DIE FURCHE · 23 16 Diskurs 6. Juni 2024 ZEITBILD Der bittersüße Sieg Foto: APA / AFP / Idrees Mohammed IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Allgemein zu Nr. 22 Die letzte FURCHE war wieder sehr gut, auch zum Nachdenklichmachen – von Kafka bis ins Feuilleton! Ganz köstlich fand ich die Anmerkung von Regina Polak: „Wir leben im Kapitalozän, nicht im Anthropozän.“ Und das führt zum Nachdenken: ein Klimawandelleugner als Bundeskanzler; Landeshauptleute gegen EU-Renaturierungsgesetz; ein Landwirtschaftsminister gegen Naturwissenschaftler; eine Grüne Umweltschutzministerin für den Bau der Bahn, die keiner braucht (Flughafenspange) usw. Danke und herzlichen GLAUBENSFRAGE Es gibt Gegenwunder Glückwunsch zu dieser Ausgabe! DI Günther Kohl 2454 Trautmannsdorf an der Leitha Geist, den wir brauchen Von Philipp Axmann Nr. 20, Seite 1 Dieser Leitartikel hat mich sehr beeindruckt, besonders Friedrich Heers Idee eines „Gesprächs der Feinde“ halte ich in der heutigen Zeit für extrem wichtig und zielführend! Vielleicht haben Sie ja Lust, einmal in meinen YouTube-Song „Be different“ reinzuhören, der folgende Grundaussage hat: „Let's unite – but stay unique!“ Astrid Hofmann Singer/Songwriter, via Mail Auf die Straße gehen? Kolumne von Walter Kirchschläger Sieg und Schlappe zugleich brachte die größte Wahl der Welt. Rund eine Milliarde Inder und Inderinnen waren aufgerufen, über ein neues Unterhaus abzustimmen; aufgrund des Aufwands wurde die Wahl über sechs Wochen abgehalten. Die hindunationalistische Partei (BJP) von Premierminister Narendra Modi wurde erneut zur stärksten Kraft, erreichte aber weniger Mandate als erwartet. Damit ist die BJP nun auf Koalitionspartner angewiesen. Der Jubel um den charismatischen Führer, dessen Lager geschickt einen Personenkult inszeniert, war dennoch eindrucksvoll (siehe Bild). Die Opposition hingegen sprach von einem „Sieg der Demokratie“. Wie ein bleierner Mantel hatte eine Hitzewelle die Wahl umhüllt. Die Temperaturen in Neu-Delhi lagen teils über 50 Grad, was zur niedrigen Wahlbeteiligung von 66 Prozent beitrug. Modi verfolgt eine große, „göttliche“ Mission: Der BIP-Zuwachs von acht Prozent ist der derzeit höchste unter den G20-Staaten; in der nächsten Legislaturperiode will der ehemalige Teeverkäufer sein Land zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt machen. Auch die Vormachtstellung der hinduistischen Mehrheit wird der 73-Jährige wohl weiter einzementieren – eine Abkehr von der säkularen und multikulturellen Vision der Gründerväter des unabhängigen Indien. (mt) Vom 6. Juni 1996 Aus dem Newsletter „Lesestoff aus dem FURCHE-Navigator“ von Doris Helmberger (31. Mai) Von Ines Charlotte Knoll Ich gebe Walter Kirchschläger völlig recht, dass Christen ihren Glauben – unaufdringlich – auch auf der Straße verkünden und feiern sollen! Aber: Ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass hier eine Tradition gepflegt wird, die wenig Lebendiges vermittelt. Was nützen mir die vielen äußerlichen „Mascherln“, wenn der Inhalt den Ahnungslosen, die zufällig dieser Demonstration begegnen (vielleicht genervt, weil sie im Auto warten müssen), nicht verständlich (eventuell durch einen Folder) vermittelt wird? Bei der Übertragung des Fronleichnamsfestes aus Eisenstadt mit Bischof Ägidius Zsifkovics (30. Mai 2024, 0RF 3) war alles brav nach liturgischer Vorschrift. Dazu kam ein großes Aufgebot an „Aufgemascherlten“! Und dennoch, die Feier berührte mich kaum! Keine Spontanität, nichts Überraschendes, wenig Begeisterndes, höchstens, dass ein Mädchen aus dem Rahmen fällt! Was war passiert? Das Kind verhaspelte sich mehrmals bei einer aufgesetzten 0815-Fürbitte. (Schon vergessen? „Lasset die Kinder zu mir kommen!“) Ich bin dem Mädchen sehr dankbar, denn sie war der lebendige Beweis dafür, dass dieser Text nicht ihrer Welt entsprach! Merken das die dafür Verantwortlichen nicht? Ein anschließendes telefonisches Gespräch mit einem Konzelebranten über meinen Gesamteindruck von der Feier hat diesen hoffentlich nachhaltig aufmerksam gemacht! Ansonsten bleiben die „braven“ Katholiken halt auch auf der Straße – kaum verstanden – unter sich! Wenn ich demonstrierend hinausgehe, dann sollte ich doch für die Sache brennen und begeistert sein! Oder? Friedrich Förtsch, ehemaliger Religions- und Ethiklehrer, der das Vergnügen hatte, Walter Kirchschläger in den 1970er-Jahren an der Uni Wien kennengelernt zu haben! HINWEIS: DIE FURCHE-Newsletter können Sie unter furche.at/newsletter abonnieren! Nach einer Idee der Österreichischen Lotterien werden nun Tanz-Termine neben Wien erstmals auch in Kärnten, Salzburg und Oberösterreich angeboten. „Public Moves“ geht in drei Bundesländer Seit mittlerweile sieben Jahren lädt das Wiener ImPulsTanz Festival, unterstützt durch die Österreichischen Lotterien, allsommerlich zu den Gratis-Tanzklassen „Public Moves“ im öffentlichen Raum. Heuer geht es erstmals über die Grenzen Wiens hinaus in drei weitere Bundesländer. Start war am Donnerstag, den 30. Mai in Klagenfurt im Landhaushof. Bis zum 9. August tourt die Veranstaltungsreihe von Klagenfurt (bis 9. Juni) über Linz (13. bis 23. Juni) und Salzburg (27. Juni bis 7. Juli) bis nach Wien (8. Juni bis 9. August). Bei den Public Moves Tanzklassen wird täglich unter freiem Himmel getanzt. Mehr als 170 internationale und lokale Dozent:innen vermitteln in über 350 kostenlosen Outdoor-Klassen an insgesamt zehn Standorten ihr Wissen von Yoga über Bollywood- Tanz bis hin zu HipHop. Und wie immer gilt: Es sind keine Vorkenntnisse nötig, jedes Alter und Level ist willkommen. Dieses Jahr wird ein noch stärkerer Fokus auf Barrierefreiheit gelegt: So wird in jeder Stadt eine Klasse in österreichische Gebärdensprache (ÖGS) übersetzt, und fast alle Standorte sind barrierefrei zugänglich. Alle Infos, Standorte, Termine und Anmeldung (jeweils einen Tag vor Kursbeginn) gibt es unter www. impulstanz.com/publicmoves. Futurelove Sibanda Foto: Karolina Miernik Verbum ei manet in aeternum – „Gottes Wort bleibt in Ewigkeit“: Mit diesem Satz vom Lichtgrund, dem 1. Petrusbrief entlehnt, endet die Barmer Theologische Erklärung, die vor 90 Jahren, am 31. Mai 1934, von der Bekennenden Kirche beschlossen wurde. Was für eine Sinndeutung von tiefstem Zeittrost. Etwas gilt über dem dunkelsten Geschehen und dem Nichtverstehen, den Fragen und den Klagen. Etwas gilt! Schon so lange sind wir im Wieder. Angehäuft hat es sich von allen Seiten, analog und digital, es umgibt uns in fremden Angesichten, Ausdrücken und unbeschreiblichen Abbildungen von dem, was Menschen einander und der Welt antun; ausgerufen ist die grenzenlose Gnadenlosigkeit. Das „Nie wieder“ und das „Nie wieder ist jetzt“ ist außer Kraft gesetzt. Als ein Sprachwitz wird es in irgendeinen Müllberg geworfen, den die Überlegenen des Zeitspiels angelegt haben in einem heimlichen Gehege. Lügen macht den Lügenden so richtig Spaß! Die Selbstermächtigungen treten ein in diese Zeit als Ungeheuer mit alten, neuen Pflichtkatalogen. „Aus seinen Augen leuchtet die hochherrliche Sonne der nüchternsten Pflichterfüllung, der Pflicht der Stunde“, schreibt der am 3. Juni 1844 geborene Lyriker Detlev Liliencron aus seiner Kriegserfahrung. Doch er schreibt auch davon, dass er an sich selbst eine unglaubliche Zukunft des Augenblicks hat erleben dürfen, von der Heidegger zu deuten wusste, dass ein Mensch in seiner „wahren Existenz“ auf sich zukommt. Die Zeitlichkeit ist der Sinn der Sorge, die in Liliencron momentan wesenhaft aufbricht: „Schon will ich die Waffe heben. Aber ich bücke mich nicht über sie; ich bücke mich über den Schwerverwundeten“. Etwas gilt! Es gibt Gegenwunder – überall, dafür gibt Gott sein Wort in jedwede Zeit der Unzeit: Verbum Dei manet in aeternum – „Gottes Wort bleibt in Ewigkeit“! Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i.R. RELIGION IN KÜRZE ■ Evangelischer Theologe Jürgen Moltmann gestorben Moltmann galt als einer der renommiertesten evangelischen Theologen. Zu seiner wichtigsten Veröffentlichung zählt „Theologie der Hoffnung“ (1964). Geprägt wurde der Hamburger durch den Zweiten Weltkrieg und eine dreijährige Kriegsgefangenschaft. Zentral war für ihn, dass Menschen, die auf Christus hoffen, sich nicht mit der Wirklichkeit abfinden. Moltmann starb am 3. Juni 98-jährig in Tübingen. BILDUNG ■ Ende der verpflichtenden VWA? Bildungsminister Polaschek (ÖVP) will ein Ende der verpflichtenden Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA) an den AHS. Die praxisorientierte Diplomarbeit an berufsbildenden höheren Schulen (BHS) soll allerdings bleiben. Die VWA geriet in den letzten Monaten vermehrt in die Kritik, da Künstliche Intelligenz wie ChatGPT die Sinnhaftigkeit der schriftlichen Abschlussarbeit untergraben würden.
DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Literatur 17 Von Brigitte Schwens-Harrant Eine Jurysitzung, eine Shortlist und zwei Whistleblowerinnen, die Vorgänge aus dieser Jurysitzung öffentlich machen – und fertig ist der Skandal. Mitte Mai erschien im Feuilleton der Zeit ein Beitrag von Juliane Liebert und Ronya Othmann, die darin der Jury für den Internationalen Literaturpreis vom Berliner Haus der Kulturen der Welt 2023 eine identitätspolitisch motivierte Entscheidung vorwarfen. Weiße Autoren und Autorinnen wären benachteiligt worden, es wäre nicht nach ästhetischen Kriterien geurteilt worden. Seither diskutiert das deutsche Feuilleton einerseits die Frage, was mit dem Vertrauen zwischen Jurorinnen und Juroren passiert, wenn interne Gespräche und Abwägungen anschließend öffentlich gemacht werden, aber vor allem den Vorwurf selbst: Wurde die Shortlist aus identitätspolitischen statt aus ästhetischen Gründen erstellt? In vielen Kommentaren und Interviews, die dieser Anklage folgten, war die Rede davon, dass Literaturjurys vor allem die Aufgabe hätten, nach ästhetischen Kriterien zu werten. Schließlich ginge es um die Literatur, um die Qualität des Textes, nicht um die Herkunft von Autorinnen und Autoren. Was Literaturkritik tut Der Ruf nach ausschließlich der Ästhetik von Werken zugewandten Betrachtungsweise von Literatur lädt ein, wieder einmal grundsätzlich über das nachzudenken, was Literaturkritik ist oder sein könnte, was sie tut und mit welchen Kriterien. Als vehemente Verteidigerin eines genauen Blicks in die Texte statt eines bloß oberflächlichen Gesprächs über erahnte oder gewünschte Themen bin ich selbstverständlich von „Ästhetik“ als Kriterium der Literaturkritik überzeugt. Ja, es geht doch um das Werk selbst, bei Literatur also um den Text, um die Form, die Machart, die Sprache, eben um die Ästhetik – wobei sich beim Nachdenken darüber durchaus weitere Fragen auftun, die die Sache nicht leichter machen – doch zu diesen später. Aber kann man denn einen Text nach ästhetischen Kriterien allein beurteilen? Nein. Denn „den Text allein gibt es nicht“, wie Roland Barthes schon sagte. Der Text wird ja gelesen, von jemand Bestimmtem und in einem bestimmten Kontext; Sie lesen ihn anders als ich, ich werde ihn morgen vielleicht anders lesen als heute. Der Text entstand zudem in einem Kontext, es gibt Entstehungshintergründe, es gibt diverse Kulturen, er verweist auf andere Texte und Traditionen undsoweiterundsofort. Der Text steht also in einer Welt und die wird mitgelesen und liest (durch die Lesenden) mit. Foto: iStock/Nastco (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Literaturkritik für ihr Lesen, Einordnen und Bewerten nicht nur auf ästhetische Kriterien zurückgreift, sondern auch auf viele andere. Ideale, Wünsche, Normen, Moden und Konventionen liegen Wertungen zugrunde und werden als Maßstäbe eingesetzt: Simone Winko und Renate von Heydebrand haben versucht, die verschiedenen Kriterien in einer Typologie von Wertmaßstäben darzustellen. Diese macht die Bandbreite dessen sichtbar, was sich im literaturkritischen Tun alles verbirgt. Übereinkünfte finden Unbestritten wichtig und zurecht oft eingefordert sind formalästhetische Maßstäbe. Sie beziehen sich auf formale, strukturelle und sprachliche Eigenschaften literarischer Texte; als Ideale, an denen die Literatur dann gemessen wird, kommen oft Begriffe wie Schönheit, Offenheit, Stimmigkeit, Ganzheit ins Spiel. Anhand dieser Begriffe mag man aber schon erahnen, dass es schwierig werden kann, damit Übereinkünfte zu finden. Denn teilt man überhaupt die Norm, zum Beispiel „Schönheit“ – soll Literatur denn „schön“ sein? Und selbst wenn, teilt man dann die Einschätzung, ob diese Norm in einem konkreten Fall erfüllt ist? Der eine mag ein Werk als schön empfinden, die andere vielleicht als Kitsch. Und gibt es nicht unterschiedliche „Schönheiten“ in unterschiedlichen Kulturen? Der eine mag die „Offenheit“ eines Werkes als großartig argumentieren, die andere als Mangel ... Literatur soll man nach ihrer Ästhetik bewerten, heißt es. Doch den Text allein gab es nie und gibt es nicht. Entsprechend divers sind die Maßstäbe und Kriterien der Literaturkritik. Text in der Welt Aber es wird noch komplizierter. Denn es kommen beim wertenden Lesen von Literatur ja auch inhaltliche Maßstäbe ins Spiel, die aus unterschiedlichsten Bereichen des Lebens übertragen werden. Häufig erkennbar sind zugrundeliegende Werte wie Moralität, Freiheit, Humanität oder Emanzipation. Sie werden aus politischen und geschichtsphilosophischen Theorien beziehungsweise Einstellungen übernommen. Aufgrund dieser Maßstäbe werden dann Texte beurteilt. Ein Text etwa, der sich erkennbar nicht kritisch mit Misogynie auseinandersetzt, sondern diese sogar noch bestärkt, kann dann deswegen negativ bewertet werden. Der Maßstab kommt von außerhalb der Literatur. Ob Misogynie vorliegt, ließe sich dann „ Kritiker suchen den Weg durchs Dickicht: Mit Karten aller Art, mit Lupe und Fernglas, manche auch mit der Sense. “ Lesen Sie dazu auch: „Literaturkritik und Geschlecht: männliche Wertung, ‚weiblicher‘ Geschmack“ von Veronika Schuchter, von 20.10.2021, furche.at wieder anhand von ästhetischen Merkmalen erkennen und argumentieren. Das Vorhandensein eines misogynen Ich- Erzählers muss noch lange nicht bedeuten, dass das Werk misogyn wäre. Auch Maßstäbe, die oft genannt werden, wenn es darum geht, das Herausragende einer Literatur zu beweisen – wie etwa Abweichung, Innovation, Originalität, Wirklichkeitsnähe, Authentizität – müssen sich auf etwas anderes als nur den konkreten Text beziehen: Nennt man einen Text innovativ oder originell, braucht es einen Bezug auf vorangegangene Werke, lobt (oder tadelt) man die Wirklichkeitsnähe, muss man sich auf „die Wirklichkeit“ beziehen undsoweiter. Die Problematik lässt sich auch hier sogleich erahnen: Haben die Kritiker wirklich so viele Werke gelesen, dass sie Originalität erkennen können? Wie kann man Originalität bei Werken feststellen, die nicht aus dem eigenen Kultur- und Traditionsraum kommen? Und verändert sich nicht auch dieser ständig, wie etwa der überlieferte Kanon, der in den vergangenen Jahren um viele „vergessene“ Autorinnen erweitert wurde? Sind Wirklichkeitsnähe und Authentizität brauchbare Kriterien? Im Dickicht der Maßstäbe Und dann gibt es auch noch die Wirkung. „Der Text hat mich gelangweilt“, solche Urteile kennt man zuhauf. Von dem abgesehen, dass ein solches Urteil als „professionelles“ erst noch vom Text her begründet werden müsste, sind die vermuteten oder tatsächlichen Effekte, die literarische Texte für ihre Leser haben könnten, tatsächlich als Maßstäbe der Wertung oft mit im Spiel. Wirkungen gibt es ja nicht nur im Bereich der Emotionen – dass etwa ein Text betroffen macht, Mitleid auslöst, Identifikation mit jemanden ermöglicht, Lust (oder Langeweile) schafft –, die Wirkungen von FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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