch Parlamente demokratisch legitimiert war. Dennoch, so Mudde, entspräche es nicht höchsten demokratischen Idealen, politische Entscheidungen an externe Agenturen und Institutionen abzutreten und somit aus dem politischen Diskurs herauszunehmen. Sein Schluss: Wir müssten alle relevanten Themen wieder „repolitisieren“, also in den politischen Diskurs zurückholen und entsprechende Entscheidungen im Parlament treffen. Zugegeben: Die Mehrheit der Bevölkerung würde bei Zinspolitik und Co. wohl oft fachlich „schlechtere“ Maßnahmen beschließen, als es aktuell etwa die EZB tut. Trotzdem gilt nach Ansicht Muddes: Lieber schlechtere, aber demokratische Entscheidungen in Kauf nehmen, als „bessere“ Entscheidungen um den Preis der Legitimation zu erkaufen. Denn ein langfristiger Imageschaden der Demokratie kann im schlimmsten Fall zu deren Abschwächung im Orbán'schen Stil oder zu deren völliger Abschaffung führen – und damit zu erheblich schlechteren Entscheidungen. Zum Glück lassen sich die Illiberalen auch mit ihren eigenen Waffen schlagen: Wie die Demokratie mittels Demokratie abgeschafft werden kann, so lässt sie sich auch mittels Demokratie stärken. Wie kann die Demokratie noch demokratischer werden? Eine philosophische Spurensuche bei Montesquieu und John Locke. Sich störend einmischen Von Christine Abbt Demokratien sind Ordnungen, in denen es elementar um die Beschränkung von Macht geht. Macht liegt darin nicht mehr in den Händen eines Einzelnen. Sie gehört weder nur einer sogenannten Elite noch allein dem sogenannten gemeinen Volk. Macht ist in Demokratien möglichst geteilt. Alle von ihr Betroffenen sind daran zu beteiligen, etwa durch die Möglichkeit, sich in ein Amt wählen zu lassen, durch die Teilnahme an Wahlen, durch Abstimmungen oder durch das Recht auf Versammlungsfreiheit. Die demokratische Beteiligung an der Macht über den einen Moment der Wahl hinaus benötigt allerdings einen starken Schutz. Schon früh in der Geschichte moderner Demokratien wurde klar, dass dazu wirksame Instrumente der Machtlimitierung einzuführen sind, allen voran die Teilung der staatlichen Gewalten. Absolute oder weit ausgreifende Macht zugunsten einer ausgewogenen Machtverteilung zwischen unterschiedlichen Einflussbereichen zu beschränken, ist bis heute ein demokratischer Imperativ. Institutionelle Gewaltenteilung John Locke und Montesquieu sind die philosophischen Begründer institutioneller Gewaltenteilung. Diese stand und steht für die Einsicht, dass machtvolle Zuständigkeiten auf verschiedene Instanzen aufgeteilt werden müssen, damit sie sich gegenseitig kontrollieren und in Schranken halten können. Andernfalls droht Machtmissbrauch. Rechtsetzung, Rechtvollzug und Rechtsprechung dürfen nicht in denselben Händen liegen. Legislative, Exekutive und Judikative sind in Demokratien zu separieren und je als unabhängige Instanzen zu schützen, weil ein enges Zusammenspiel dieser Instanzen beziehungsweise der Personen darin zu gefährlichen Machtmonopolen führen würde. In Demokratien sind ununterbrochene Anstengungen gegen den Rückfall zur Willkür eines Einzelnen, einer einzigen Partei oder eines Clans nötig. Die bis heute schlagende Idee lautet: Dort, wo sich Macht sammelt und häuft, braucht es eine Gegenmacht, die ebenfalls Möglichkeiten hat, sich störend einzumischen Trenner der Macht Der Franzose Montesquieu (1689-1755) und der britische „Vater des Liberalismus“, John Locke (1632-1704), gelten als zwei der bedeutendsten politischen Philosophen der Aufklärung. Bild: Wikipedia und auf erstere angemessen wirkungsvoll zu reagieren. Damit diese Machtkontrollen in Gang bleiben, muss auch eine zweite Macht wiederum von einer dritten Instanz überprüft und limitiert werden. Erst das konkurrierende Zusammenspiel von Institutionen, die sich als unterschiedliche, getrennte und unabhängige Pfeiler demokratischen Zusammenlebens begreifen, kann eine Machtbalance annähern, welche für eine fortgesetzte Partizipation möglichst aller an der Macht nötig ist. Die jüngere europäische Geschichte weist bekanntlich Beispiele auf, in denen die institutionelle Gewaltenteilung von anti-demokratischen Parteien nach deren demokratischer Wahl außer Kraft gesetzt wurde. Die Demokratie wurde hier als Steigbügelhalterin von Parteien missbraucht, welche mit demokratischen Mitteln Demokratien zerstören wollten und – jedenfalls vorübergehend – brutal zerstörten. Heute ist die Gewaltenteilung autoritären Machthabenden, ihren Funktionären und Parteien, erneut ein Dorn im Fleisch. Sie heben die Gewaltenteilung institutionell zwar nicht auf, aber sie schwächen sie bis zur Unkenntlichkeit. Legislative, Exekutive und Judikative bestehen dann beispielsweise zwar weiter, aber ihr Vermögen, sich gegenseitig zu kontrollieren, öffentlich zu kritisieren und tatsächlich zu begrenzen, wird torpediert. Dazu werden heute innerhalb und außerhalb Europas unterschiedliche Strategien angewendet. Die Schwächung kann auf Verfassungs- oder Gesetzesebene vorgenommen werden oder auf der personellen oder – wie häufig – auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Wenn etwa in allen drei Funktionsbereichen der Macht Personen derselben Partei sitzen, dann kommt die Pointe der Gewaltenteilung nicht mehr zur Anwendung. Statt Machtbalance ist eine Machtballung die Folge. Der französische Philosoph Montesquieu unterstrich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts, dass allein die Einrichtung dreier Institutionen Bild: Wikipedia „ Machtbalance bedeutet nicht, dass Demokratien Konsens dem Konflikt vorziehen. Im Gegenteil, Machtbalance ermöglicht erst tatsächliche Auseinandersetzung. “ Illustration: Rainer Messerklinger nicht genüge. Weitere Kriterien müssten hinzukommen, um deren Unabhängigkeit zu gewährleisten. Die Institutionen sollten etwa möglichst auseinanderliegen, bestenfalls in verschiedenen Ortschaften. Von Freundschaften zwischen Amtsträgern solle abgesehen werden. Sie erhöhen unweigerlich das Risiko für Seilschaften. Selbst ein intensiver persönlicher Austausch zwischen den unterschiedlichen Funktionsträgern sei zu vermeiden. Was würde der Aufklärer Montesquieu wohl über heutige Kompetenzzentren zur Bekämpfung von Kriminalität denken, die Polizei, Staatsanwaltschaft, Forensik und Justizvollzug unter ein Dach bringen? Offensichtlich erschweren solche Einrichtungen die Trennung der Gewalten und sollten aus demokratischer Sicht vermieden werden. Montesquieu lieferte eine Reihe weiterer Instrumente, um dem Machtzuwachs entgegenzuwirken, etwa Amtszeitbeschränkungen. Unabhängig von Eignung, Einfluss oder Beliebtheit einer Person treten diese in Kraft. Die demokratisierende Wirkung solcher Regeln liegt allerdings in ihrer fortlaufenden nüchternen Anwendung. Einmal für eine „Rad-Lösung“ zu votieren, wonach alle zwei Jahre die Leitung etwa eines universitären Instituts wechseln soll und dann – erst einmal selbst im Amt – sich nicht mehr an die Regel zu erinnern, verkehrt das demokratisierende Moment in ein demokratieschwächendes. Zivile Kontrolle Der demokratische Imperativ hört allerdings nicht damit auf, Macht zu beschränken und eine Machtbalance anzustreben. Gefordert ist darüber hinaus ein zivilgesellschaftlicher Wille zur Machtbegrenzung, der über die Institutionen weit hinausweist. Eine fortlaufende Analyse der Verhältnisse ist nötig, um zu bestimmen, wo sich je Macht ansammelt und wie diese begrenzt und verteilt werden kann. Zu Recht wird seit längerem von den Medien als der vierten Säule gesprochen und dabei ist heute unbedingt auch der Einfluss von digitalen Plattformen einzubeziehen. Wie wird der Zugang zu gesicherten, sprich nicht manipulativen Informationen heute realisiert? Wer besitzt die Informationskanäle und nutzt sie für welche (Eigen-)Interessen? Neben Medien und Plattformen ist heute offensichtlich auch die Wirtschaft als Machtzentrum zu begreifen und zurückzubinden, wo ihr Einfluss zu groß wird. Welche Banken verfügen über wieviel Macht und stellen welches Risiko für die Gesellschaft dar? Wie lässt sich die Einflussnahme der Finanzinstitute pluralisieren und begrenzen? Die Zivilgesellschaft ist hier gefordert, machtsensibel zu bleiben und ihre Möglichkeiten als Kontrollinstanz wahrzunehmen. Ebenso sind die Wissenschaften, insbesondere die kritischen Geistes- und Kulturwissenschaften, unverzichtbar, für diese für Demokratien notwendige fortgesetzte Machtanalyse. Die Wissenschaften haben den öffentlichen Auftrag, unnachgiebig und unbestechlich zu fragen: Wo häuft sich Macht? Wo droht daher welche Form von Machtmissbrauch, welcher nicht mehr kontrollierbar ist? Mit welchen Mitteln kann dieser Machtanhäufung entgegnet und eine Machtbalance angenähert werden? Machtbalance bedeutet nicht, dass Demokratien Konsens dem Konflikt vorziehen. Im Gegenteil, Machtbalance ermöglicht erst tatsächliche Auseinandersetzung. Erst wenn es ähnlich starke Funktionsträger, Parteien und Bewegungen gibt, kann der Dissens demokratisch ausgetragen werden. Auch noch die mächtigste Person ist in der Demokratie auf begrenzte Zeit gewählt, sie kann kritisiert und abgesetzt werden und ihr Urteil ist durch Verfahren der Kontrolle limitiert. Jede ausufernde Machtfülle ist unter demokratischer Sicht abzulehnen – weder eine Präsidentin noch ein Kanzler, weder eine Partei noch eine Bewegung, weder Eliten noch Anti-Eliten regieren allein. Die gegenseitige Beschränkung von jeder Macht und Gewalt markiert die demokratische Pointe, welche Mitbestimmung und Beteiligung aller möglichst sichert, noch über den einen aktuellen Moment der Wahl hinaus. Die Autorin ist Professorin für Philosophie an der Universität St. Gallen.
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