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DIE FURCHE 06.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 23 18 Literatur 6. Juni 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 17 FEDERSPIEL Kein Herz und keine Krone Texten können sich auch auf kognitive Bereiche beziehen: Texte vermitteln eventuell neue Informationen, neues Wissen (zum Beispiel über bisher unbekannte Kulturen), sie können vielleicht sogar lebenspraktische Auswirkungen haben: Ein Buch, das von Trauer erzählt, kann etwa Trauernden helfen, mit der eigenen Trauer zurechtzukommen. In diesem enormen Geflecht aus möglichen Wertungsmaßstäben und unterschiedlichen Texten aus bestenfalls unterschiedlichen Kulturen sitzen also Kritikerinnen und Kritiker und suchen ihren Weg durchs Dickicht. Mit Karten aller Art, mit Lupe und Fernglas, manche freilich auch mit der Sense. Da nicht nur der Text in einer Welt steht, sondern auch die ihn Lesenden, ist es überhaupt kein Wunder, dass sich gesellschaftliche Debatten in der Literaturkritik spiegeln. Ein Blick in die Geschich- „ Da nicht nur der Text in einer Welt steht, sondern auch die ihn Lesenden, ist es kein Wunder, dass sich gesellschaftliche Debatten in der Literaturkritik spiegeln. “ te der Literaturkritik belegt das. wertungen – ist nicht nur wichtiger Bestandteil der Kultur, er Wie sollte es auch anders sein? Jede Zeit hat ihre Diskurse und macht Kultur. diese Diskurse prägen auch die Jene, die eingeladen werden, jeweiligen literaturkritischen über Literatur zu sprechen oder Debatten. Jede Zeit hat ihre Ideale und Ideologien und diese kann zuzeichnen, haben Macht verlie- sie in Jurys zu bewerten und aus- man dann auch in den Diskussionen über Literatur aufspüren. der Kritiker und Kritikerinnen hen bekommen. Selbstreflexion Identitätspolitisch begründete ist daher das Um und Auf, will Entscheidungen machen da keine Ausnahme. gehen und sich nicht zurecht ab- man halbwegs professionell vor- Umso wichtiger ist das Gespräch darüber, das Hinterfragen lassen. Bei öffentlichen Diskussisolute Beliebigkeit vorwerfen der eingesetzten Kriterien. Der onen kann man die Mühe des Abwägens gut beobachten, auch, ob Streit um Bewertungen – und der Streit um die Kriterien für die Be- diese vielen möglichen Maßstäbe überhaupt reflektiert werden oder ob, wie der Kritik ja oft vorgeworfen wird, bloß wild subjektiv herumgerodet wird, mit oder ohne ideologische Scheuklappen. Zu einer solchen Reflexion gehört selbstverständlich immer auch das Beobachten des eigenen Beobachtens, das heißt des eigenen Standpunktes, der Öffentlich werden lassen der eigenen Beschränktheit. “ eigenen „ Zu einer solchen Reflexion gehört selbstverständlich immer auch das Beobachten des eigenen Beobachtens, das heißt des eigenen Standpunktes, Von Daniela Strigl Was die Bundesgärten mit dem Naturdenkmal der einstmals prachtvollen Sisi-Platane im Wiener Volksgarten angestellt haben, ist symptomatisch für den Umgang mit der historischen Parkkultur am Ring: 250 Jahre alt ist dieser Baum, er war 26 Meter hoch, die Krone voll belaubt – jetzt hat man ihn „aus Sicherheitsgründen“ verstümmelt bis auf den Stamm, ein trauriges Menetekel des urbanen Naturverständnisses, Klimakrise hin oder her. Wie zum Trotz treibt der zum Tod verurteilte Riese kleine Laubbüschel. Aber auch das Gefühl für die Ästhetik der vor 200 Jahren vom Kaiser für das Volk geöffneten Anlage ist den Verwaltern abhanden gekommen, allein die immer noch prächtigen Rosenstöcke widerstehen dem Bild fortschreitender Vernachlässigung. Metallene Absperrgitter verwehren den Zutritt zum Grillparzer-Denkmal, bei Sisi am anderen Ende überwuchern die Hecken die Steinbänke, und monströse, offensichtlich als Provisorien auf Betonquadern montierte Mastleuchten mit freihängenden Kabeln verschandeln seit Jahren das imperiale Ambiente. Wer sich freilich in den Rathauspark vis-à-vis flüchten möchte, wird diesen kaum in unversehrter, dem Erholungszweck gewidmeter Form vorfinden. Christkindlmarkt, Eistraum, Steiermark-Frühling, Bike Festival, Wienliebe, Festwochen, Vienna Pride, Filmfestival, Public Viewing und so weiter: Die nach der Pandemie hemmungsloser denn je betriebene Eventnutzbarmachung frisst sich wie ein Krebsgeschwür vom Rathausplatz immer tiefer in den eigentlichen Park hinein, jahraus, jahrein Maschinen, Motoren, Kräne, WCs, Gitter, Aufbau, Abbau, Umbau. Inzwischen sind die zentralen Springbrunnen-Plätze und weite Parkteile auch in der schönen Jahreszeit für die Wienerinnen und Wiener nicht mehr zugänglich. Wann der Bürgermeister net will, nutzt es gar nix. Der Kaiser kann ihnen nicht mehr helfen. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. kulturellen Beschränktheit. Mit anderen zu diskutieren, ist gerade für „professionelle“ Literaturkritiker aufschlussreich. Niemand weiß und sieht alles aus sich selbst heraus. Das klingt nach einer Banalität, wird freilich oft nicht verstanden und gelebt. Die ideale Jury gibt es ebenso wenig, wie es die ideale Gesellschaft gibt. Aber – lassen Sie mich einmal kurz träumen – vielleicht könnten ab und zu Diskussionen über Kunst exemplarisch vorführen, wie das geht, was man auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen so dringend bräuchte: einander zuhören, Beobachtungen und Kriterien austauschen, neu und anders hinsehen. Diversität bekommt dann auch gleich einen anderen Klang, tönt nicht als Kampfrhetorik, sondern schlicht als Selbstverständlichkeit. Zurück zum Anlassfall dieser prinzipiellen Überlegungen über Wertungen im Literaturbetrieb. Wenn Jurysitzungen unter der Prämisse stattfinden, dass über die Diskussionen nichts nach außen dringen soll, dann wird mit dieser Übereinkunft zugleich auch Vertrauen gebrochen, was entsprechende Folgen nach sich zieht: kein Vertrauen mehr. Über den konkreten Fall, den konkreten Ablauf der Jurysitzung für den Preis des Hauses der Kulturen der Welt, hört man von den beteiligten Jurymitgliedern Unterschiedliches, die Aussagen widersprechen einander, man kann und will es daher als Außenstehende nicht beurteilen. Die literarische Qualität jenes Werkes, „ Bei öffentlichen Diskussionen kann man die Mühe des Abwägens gut beobachten, auch, ob diese vielen möglichen Maßstäbe überhaupt reflektiert werden. “ das schließlich mit dem Literaturpreis ausgezeichnet wurde, der Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ des senegalesischen Schriftstellers Mohamed Mbougar Sarr, war jedenfalls von allen Seiten anerkannt. Das Haus der Kulturen der Welt könnte aus der Not, die nun durch diese Debatten entstanden ist, allerdings eine Tugend machen und die nächste Jurysitzung öffentlich stattfinden lassen. Dann könnten sich alle ein Bild davon machen, aufgrund jeweils welcher Kriterien es zu welchen Urteilen und Reihungen kommt und welche Kriterien von wem und warum einmal vielleicht höher, das andere Mal weniger wichtig eingeschätzt werden. Wer mit welchen Argumenten überzeugt. Wer die Literatur und nicht so sehr die eigenen Theorien oder Moden im Blick hat; wer den Text sieht: als Text in der Welt. Literaturkritik Eine Suche Von Brigitte Schwens-Harrant StudienVerlag 2008 200 S., kart., € 23,90 Mit öffentlicher Literaturkritik wird jedes Jahr der Ingeborg-Bachmann-Preis ermittelt. Die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur 2024 finden vom 26. bis 30. Juni im ORF-Theater des Landesstudios Kärnten statt. Drei Tage lang diskutiert die Jury (Mara Delius, Laura de Weck, Klaus Kastberger, Mithu Sanyal, Brigitte Schwens-Harrant, Thomas Strässle, Philipp Tingler) dort live vor laufenden Kameras, von 3sat und Livestreams übertragen. Der Wortschatz Von Rebecca Gugger Illustrationen von Simon Röthlisberger NordSüd 2024 48 S., geb., € 17,50 Ab 4 Jahren LEKTORIX DES MONATS Welt-Entdeckung durch Welt-Benennung Von Kathrin Wexberg Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner „Die Welt“, so hat es der Philosoph Ludwig Wittgenstein einst treffend formuliert. Umgekehrt beziehungsweise positiv formuliert kann das aber auch bedeuten: Je mehr ich die Welt sprachlich benennen kann, desto mehr erschließt sie sich mir. Das gilt für die kindliche Weltentdeckung gleichermaßen wie für das Erlernen einer neuen Sprache. Das Schweizer Künstler- Duo Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger erzählt von diesem vielschichtigen Prozess in einem Bilderbuch, das sowohl durch seine kluge Machart als auch seine ansprechende ästhetische Umsetzung überzeugt und sich damit für eine rein lustvolle Betrachtung ebenso anbietet wie für eine didaktische Bearbeitung in unterschiedlichsten Kontexten mit Menschen unterschiedlichster Altersstufen. „Morgenblöd“, „jammerschade“ und „glücksfröhlich“ – bereits am Vorsatzpapier signalisiert eine Fülle an Begriffen, dass es hier sowohl um bereits existierende als auch um neu erschaffene Wörter geht. Oscar entdeckt beim „täglichen Löcherbuddeln“ eine Holztruhe und vermutet darin allerlei Schätze. Tatsächlich ist aber etwas ganz anderes drinnen verborgen: Wörter nämlich, ein beachtliches Durcheinander an allerhand Wörtern. Oscar probiert zunächst ganz haptisch aus, was mit einem der Wörter anzufangen ist – dieses Experimentieren wird im Bild sehr anschaulich inszeniert, da werden Buchstaben gequetscht, gedehnt und schließlich ratlos zusammengeknüllt. Dieses Bündel wirft er achtlos in ein Gebüsch, auf den Lippen ein enttäuschtes „Pff …“. Doch tatsächlich hat diese Handlung Folgen: Da das Wort „quietschgelb“ lautete, galoppiert plötzlich ein quietschgelber Igel an ihm vorbei, der Illustration: Simon Röthlisberger Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur offenbar im Gebüsch versteckt war. So entspinnt sich ein wunderbar zweckentleertes Spiel mit der Kraft des Benennens, in dem Kuriositäten wie ein haariger Baum, ein pompöses Vogelhäuschen oder ein monströser Käfer entstehen, jeweils in klug gewählter Perspektive und variantenreichen Farbschattierungen dargestellt. Doch irgendwann ist die Truhe leer und Oscar steht auf einer entleerten Doppelseite plötzlich wortlos da. Die Suche nach neuen Wörtern erweist sich als nicht so einfach – wie gut, dass Louise auf ihrer buntsatten Blumenwiese gerade frische gemacht hat. Sie inspiriert Oscar, sich selbst ans Wörter kreieren zu machen. „Die selbst gemachten Wörter packte Oscar behutsam in seine Wortschatztruhe. Von Zeit zu Zeit nahm er ein Wort heraus – genau dann, wenn es passte und Freude bereitete.“

DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Ausstellung & Literatur 19 Von Theresa Steininger Wenn die Anekdote stimmt, so stand am Anfang eine Provokation: Er könne das sicher nicht so gut malen wie die Comic-Zeichner, sagte Roy Lichtensteins Sohn angesichts eines Bilds von Mickey Mouse und Donald Duck. Der Vater trat an, das Gegenteil zu beweisen. Er übertrug Donald, der glaubt, einen riesigen Fisch am Haken zu haben, und Mickey auf eine monumentale Leinwand. Die Provokation war gleich nochmals da, waren in der Branche solche großen Formate doch bisher beispielsweise Historienbildern vorbehalten. Lichtenstein aber brachte die Bildsprache von Comics und später auch von Werbungen in die hohe Kunst ein und löste einen Culture Clash zwischen populärer Massenware und Hochkultur aus. Nicht nur das eingangs beschriebene „Look Mickey“ wurde zur Ikone, sondern auch viele weitere Werke mehr, Roy Lichtenstein selbst zu einem Gründervater der Pop-Art. Wenn die Albertina nun anlässlich des 100. Geburtstags im Vorjahr eine umfassende Ausstellung zu seinem Œuvre zeigt, sind einerseits solche frühen Arbeiten dabei – wobei man früh fast unter Anführungszeichen setzen möchte, war Lichtenstein doch zum Zeitpunkt seines Durchbruchs keineswegs mehr jung. Die Ausstellung präsentiert andererseits, wie er mit Vorbildern wie Pablo Picasso umging. Und es werden auch weniger bekannte Spätwerke ausgestellt, Skulpturen, Interieurs und Frauenakte. Ausgangspunkt war eine Schenkung der Roy Lichtenstein Foundation an die Albertina. Kritik und Ironie „Bigger than life“ – so stellt Lichtenstein seine Protagonisten oft dar. Und wenn er die Grenzen zwischen hehrer Kunst und Alltagskultur niederriss, so geschah das mit einer gehörigen Portion Ironie. Auch Werbeinserate und Trash-Liebes-Schnulzen waren seine Ausgangspunkte, just, weil er sie als übermächtig empfand und weil er eine ambivalente Haltung gegenüber den maschinell hergestellten Bildern aufzeigen wollte. Einerseits war Die Kunst solle sich nicht selbst so ernst nehmen, war seine Devise. Welche Kunst daraus entstanden ist, zeigt eine umfassende Ausstellung über den Pop-Art-Künstler Roy Lichtenstein in der Albertina. „Bigger than life“ es sein Ziel, so die oberflächliche Welt zu kritisieren, andererseits dem Pathos des subjektiven Ausdrucks in der Kunst eine Absage zu erteilen. Die Kunst solle sich nicht selbst so ernst nehmen, war seine Devise. Dazu kreierte er eine Arbeitstechnik, die die Werke aussehen ließ, als hätte eine Maschine sie in billigem, schnellem Massendruckverfahren gemacht. Durch ihn wurden die Ben-Day-Dots, die Rasterpunkte für die Tonwerte der Grafikvorlage im Druck, als Stilmittel bekannt. Anfangs arbeitete er dafür mit Hundebürsten, dann mit Lochschablonen, später beschäftigte er Assistenten für die Anfertigung der vielen Punkte, aus denen sich seine Werke oft zusammensetzen und die so ikonografisch für sein Œuvre werden sollten. „ Neben Vorbildern aus der Populärkultur arbeitete er sich an Größen wie Pablo Picasso, Salvador Dalí und Jackson Pollock ab. Auch ihnen begegnete er mit ironischem Blick. “ Foto: © Estate of Roy Lichtenstein/Bildrecht, Wien 2024 Kunst in Punkten Roy Lichtenstein, Kuss mit Wolke, 1964, Öl und Acryl auf Leinwand Gleichzeitig vergrößerte, isolierte und entemotionalisierte er Motive bei seiner Aneignung für die Kunst, machte Rollenklischees sichtbar und verwendete selbst beim Material bald eigentlich kunstfremdes wie Emaille-Schilder. Auch so machte Lichtenstein das bisher Nicht-Kunstwürdige zum Kunstwürdigen. Neben Vorbildern aus der Populärkultur arbeitete er sich andererseits, wie man in der Albertina sehen kann, an Größen wie Pablo Picasso, Salvador Dalí und Jackson Pollock ab. Auch ihnen begegnete er mit ironischem Blick, beispielsweise Picassos Mandoline und Gitarre. „Las Meninas“ von Diego Velázquez ist ebenfalls nicht vor seinen Bearbeitungen sicher. Bei den Landschaften wiederum, denen ein Abschnitt der Schau gewidmet ist, fallen menschenleere, wirklichkeitsfremde Gegenden ins Auge, die radikal beschnitten sind. Und während der Anfang der Ausstellung den bekannten Lichtenstein zeigt, sind die hinteren Räume auch von Skulpturen bevölkert, die er später schuf. Gerade diese nennt Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder ein „übersehenes Phänomen.“ Neue Facetten Mit „Roy Lichtenstein. Zum 100. Geburtstag“ möchte man in der Albertina dem Bild, das viele von diesem Künstler haben, neue Facetten hinzufügen. Die Werke Lichtensteins seien sehr populär, aber nicht immer verstanden, meint Schröder: „So geliebt er wird, so oft wird die mitschwingende Ironie übersehen und so wenig verstanden wird Lichtenstein in seiner ganzen Dimension.“ Kuratorin Gunhild Bauer ergänzt: „Lichtenstein auf seine Comic- und Werbebilder zu reduzieren, wäre zu wenig.“ Dennoch sind es beim Hinausgehen wieder jene bekannten Ikonen, die einem besonders im Gedächtnis bleiben. Vielleicht sieht man sie aber nun auch ein wenig aus einem anderen Blickwinkel. Roy Lichtenstein Albertina, bis 14. Juli 2024 Täglich 10–18 Uhr, Mi und Fr–21 Uhr www.albertina.at GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Weisheit des Schauens & poetisches Bestiarium hier. gut so./was ich nicht alles höre/nur durch mein schweigen“. So lautet „allein das erste Haiku aus dem neuen Gedichtband „eleftheria“ von Richard Wall, in dem 58 japanische Dreizeiler in drei Kapitel versammelt sind. Streng gebaut (5-7-5 Silben), nehmen sie sich inhaltlich größere Freiheiten, wie es auch die Haikus noch vor Matsuo Bashōs Einfluss taten. Naturbetrachtungen, Gedanken, kritische Reflexionen wie zum Beispiel „längst ausgefischt die/bucht. das boot zieht das netz durchs/wasser vergeblich“, sind zu lesen, aber auch humorvolle und sprachspielerische Momente, die alle die Insel Kreta als Hintergrund und Betrachtungspunkt haben. Die Gestaltung des Bandes ist interessant: Japanische Fadenbindung, bräunlicher Druck auf getöntem Papier, die Bleistiftskizzen vom Dichter und bildenden Künstler Wall selbst und das Format lassen in den Details die Grundkonzeption sinnlich erfahrbar machen. Es finden sich Verwebungen von japanischen und griechischen Atmosphären wieder, die weitergedacht, kulturell und geistig fruchtbar werden. Erklärende Anmerkungen zu einzelnen Begriffen und zu den Skizzen geben kurze Informationen und der fünfteilige Essay am Ende des Bandes lässt Einblicke in einige Überlegungen Richard Walls, als eine Art „Poesie des Schauens“, zu. Sie springen, kriechen, schleichen, fliegen, galoppieren, flattern, trippeln, tappen, hüpfen, krabbeln, gleiten und schwimmen uns entgegen. Die Gedichte von Alexandra Bernhardt, aus ihrem neuen Gedichtband „Zoon poietikon“, sind an der Oberfläche tierische Porträts. „Der/du bist/ zu kreisen/auszubahnen/zu ermessen/Schluchten Wasser/Höhen : aufgestiegen/in die Himmel/ auszuweiden/rohe Erde :/Luft zu/sein“. So lautet das Gedichte mit dem Titel „Adler“. Tiefer geblickt sind die Gedichte jedoch weit mehr als Tierporträts. Sie lassen sich gleichzeitig als eine differenzierte Typologie vom Menschen lesen. „Der Mensch/ein Tier/ gemacht/dem Wort/gesponnen/aus dem/ Widersinn/ gedacht/der Sprache/machtvoll/Fleisch.“ So lautet das allen anderen vorangestellte Gedicht „Zoon poietikon“, das die multiple sprachliche Transformation vollzieht und zu „Fleisch“ werden lässt. Der Gedichtband versammelt 50 kurze, reduzierte, oft elliptische, syntaktisch gebrochene Gedichte in freien Versen, beinahe ganz ohne Interpunktion notiert. Reime, Alliterationen und Assonanzen sind zu entdecken. Jedes Gedicht ist auf eine Seite gesetzt, behauptet auf diese Weise sein abgestecktes Territorium und generiert sowohl konkret als auch symbolisch eine überzeugende poetische Kraft. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 20.6.2024) Lyrik vor. eleftheria Gedichte Von Richard Wall Edition Tandem 2023 64 S., geb., € 18,– Zoon poietikon Gedichte Von Alexandra Bernhardt Sisyphus 2024 112 S., kart., € 12,–

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