DIE FURCHE · 14 8 Wirtschaft 6. April 2023 Von Wolfgang Fasching Mit den Osterferien geht in Europa die erste große Reisewelle des Jahres einher. Da Ostern heuer schon in den Sommerflugplan fällt, verzeichnet man nicht nur ein deutlich höheres Angebot seitens der Airlines, sondern auch verstärkte Nachfrage seitens der Passagiere. Schon traditionell wird diese Zeit vom Aufschrei der Klimaschützer begleitet, die alle verantwortungsvollen Bürgerinnen und Bürger auffordern, auf Flüge zu verzichten, da diese Art der Mobilität unseren Planeten und somit unsere Zukunft gefährden würde (vgl. auch „Diesseits von Gut und Böse“, Seite 15). Als Alternative (wenn man das Reisen schon nicht lassen kann oder will) wird fortlaufend auf die Bahn verwiesen. Dementsprechend ist in den vergangenen Jahren ein Bild gezeichnet worden, das Zugverkehr und Luftfahrt in ein Konkurrenzverhältnis katapultiert, bei dem die eine Fortbewegungsart als die Lösung aller Mobilitätsfragen dargestellt wird. Aber ist das wirklich der richtige Ansatz? Budapest näher an Wien als Innsbruck Bahn und Flugzeug haben grundsätzlich ihre natürlichen Märkte. Niemand wird die Sinnhaftigkeit des kommunalen Nahverkehrs der Bahn in Zweifel ziehen. Gleichzeitig ist für eine Fernreise nach wie vor das Flugzeug quasi alternativlos. Das Spielfeld (ich vermeide bewusst den Terminus „Schlachtfeld“) der Auseinandersetzung ist also die europäische Kurz- und Mittelstrecke mit Reisedistanzen von 250 bis 3500 Kilometern. Während die Kritiker(innen) des Fliegens für Einschränkungen und teilweise Verbote innerhalb dieses Radius plädieren – wobei hier die Entfernungen in den Forderungen durchaus variieren –, sehen die Verfechter der Luftfahrt keinerlei Handlungsbedarf. In Österreich sind mit Beginn der Coronapandemie vor allem Inlandflüge in den Fokus gerückt, Hilfspakete für die Austrian Airlines wurden an einen Ausstieg aus diesem Verkehrssegment geknüpft. Das wiederum hat zu einer schnellen Einstellung der Flüge von Wien nach Salzburg geführt. Graz, Klagenfurt und Innsbruck sind indes weiterhin im Flugprogramm. Die Forderungen, den „Verbotsradius“ wesentlich weiter und grenzüberschreitend zu spannen, um Städte wie München, Prag oder Budapest darunter fallen zu lassen, sind allerdings mitnichten verstummt. Dass diese Städte geografisch näher bei Wien liegen als Innsbruck, ist folgerichtig. KLARTEXT Lesen Sie hierzu den Text des Autors „Der Kredit ist verspielt“ (10.8.22) über Halbwahrheiten in der Luftfahrtbranche auf furche.at. Inflation ist nicht vorbei Fliegen gilt längst als böse, Bahnfahren als nachhaltig. Doch dem Passagier werden bei der Wahl seines Transportmittels Steine in den Weg gelegt, meint unser Autor. Ein Statement. Zugreisen für Drahtseilnerven Auch, dass alle Ziele problemlos via Bahn zu erreichen sind. Aber ist dieses Ansinnen sinnvoll? Und wird der Kunde eine derartige Verschiebung der Verkehrsträger annehmen? Eine Beurteilung hängt zuerst davon ab, ob der Reisende auf den relevanten Strecken nicht zumeist das vermeintliche Reiseziel als reinen Umsteigeort für eine Weiterreise ansteuert. Dieses Argument wird seitens der Luftfahrt ins Treffen geführt. Auch in dieser Argumentation gibt es die guten und richtigen Beispiele (z. B. München) oder jene, die nicht zutreffend sind (z. B. Prag). Wenn wir uns die Strecke Linz- Wien ansehen, dann liegt hier ein positives Beispiel für die sinnvolle Substitution des Verkehrsträgers vor. Der Wechsel Von Manfred Prisching Es hat sich eine skurrile Vorstellung verbreitet: dass auf geheimnisvolle Weise die Inflation im nächsten Jahr verschwindet, so wie ein Sturm vorübergeht. Wirtschaftliche Mechanismen sprechen dagegen. An der Inflation ist nicht nur Putin schuld. Energiekosten sind wirksam, quer durch die Wirtschaft, weil sie überall als Vorprodukte drinnen stecken. Aber schon zuvor hatten wir eine Verfünffachung der Geldmenge durch die Europäische Zentralbank: Die gleiche Menge an Waren und Diensten, fünfmal mehr Geld – das macht alles teurer. Die Maßnahme diente zur Bewältigung der 2008er-Krise, aber auch dem Zusammenhalt der Europäischen Union: Geldgeschenke. Nullzinsen produzieren unrentable Investitionen. Coronaleistungen der Regierungen: noch mehr Geld, für alle; Konkursverschleppung. Und jetzt kostet der Öko-Umbau (auf individueller und kollektiver Ebene) viel Geld, weil Nachfrage erzeugt wird, die nicht befriedigt werden kann. Weil alles teurer wird, muss wieder der Staat Geld zuschießen. Aufrüstung kostet Geld. Und letztlich verlangen die Gewerkschaften noch ihre Zehnprozenter bei den Einkommen: Kosten, die erst im nächsten Jahr eingepreist (oder durch Kündigungen eingespart) werden. (Aber es ist verlockend für Gewerkschaften, durch aktuelle Proteste in mehreren Ländern ihre Bedeutung endlich wieder gesteigert zu sehen.) Inflation bedeutet: Das bereits ausgegebene Geld muss verdient werden, indem Inflationsraten nicht gänzlich abgegolten und ersparte Vermögen abgewertet werden. Nach diesem Prozess geht es allen schlechter, vor allem dem Mittelstand. Die oberen Einkommensschichten haben Ausweichmöglichkeiten, die unteren werden entgolten. Frankreich ruiniert sich. Keine Regierung schafft es, der Bevölkerung die Zusammenhänge klarzumachen. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz. vom Flugzeug zur Bahn ist möglich, machbar und sogar wünschenswert. Seit vielen Jahren sind die Flüge zwischen der oberösterreichischen Landeshauptstadt und der Bundeshauptstadt eingestellt. Es verkehren Züge in kurzen Intervallen. Mit dem Ausbau des Bahnhofs am Wiener Flughafen, der es erlaubt, Railjets an den Bahnsteigen unterhalb der Terminals abzufertigen, hat sich der Verkehrsstrom zu hundert Prozent auf die Schiene verlagert. „Na, geht doch!“, ist man geneigt zu konstatieren. Wesentlich bei dieser Verlagerung ist, dass eine Fülle von Vorleistungen erbracht sein müssen. Die Gleisinfrastruktur musste so ausgebaut werden, dass die Reisezeit in die Nähe der Zeit für eine Flugreise kommt. Bei der Westbahnstrecke ist dies erreicht worden. Sogar eine Fahrt von Salzburg nach Wien hält durch den Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen dem Vergleich stand. Das ist aber auch der Grund, warum die Verbindungen nach Graz oder Innsbruck derzeit zeitlich nicht attraktiv „ Die Preise müssen in den nächsten Jahren fallen – in einem Ausmaß, das Bahnmanager schmerzen wird. Nur auf dirigistische Eingriffe zu vertrauen, scheint aus heutiger Sicht gewagt. “ genug sind, um von einem Kundenwechsel auf die Schiene auszugehen. Vor allem auch aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil der Reisenden Wien als Transitpunkt wählt. Neben einer funktionierenden Bahninfrastruktur sind aber auch koordiniertes Handeln der Verkehrsträger wichtig. Es gilt, ausreichend Frequenzen anzubieten. Auch das Thema Reisegepäck und Sitzplatzangebot spielt eine zentrale Rolle – und schließlich lautet die Schlüsselfrage: „Was kostet die Fahrt eigentlich?“ Angesichts dieser Themen sieht man, wie viel Luft es noch nach oben gibt, und dass es durchaus Gründe gibt, warum Flüge nach München oder Zürich noch immer voll gebucht sind. Illustration: iStock/ Elvetica (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Der Aufholbedarf der Bahn beginnt bei den Buchungsplattformen und deren Kundenunfreundlichkeit. Während Airlines verstanden haben, dass übersichtliche Online-Buchungsseiten dem Kunden nicht nur helfen, sondern ihn auch binden, sind die Buchungsplattformen für Bahnreisen noch auf dem Airline-Niveau der 1990er Jahre. Airlines haben aus gutem Grund Allianzen gebildet, um den Reisenden komplexe Reisewünsche zu ermöglichen, in denen das Umsteigen und Wechseln von Airlines – zumindest innerhalb derselben Allianz – unkompliziert möglich ist. Dasselbe auf der Schiene zu versuchen, lässt die Reisenden verzweifeln. Dass es aktuell Geschäftsmodelle gibt, Zugreisende beim Buchen grenzüberschreitender komplexerer Zugfahrten zu unterstützten, zeigt, dass es hier gewaltige Defizite mit sehr großem Verbesserungsbedarf gibt. Die starke Nachfrage nach Reisen zeigt sich rund um Ostern auch darin, dass Züge und Flugzeuge wieder vielfach überbucht sind. Während es in Flugzeugen ohne zugewiesenen Sitzplatz keine Beförderung gibt, betrachtet man es bei der Bahn noch immer als gute Idee, die Sitzplatzzuweisung nicht verpflichtend zu machen. Dass Fluglinien das Thema Sitzplatz sogar zur Ertragsquelle machen, mag manchen Reisenden verärgern. Nur: Ohne zugewiesenen Sitzplatz gibt es keine Mitnahme. Wenn man Bahnfahren zumindest auf Fernstrecken attraktiv machen will, dann sind die Verantwortlichen längst gefordert, in dieser Frage innovativ zu werden und moderne Lösungen zu entwickeln. Passagiere, die wegen Überfüllung der Waggons aus Zügen geworfen werden und Züge, die lange Verspätungen aus diesen Gründen haben, sind jedenfalls kein Reiseerlebnis, das Lust auf mehr macht. Der Verweis auf die Unmöglichkeit von fixen Plätzen im Kommunal- und Pendlerverkehr greift nicht – und ist rückwärtsgerichtet. Wer das Zugfahren ansprechend gestalten will, muss hier Lösungen finden. Warum sind Flüge immer noch so billig? Die wohl drängendste Thematik ist aber die Preisgestaltung. Dass Flüge in Europa preislich deutlich billiger als Fernbusse und Bahnfahrten sind, sorgt für Unverständnis und Kritik. Die Gründe dafür sind vielschichtig – aber am wesentlichsten ist, dass Luftverkehr durch die Liberalisierung einem gewaltigen Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist, der direkt auf die Preise wirkt. Die Billig-Airlines haben nicht nur ihr eignes Produkt sehr preisgünstig am Markt platziert, sondern auch die etablierten Fluglinien zur aggressiven Preisgestaltung gezwungen. Diesen Wettbewerbsdruck gibt es auf der Bahn trotz Liberalisierung nicht annähernd. Ob es überhaupt wünschenswert ist, denselben wirtschaftlichen Druck im Bahnbereich zu haben, führt in eine verkehrs- und wirtschaftspolitische Diskussion, die keine objektiven, sondern vor allem weltanschauliche Antworten bereit hält. Das liberalisierte Bahnwesen Großbritanniens mit teilweise totgesparter Infrastruktur und miserabler Qualität dient den Gegnern einer aggressiven Liberalisierung als abschreckendes Beispiel. Wenn der Reisende im großen Stil vom Flugzeug zur Bahn umgelenkt werden soll, dann müssen aber die Preise in den nächsten Jahren fallen – in einem Ausmaß, das die Bahnmanager auch schmerzen wird. Nur darauf zu vertrauen, dass es dirigistische Eingriffe zu Gunsten der Bahn geben wird, die der Passagier auch annimmt, erscheint gewagt. Die Zukunft liegt eindeutig in der Nutzung von Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Verkehrsträgern – etwa Kombi-Tickets zwischen Bahn und Flugzeug mit abgestimmten Zeiten, integrierten Dienstleistungen (wie der Kofferabgabe am Abfahrtsort) und einem attraktiven Qualitäts- und Preisniveau aller Verkehrsträger, die gesetzliche Vorgaben unnötig machen werden. Der Autor ist Unternehmensberater mit mehr als 25 Jahren Erfahrung im Luftverkehr.
DIE FURCHE · 14 6. April 2023 Gesellschaft 9 „Wir haben Covid-19 war ein Jahrhundertschock. Wie haben ihn jene erlebt, die Verantwortung getragen haben? Ein persönlicher Rückblick als Beitrag zur Aufarbeitung. Millionen Leben gerettet“ Von Clemens Martin Auer Wer mich fragt – als jemanden, der sowohl national als auch international von Anfang an mittendrin war in der Krisenbewältigung der Covid-19-Pandemie –, ob ich im Jänner 2020 wusste, was auf uns zukommt, dem muss ich klar antworten: nein. Ich wusste, dass das Virus tödlich ist und es gefährlich werden könnte. Aber ich wusste im Jänner 2020 nichts über das Ausmaß, das über die Welt hereinbrechen würde. Ich saß Mitte Jänner 2020 in Genf im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation. Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus kam gerade aus China zurück und berichtete, dass die chinesischen Behörden weitgehend kooperieren würden und sie die Lage im Griff hätten. Desgleichen versicherte der Botschafter der Volksrepublik. Tatsächlich haben die chinesischen Behörden die relevanten Informationen über das Virus übermittelt, es gab das erste von der WHO freigegebene PCR-Testprotokoll. Das klang beruhigend – und mit diesem Wissenstand zur Hand gab es keinen Anlass, weiterführende Entscheidungen auf der globalen Ebene zu treffen. Wir debattierten eher die Frage, ob Taiwan oder die Volksrepublik zuerst das E-Mail an die WHO geschickt hatte, um auf den Umstand einer sich rasch ausbreitenden Viruserkrankung hinzuweisen. „Weltwunder“ rasche Impfung Was für eine Fehleinschätzung, denn plötzlich ging alles sehr schnell: Der WHO-Generaldirektor erklärte die neue Viruserkrankung am 30. Jänner 2020 zu einer Gesundheitskrise von weltweiter öffentlicher Bedeutung, da sich das Virus bereits in 20 Ländern nachweisen ließ. Tedros damals: „Wir benötigen unser kollektives Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen, um die Fragen beantworten zu können, auf die wir keine Antworten haben, und um die Fragen zu identifizieren, von denen wir vielleicht noch gar keine Idee haben, sie stellen zu müssen.“ Wir standen aber am Start einer bisher nie dagewesen wissenschaftlichen Kraftanstrengung: Die Labortechnologie hat in wenigen Monaten enorme Testkapazitäten entwickelt. Die Kliniker haben nach anfänglichen Hickups schnell den richtigen Weg der Intensivbehandlung gefunden. Und die Immunologen haben in kürzester Zeit Impfstoffe entwickelt. So wenig das Kollektiv der Wissenschaft über die Pathogenität und Ausbreitung des Virus wusste, so muss es als erstes großes Weltwunder des 21. Jahrhunderts gelten, dass wir im Dezember 2020 mit behördlich zugelassenen (!) Impfungen beginnen konnten. Ich selbst bin dankbar, dass ich einen nicht kleinen logistischen und kaufmännischen Beitrag dazu leisten konnte, dass in allen 27 EU-Staaten alle Bürger den gleichen Zugang zu diesen Impfstoffen bekommen konnten. Wir haben damit Millionen Leben gerettet! „ Diese Last, einen Lockdown verhängen zu müssen, ist kaum auszuhalten. Das tut man nicht, weil man einen Willkürakt setzen will. “ „Bemühungen lächerlich machen“ 2020 hat Clemens Martin Auer der EU-Verhandlungsgruppe zur Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen angehört. Im März 2021 musste der Spitzenbeamte nach massiver öffentlicher Kritik durch Sebastian Kurz als Impfkoordinator gehen. Seit Oktober 2022 ist er wieder als Konsulent für das Gesundheitsministerium tätig. Das wissenschaftliche Paradox: Im Alltagsleben haben Epidemiologen bis heute mit Lehrbuchempfehlungen aus den frühen 1920er Jahren gearbeitet: Masken tragen, Handhygiene und Abstand halten. Der politische Schock der Betroffenheit kam aber mit den ersten Fernsehberichten aus der Lombardei. Die Nachrichten vom todbringenden Virus waren dramatisch. Und die rasche Überforderung des Gesundheitssystems bedrohlich. Mit dem unzulänglichen Wissen über das Virus galt nur mehr ein einziger politischer Grundsatz: Das Sterben verhindern und das Gesundheitssystem retten. Seit diesen dramatischen Berichten war die Pandemie nicht mehr die alleinige Domäne der Medizin, der Wissenschaft oder der Gesundheitsbehörden, sondern eine der ganz großen Politik. Warum? Weil nur mit drastischen rechtlichen und politischen Eingriffen in die Bewegungsfreiheiten der Menschen das Sterben und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern waren. Und das war die parlamentarisch abgesicherte Praxis in allen westlichen Demokratien. In Österreich hat Bundeskanzler Sebastian Kurz den Kampf gegen die Pandemie zur Chefsache erklärt. Der Gesundheitsminister (damals Rudolf Anschober, Anm.) wurde als nützlicher Ministrant gerade noch geduldet, weil er mit zunehmender Trittfestigkeit zumindest den redegewandten epidemiologischen Erklärer abgeben konnte. Ich war nahe am Geschehen und hat die Last der Verantwortung selbst verspürt. Aber ich möchte nicht Regierungschef gewesen sein: Diese Last, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lockdown verhängen zu müssen, ist kaum auszuhalten. Das tut man nicht, weil man einen Willkürakt setzen will. Kurz wollte entsprechend seinem Naturell alles perfekt machen, Österreich in das Musterland der Pandemiebewältigung verwandeln. So gut, so recht. Wir haben in Summe die Pandemie auch gut bewältigt, trotz dass wohl jeder jemanden im weiteren Umfeld kennt, der daran verstorben ist. Aber waren seine Aktionen immer maßvoll? Die überhastete landesweite Testaktion kurz vor Weihnachten 2020? Das Hineinfunken in die Impfvorbereitungen des Gesundheitsministers? Der nachträgliche Ankauf von Impfdosen zu einem Zeitpunkt, da die Lager gefüllt und die Lieferungen ausreichend waren? Objektivierung, Transparenz und Differenzierung, wie sie der Gesundheitsminister etwa mit der Corona-Kommission im Herbst 2020 erreichen wollte, waren nicht das Seine. Im Gegenteil: Seine Pressesprecher wussten, wie man diese Bemühungen lächerlich machen konnte. Politisch hat es Lächerlichkeit gegeben, etwa das Sperren der Bundesgärten durch die Landwirtschaftsministerin (Elisabeth Köstinger, Anm.) im Frühjahr 2020, weil sie messerscharf befunden Foto: APA / Robert Jaeger Unter „Schuld und Bühne“ hat Doris Helmberger am 18.3.2021 die Ablöse von Clemens Martin Auer kommentiert, s. furche.at. hat, die Leute könnten sich bei den Eingangstoren beim aneinander Vorbeigehen anstecken. Oder wie der Innenminister (Karl Nehammer, Anm.) die armen Polizisten ausschwärmen ließ, um Jogger oder Leute auf Parkbänken auf den rechten Weg zu weisen. Das Warum der Schulschließungen muss gründlicher angeschaut werden – und nicht allein nur retrospektiv aus der Erkenntnis der negativen Wirkung für die Kinder. Die Schulgemeinschaft vom Minister abwärts, ernsthaft besorgte Eltern und sehr nervöse Lehrende waren anfangs genauso orientierungslos wie Epidemiologen mit ihren Ratschlägen. Die ursprüngliche Absicht war klar: Ansammlungen und damit Übertragungsketten zu vermeiden. Heute wissen wir, dass wir bei den Kids und Lehrenden gleich impfen hätten sollen, um die Risken der Erkrankung zu minimieren. Unnötige und späte Impfpflicht Der einzig gravierende politische Fehler war der politische Beschluss der Impfpflicht: Grundsatz- und rechtspolitisch geortete Politiker hätten gewusst und verstanden, dass eine Impfpflicht – trotz allem Gezerre von Expertenmeinungen – immer eine Verletzung der Unversehrtheit des Körpers bedeutet und ausführlich begründet werden muss. Noch dazu bei dieser Covid-Impfung, die eine Übertragung der Krankheit nicht verhindert, sondern lediglich mildert. Die Debatte war unnötig und vom Zeitpunkt zu spät, weil weit über 70 Prozent der vernünftigen Bevölkerung sich von sich aus impfen lassen hatte oder bereits genesen war. Bei nachträglicher Beurteilung all dieser Maßnahmen soll eines nicht vergessen werden: An Covid- 19-Infektionen sind im ersten Jahr viele (!) Menschen gestorben. Mit unserem aktuellen Wissen und den Erfahrungen, die wir alle gemacht haben, ist die Situation in den Jahren 2020/21 sicher nicht zu bewerten. Dümmliche Rechthaberei ist intellektuell peinlich. Ich kann jedenfalls für mich sagen, dass mein ethisches Motiv ganz einfach war: Ich wollte Schaden von Menschen abwenden und das Risiko, zu erkranken und vielleicht sogar zu sterben, minimieren. Der Autor (unter Erhard Busek und Wolfgang Schüssel Leiter der Politischen Abteilung der ÖVP) war 2005 bis 2018 Sektionschef im Gesundheitsministerium sowie zur fraglichen Zeit dort Sonderbeauftragter für Gesundheit und Mitglied im Exekutivrat der WHO.
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