DIE FURCHE · 23 14 Diskurs 6. Juni 2024 Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Signale meiner Hündin Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Das frühsommerliche Wetter hat mich eiskalt erwischt. Etwa einen Meter Durchmesser hat mein lila Regenschirm – und trotzdem bin ich patschnass. Beim Verlassen der Volkshochschule blieb sie abrupt im Eingangsbereich stehen und schaute mich mit ihren großen ängstlichen Augen an. Eine klare Aufforderung an mich, sie zu tragen. Also nahm ich sie mit ihren elf Kilo hoch und öffnete den Schirm, um meinen Schützling möglichst sicher und trocken nach Hause zu transportieren. Das war gar nicht so einfach, denn vor lauter Angst versuchte sie, auf meinen Armen dem Regen zu entkommen. Ich verzichtete auf meinen Teil des Regenschutzes. Fast hätte ich sie trocken nach Hause gebracht, doch nach „ Ich gebe Geld aus, um mich schlecht zu fühlen, das kann doch nicht normal sein. “ 15 Gehminuten kam eine rote Ampel, die einfach nicht grün werden wollte. Meine Arme verließen die Kraft und meinen Welpen die Zuversicht, nicht nass zu werden. Das Ende vom Lied: Wir rannten mit wehendem Schirm durch den Regen unsere Straße hoch und wurden vor der Wohnungstür mit Handtüchern begrüßt. Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich auf die Signale meiner Hündin hätte hören können. Sie wollte eigentlich nicht raus, war ungewöhnlich unruhig und auch ein bisschen aggressiv. Aber ich hatte nun mal einen Termin und kann sie (noch) nicht allein zu Hause lassen (zu ihrem Schutz und um meine Provision nicht zu verlieren). Also begleitet sie mich jede Woche zu meinem Gesangsunterricht. Ja, ich nehme Gesangsunterricht. Nicht, weil ich finde, dass die Welt meine Stimme hören soll, oder weil ich ein kleines Show-Pony bin (was ich tatsächlich auch manchmal bin). Nein, Singen ist mir einfach fürchterlich peinlich. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie peinlich. In meiner ersten Stunde wäre ich am liebsten in den Erdboden versunken. „Ich gebe Geld aus, um mich schlecht zu fühlen, das kann doch nicht normal sein“, dachte ich mir. Meine eigenen Zweifel machten auch die Reaktionen anderer nicht besser. Ob ich denn jetzt bei der „Großen Chance“ auftreten will, was ich mir davon verspreche, fragten mich die Leute. Ich verspreche mir davon, mich selbst lieber zu haben und mich von einem Teil meiner Ängste und Unsicherheiten zu lösen. Es ist schon interessant, dass Dinge oder Tätigkeiten immer einen „Sinn“ haben müssen. Nicht nur einen Sinn, sie müssen sinnvoll verwertet werden können. Dazu fällt mir etwas ein, das ich gestern gelesen habe: „Es wird auch nicht erkannt, dass der Mensch zu einer Ware geworden ist, deren Wert sich von seiner Verkäuflichkeit her bestimmt. Er hat gut zu funktionieren; lebendig und zufrieden muss er nur in dem Maße und auf eine Weise sein, wie es seinem Funktionieren notwendig ist. Wenn es aber so ist, dass das ,Wohl-Funktionieren‘ das ,Wohl-Sein‘ ersetzt hat, warum sollte dann noch die ,Kunst des Lebens‘ eine Mühe wert sein?“ Dabei handelt es sich um den letzten Absatz von Erich Fromms „Von der Kunst des Lebens“, ursprünglich als Einleitung zum Buch „Haben und Sein“ verfasst. Obwohl er vor einem halben Jahrhundert verfasst wurde, scheint der Text noch immer sehr aktuell zu sein. Er spricht mir eigentlich sogar aus der Seele. Mittlerweile schnarcht mein Welpe erschöpft neben mir, also beende ich den heutigen Brief ähnlich abrupt, wie meine Hündin vor mir stehen blieb. Ich freue mich sehr, wieder von Ihnen zu lesen. Von Raimund Lang Die Archäologin Sabine Ladstätter wurde „Wissenschafterin des Jahres 2011“. Nun ist sie im Alter von In FURCHE Nr. 2 3800 12.Jänner 2012 nur 55 Jahren verstorben. Ein Porträt. Die Kärntner Archäologin Sabine Ladstätter ist verstorben. Sie leitete 14 Jahre lang die Grabungen österreichischer Archäologen in der antiken Stadt Ephesos an der türkischen Ägäisküste und wurde vielfach geehrt. Ihre Zeit als Grabungsleiterin in Ephesos brachte neue, vielfach aufsehenerregende Entdeckungen wie etwa die Freilegung eines frühbyzantinischen Geschäfts- und Lokalviertels im Jahr 2022 mit sich. Der Autor Raimund Lang hat die Wissenschafterin bereits 2012 für DIE FURCHE porträtiert. Dass Sabine Ladstätter einmal Archäologin werden will, wusste sie bereits im zarten Volksschulalter. Ein Besuch der Ausgrabungen am Kärntner Magdalensberg weckte in ihr die Faszination für im Erdreich verborgene historische Geheimnisse. Heute ist sie die wohl bekannteste Archäologin des Landes. Ladstätters Verdienste um ihre Disziplin, ganz besonders ihre Fähigkeit, diese einem interessierten Publikum näher zu bringen, wurden nun vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten ausgezeichnet. Seit Montag ist die 43-jährige Klagenfurterin offiziell „Wissenschafterin des Jahres 2011“. Ladstätter studierte an der Grazer Karl-Franzens- Forscherin mit Tiefblick Universität Klassische Archäologie, Alte Geschichte und Altertumskunde. Erste Meriten als Forscherin verdiente sie sich in ihrer Funktion als Grabungsleiterin auf dem Hemmaberg in Kärnten. Als „unvergesslichen Moment“ bezeichnet sie die Entdeckung der vierten und fünften Kirche in der spätantiken Siedlung gemeinsam mit ihrem Mentor Franz Glaser. Bezeichnenderweise nannte Ladstätter ihre heute 7-jährige Tochter Hemma. 1997 promovierte sie summa cum laude an der Universität Wien. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beschäftigte sie sich mit der Aufarbeitung der spätantiken Funde aus dem Legionslager Carnuntum. Später koordinierte sie die Keramikforschung in Ephesos. Seit 1. Oktober 2009 bestimmt Ladstätter als Direktorin die Geschicke des Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI). (...) Wichtigstes Projekt des ÖAI sind die Grabungen im türkischen Ephesos. Eine Forschungsunternehmung von internationaler Dimension, die seit 116 Jahren unter österreichischer Ägide steht.[...] Ladstätter repräsentiert eine junge Archäologie, die sich als moderne Forschungsdisziplin versteht. Sie legt großen Wert auf Teamarbeit, hat nichts für Einzelkämpfer übrig. Dies ist umso wichtiger, als die Archäologie zunehmend mit anderen, auch natur- und ingenieurswissenschaftlichen, Disziplinen kooperiert. So wurde in Ephesos unlängst ein großes Areal bislang unentdeckter Monumentalbauten entdeckt. Dabei kamen geophysikalische Methoden wie Magnetik und Foto: APA / Georg Hochmuth Radar zum Einsatz, mit denen die Grundrisse der Gebäude ohne Grabung von der Oberfläche aus identifiziert wurden. Bei der Darstellung von Ergebnissen setzt Ladstätter verstärkt auf den Einsatz digitaler Medien. Ein viel beachtetes Beispiel dafür ist die virtuelle 3D-Rekonstruktion des Hadrianstempel in Ephesos, die man im Linzer Ars Electronica Center bewundern kann. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417
DIE FURCHE · 23 6. Juni 2024 Diskurs 15 Die Turbulenzen um Lena Schilling beutelten und beuteln nicht nur die grüne EU-Spitzenkandidatin, sondern auch die Medien dieses Landes. Ein kritischer Rück- und Ausblick. Die Medien und ihre Selbstverzwergung Wenn man nicht mehr im journalistischen Alltagsgeschäft tätig ist, hat man das Privileg, sich aus allzu offensichtlichen Untiefen der öffentlichen Diskussion heraushalten zu dürfen. Ich habe es mir daher verkniffen – auch auf Social Media –, mich zu den Turbulenzen um Österreichs grüne EU-Spitzenkandidatin zu äußern. Mir ist im Laufe der Jahre kaum eine Debatte untergekommen, in der es so schwer war, die politische Substanz auszumachen, wie hier. Ich ordne die Causa auch als Lehrbeispiel fürs Schlagwort overnewsed but underinformed ein: Was in den letzten drei Wochen an Schmutzwäsche über angebliches oder tatsächliches Fehlverhalten der Jungpolitikerin in ihrem persönlichen Lebensbereich hervorgeholt und durchgekaut wurde, lässt tief blicken. Gleichzeitig ist es trotz der Investigationswucht nicht gelungen, die Kontexte zweifelsfrei offenzulegen, sodass sich daraus kaum klare Positionen ableiten lassen. Vor allem vermag ich in all dem keinerlei Relevanz in Bezug auf die Zukunft Österreichs oder Europas zu erkennen. Doch genau darum sollte es in diesen Tagen gehen. Europa wird von außen wie von innen an den Abgrund gedrängt: Die Kriege in der Ukraine wie in Nahost stellen ebenso eine Zerreißprobe dar wie die Klimakrise, und der Vormarsch von Rechtsaußenparteien bedroht das europäische Projekt im Innersten. Von daher sind die Europawahlen (und dann die Nationalratswahlen) Schlüsselereignisse. Es geht ans Eingemachte – doch der öffentliche Diskurs hierzulande hielt und hält sich mit einer, wie es die Wien-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung titulierte, „Telenovela“ auf. „Die Creme in die Tube zurückpressen“ Das Interessante (oder, je nach Sichtweise: Bestürzende) darin ist, dass die Geschichte vom Standard, einem „Qualitätsmedium“ ausging. Der Boulevard beteiligte sich genüsslich, wobei unterschiedliche Parteinahmen zu Tage traten. Ein Gutteil der Standard-Konkurrenz äußerte sich kritisch, etwa die Salzburger Nachrichten, die Kleine Zeitung oder der Falter. FUR- CHE-Kolumnist Peter Plaikner konstatierte in seiner Kolumne im Wochenmagazin News: Foto: Bildnachweis „Was früher das Öffnen der Büchse der Pandora war, ist heute der Versuch, die Creme in die Tube zurückzupressen.“ Für Plaikner ist klar: Der „Balanceakt“ des Standard „zwischen Politik, Privatem und Publikation wirkt unabhängig vom Ausgang des wohl lange noch währenden Seiltanzes als Tabubruch“. Dem nüchternen Fazit Plaikners in News ist wenig hinzuzufügen: „Denn das Schlechte ist längst in der Welt. Doch wir wollen und müssen nicht alles wissen.“ Man versteht auch einen zornigen alten Mann wie ORF-Legende Peter Huemer, der im Presse-Gastkommentar am 3. Juni ob der Berichterstattung über die grüne EU-Kandidatin ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Bei der EU-Wahl geht es ans Eingemachte. Doch stattdessen hielt sich der Diskurs mit einer Telenovela auf. “ gleich seine Standard-Abo-Kündigung öffentlich machte. Huemer wörtlich: „Der Standard strebt offenbar eine Gesellschaft an, in der wir übereinander Bescheid wissen – zu unserem eigenen Schutz. Niemand soll sicher sein vor Verrat, auch und besonders nicht im engen Freundeskreis. Es ist eine Anleitung zur Niedertracht.“ Es ist klar, dass die öffentliche Aufregung gut für Aufmerksamkeitsökonomie ist, derer Medien heute unterliegen. Insbesondere online reüssierte der Standard wie kaum zuvor, aber auch die ganze Branche konnte mit dem Namen der Kandidatin die Zugriffe auf Texte des je eigenen Mediums in die Höhe treiben. Ein Hype wie der beschriebene mag also die Herzen moderner Medienmanager jauchzen lassen – überdies in Zeiten, wo Medien durch die Bank um ihre Existenz ringen. Dennoch gibt es einen politischen Preis, den die Medien à la longue bezahlen werden, wenn sie sich nicht kritisch mit ihrer Rolle in der Gesellschaft auseinandersetzen: Medien nehmen idealtypischerweise für sich – insbesondere ob der überbordenden Informationswelt im Online-Social Media-Kosmos – in Anspruch, Gatekeeper, Torwächter für relevante Informationen zu sein. Wenn nun aber – wie hierzulande im EU-Wahlkampf – das ganze Land sich über private Chats echauffiert, nicht aber über die zu klärenden Fragen der Sicherheits-, Wirtschafts- und Umweltpolitik diskutiert, so haben auch die Medien Anteil an der Zukunftsvergessenheit der Gesellschaft. Relevanzverlust der Medien Dieser Tage poppte die Diskussion über das EU-Renaturierungsgesetz auf – eine komplexe Materie, über die in Schlagworten berichtet wird. Dass Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner dieses Gesetz mit der Behauptung desavouierte, es würde Europa zu „einem reinen Klimaschutzmuseum umbauen“, wurde wohl vermerkt. Eine qualifizierte Information darüber, was in diesem Gesetz wirklich steht und ob Mikl-Leitners Kritik stimmt, steht aber auf der Agenda der Medien nicht weit oben. Und dass beim Wissenschaftsjournalismus, der für diese Fragen die Gatekeeper-Funktion übernehmen könnte, in den Redaktionen gespart wird, beklagen Beobachter seit langem. Weitere Beispiele für den Relevanzverlust der Medien liegen auf der Hand. Das ist kein gutes Zeichen für die Demokratie. Dass ebendiese Demokratie freie und unabhängige Medien braucht, sollte Common Sense bleiben. Was nützt derart hehrer Wunsch aber, wenn Medien an ihrer Selbstverzwergung arbeiten, indem sie private Affärchen bis zum Gehtnichtmehr hochjazzen? Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. QUINT- ESSENZ Helfer in Fahrt Von Brigitte Quint Eine Bekannte in meinem Alter erzählte mir unlängst etwas Unerhörtes. In einer überfüllten U-Bahn hatte es ein junger Mann gewagt, aufzustehen und ihr einen Sitzplatz anzubieten. Sie hatte sein Angebot brüsk abgelehnt, wofür ich sie feiere. Dass der arme Kerl nicht wissen konnte, wie ihm geschieht, ist mir klar. Aber ich weiß dafür, was mit ihr geschehen war: Sie sah dem Alter mitten ins Auge, der Gebrechlichkeit, der Vergänglichkeit. Und das, obwohl sie doch erst 28 Jahre alt ist. Im Herzen. Dieser Autogipfel des Kanzlers. „Gegen das Verbrenner-Aus“. Karl Nehammer behauptet, er wollte damit die Industrie in Österreich stärken, Arbeitsplätze halten. Dass er in Wahrheit den Grünen eins auswischen will, steht auf einem anderen Blatt. Kurioserweise haben über Nehammers Ansinnen nicht nur Kogler und Co. den Kopf geschüttelt, sondern auch Vertreter der Autoindustrie. Man ist sich dort längst einig, dass man auf Elektroautos setzen muss. Das Festhalten am Verbrenner sei zwar aus sentimentaler Sicht verständlich, sagte ein Experte im TV, aber es wäre wünschenswert, wenn auch die Politiker die Realitäten anerkennten. Jene, die anderen zu Hilfe eilen, obwohl diese überhaupt keine Hilfe brauchen, ja diese als übergriffig empfinden, leiden laut Psychologen am „Helfersyndrom“. Man denke an die betagte Dame, die über die Straße geleitet wird, obwohl sie gar nicht hinüber will. Ja, und meine Bekannte machte auch Bekanntschaft mit einem Syndromträger. Ich bin überzeugt: Hätte sie den Sitzplatz angenommen, ihr Alterungsprozess hätte rapide an Fahrt aufgenommen. Psychologisch gesehen. Zuerst hätte sie aufgehört, sich die Haare zu färben. Dann hätte sie sich ein Abo für die medizinische Fußpflege besorgt. Am Ende hätte sie sich die „Starnacht am Neusiedler See“ im Fernsehen angeschaut. Und genau das will Nehammer. Mit der „Starnacht am Neusiedler See“ kann er mehr anfangen, als mit der Regenbogenparade. Mitte 40-Jährige, die als graue Mäuse herumlaufen, sind für ihn stimmiger als jene von der progressiven Sorte. Er wäre gerne der, der einen an der Hand nimmt und auf die andere Straßenseite führt – mit einem Verbrennungsmotor versteht sich. Es wäre fast rührend, wenn es nicht so traurig wäre. NACHRUF Brigitte Bierlein: Die andere Kanzlerin Sie habe „einen gewissen gesunden Ehrgeiz“, meinte sie einmal über sich selbst. Doch in diese politischen Höhen mit solch dünner Luft aufzusteigen, hatte Brigitte Bierlein keineswegs als Ziel. Zögerlich und selbstzweifelnd – wie allzu viele Frauen: So reagierte die damalige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, als Bundespräsident Alexander Van der Bellen sie Ende Mai 2019 nach dem Fall der türkis-blauen Bundesregierung infolge von Ibiza fragte, ob sie die taumelnde Republik als Kanzlerin bis zur nächsten Wahl führen wolle. Nicht mit Jubel, aber aus Verantwortungsgefühl sagte sie schließlich zu. Dem Land zu dienen: Das sei ihre Motivation gewesen, wird sie später oftmals betonen. Tatsächlich gelang es Bierlein rasch, das aufgebrachte Land wieder auf demokratische Betriebstemperatur herunterzukühlen. Fachliche Brillanz, Professionalität, Teamgeist und eine angenehme Zurückhaltung nach Jahren aggressiver Selbstvermarktung, ja Blendung: Das waren die Zutaten dafür, dass das Experiment „Übergangsregierung“ gelang. Wegweisende (personelle) Entscheidungen verbat sie sich und ihrem Kabinett, der nicht gewählten Regierung fehle es schlicht an parlamentarischer Legitimität. Dennoch wurde in den Monaten bis zur Wahl Ende September 2019 offenbar, was Expertise sowie Wertschätzung gegenüber der eigenen Beamtenschaft vermögen. Für all diese nüchterne Professionalität stand Brigitte Bierlein auch persönlich: 1949 als Tochter eines Beamten und einer Künstlerin geboren, wollte sie zuerst selbst Kunst oder Architektur studieren, entschied sich aber dann – einmal mehr nach selbstkritischer Reflexion – für Jus. Das Studium absolvierte sie in Mindestzeit, mit 26 legte sie die Richteramtsprüfung ab, mit 28 wurde sie Staatsanwältin und mit 41 als erste Frau Generalanwältin in der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof. Immer „die Erste“ – dieses Muster setzte sich fort, als Bierlein, die sich sowohl als Konservative wie auch als Liberale empfand und Frauenquoten stets ablehnte, unter Schwarz-Blau 2003 als erste Frau zur Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs ernannt wurde. 2018 avancierte sie schließlich zur Präsidentin – und ein Jahr später eben zur ersten Kanzlerin. Das Amt wieder abgeben und sich wieder mehr der Kunst und Kultur widmen zu können, empfand sie als Entlastung. Am 3. Juni ist Brigitte Bierlein nach kurzer, schwerer Krankheit kurz vor ihrem 75. Geburtstag gestorben. (Doris Helmberger) Foto: APA / Hans Klaus Techt Starb genau fünf Jahre nach ihrer Angelobung als Kanzlerin: Brigitte Bierlein (1949–2024). Lesen Sie dazu auf furche.at unter „Die Erste, aber nicht die Letzte“ (2.1.2020) auch Manuela Tomics Porträt von Brigitte Bierlein.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE