DIE FURCHE · 14 22 Wissen 6. April 2023 Illustration: Rainer Messerklinger Universität Khartoum Gastprofessuren vermitteln einen tiefen Einblick in außereuropäische Gesellschaften und bieten Chancen für neue wissenschaftliche Netzwerke (Bild: University of Khartoum im Sudan). Von Manuela Tomic Isan oder Ajvan? MOZAIK Wenn sich Mutter im Supermarkt nicht entscheiden kann, was sie kaufen soll, sagt sie „Isan sam nije pametan“, was so viel bedeutet wie: „Der Mensch selbst ist nicht klug.“ Das Wort Isan kommt vom türkisch-arabischen Insan und bedeutet Mensch. Es kommt immer dann zum Einsatz, wenn man über sich spricht, als wäre man ein Anderer. Der Isan ist bedacht, besonnen und vernünftig und er hat einen bösen Zwillingsbruder: den Ajvan (türk. Hayvan). Als mein Cousin mit dem Fußball unsere Wanduhr aus Marmor zerschlug und diese in viele Stücke zerfiel, schimpfte meine Großmutter mit ihm. „Jesili isan ili ajvan?“, fragte sie ihn dann, was so viel bedeutet wie: „Bist du ein Mensch oder ein wildes Tier?“ Es war eine rhetorische Frage, die wir schlimmen Kinder uns selbst beantworten durften. Und da Gut und Böse in Bosnien schwer zu unterscheiden sind, kann Ajvan auch etwas Gutes bedeuten. Eine abenteuerliche Unerschrockenheit. Etwa, wenn meine Mutter in Richtung meines Onkels sagt, er fahre wie ein Ajvan und dabei lacht. Vielleicht brauchen Bosnier ja den Isan, um sich vor dem Schrecken des Krieges zu lösen. Denn damals waren einige ein Ajvan – oder ein Isan, wenn sie von sich selbst sprechen, aber nicht sich meinen. Seit der Disapora schwirren tausende jugoslawische Isane durch die Welt, doch wie meine Mutter weiß: „Isan sam nije pametan.“ FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/ newsletter Foto: AFP Photo/Simon Martelli Simon Martelli Von Thomas Schmidinger Thomas, können Sie uns nicht auch in Deutsch unterrichten?“, fragten „Dr. zwei meiner Studentinnen gleich in der ersten Lehrveranstaltung, die ich hier an der „University of Kurdistan Hawlêr“, in der Hauptstadt der Autonomieregion Kurdistan des Irak, zu halten begonnen hatte. Und so wurde ich neben meiner Gastprofessur auf der Politikwissenschaft auch noch unversehens zum Deutschlehrer. Im Gegenzug dafür versuchen seither die beiden Studentinnen mir das Soranî, den in den südlichen Teilen Kurdistans gesprochenen Dialekt beizubringen, der sich grammatikalisch in einer ganzen Reihe zentraler Punkte vom bisher gelernten Kurmancî unterscheidet. Interkultureller Dialog An einer Universität fern ab vom eigenen akademischen Sozialisationsraum zu lehren, ist eine ganzheitliche Immersion. Wer sich darauf einlassen kann, unterrichtet nicht nur einfach das Gleiche wie immer an einem anderen Ort, sondern tritt in einen Dialog mit Kolleg(inn)en und Studierenden ein, der für den Lehrenden selbst mindestens ebenso bereichernd ist wie für die Studierenden. Vor allem außerhalb Das EU-Programm „Erasmus+“ fördert akademische Mobilität auch abseits der Komfortzone: Wie bereichernd es sein kann, an einer Universität im globalen Süden zu lehren. Ein Erfahrungsbericht. Ganzheitliche Immersion der europäisch-nordamerikanischen Komfortzone muss man sich allerdings darauf einstellen können, dass Universitäten nicht überall auf der Welt gleich funktionieren, dass Schulabgänger(innen) nicht überall mit den gleichen Voraussetzungen in Universitäten eintreten und es oft an „Basics“ mangelt. Und das gilt keineswegs nur für Krisengebiete wie den Irak. Wer öfters in diversen Regionen des globalen Südens gelehrt hat, weiß, dass Studierende an den meisten Universitäten Afrikas, Zentralasiens oder Lateinamerikas nur davon träumen können, aktuelle Bücher ihrer Disziplinen in Bibliotheken vorzufinden. „ Ärmere Staaten können sich oft kaum ein Gehalt leisten, das auch nur die Flugkosten in das Gastland abdeckt. “ In der Universitätsbibliothek der größten und ältesten Universität des Sudan, der „University of Khartoum“, war ich anfangs wieder einmal von der überbordenden Freundlichkeit der Sudanes(inn)en begeistert, als ich ihnen einige meiner Bücher als Geschenk brachte. Als ich dann in der Bibliothek zu sehen bekam, dass die letzten anderen Bücher hier wohl Anfang der 1980er-Jahre katalogisiert worden waren, verstand ich erst, warum Bücher, die im 21. Jahrhundert erschienen sind, auf solch große Begeisterung stoßen. Dürftige Bibliotheken Selbst E-Resources sind in den meisten Unis des globalen Südens Mangelware. Universitätsbibliotheken, die einen JSTOR-Zugang haben – eine zwar umfangreiche, aber eher historische Sammlung wissenschaftlicher Artikel – sind darauf meist schon sehr stolz und gehören zu den Top-Unis des globalen Südens. Umso mehr sind Lehrende und Studierende auf im Westen verpönte russische Internetseiten angewiesen, die tausende PDFs akademischer und nichtakademischer Publikationen ins Internet stellen und damit auch für jene zugänglich machen, die sich weder die elektronische noch die meist schwer überteuerten Papierausgaben wissenschaftlicher Publikationen leisten können. Immerhin kostet so ein Werk amerikanischer oder europäischer Wissenschaftsverlage schnell einmal die Hälfte eines professoralen Monatsgehalts im Libanon oder in Ägypten. So viel Taxifahren kann ein iranischer Universitätsprofessor nach Dienstschluss gar nicht, dass er sich einmal im Monat eine wissenschaftliche Publikation irgendeiner westlichen „University Press“ leisten kann. Gastprofessuren geben einem sicher einen der tiefsten Einbli-
DIE FURCHE · 14 6. April 2023 Wissen 23 „ In der größten und ältesten Universität des Sudan sah ich staunend, dass die letzten Bücher hier wohl Anfang der 1980er-Jahre katalogisiert worden waren. “ cke in Gesellschaft und Universitätsleben des jeweiligen Gastlandes. Während manche arabische Golfstaaten sich westliche Akademiker(innen) dabei einiges kosten lassen – schließlich gelten hier selbst zweitklassige weiße Akademiker(innen) mit US-amerikanischen PhDs als absolute Prestigefrage – können sich ärmere Staaten oft kaum ein Gehalt leisten, das auch nur die Flugkosten oder die Kaltmiete für die in Europa zurückgelassene Wohnung abdeckt. Zum Glück gibt es dann und wann zumindest die Möglichkeit, sich kürzere Lehrund Forschungsaufenthalte auch an außereuropäischen Universitäten mit „Erasmus+“ für Lehrende und anderes Hochschulpersonal finanzieren zu können. Gelebte „Universitas“ Insgesamt gehen mit „Erasmus+“ pro Jahr rund 1000 Lehrende und andere Mitarbeitende österreichischer Universitäten und Hochschulen ins Ausland. Die meisten davon innerhalb der EU. Das EU-Programm übernimmt dabei einen Teil der Reise- und Aufenthaltskosten. Wer eine fixe Stelle an seiner Heimatuniversität hat, bekommt sein dortiges Gehalt weiter gezahlt. Für Lektor(inn)en ist es hingegen ein unbezahltes Hobby – aber immerhin eines, das ihnen auch die große weite Welt näherbringen kann. Neben dem innereuropäischen „Erasmus+“ gibt es nämlich auch eine außereuropäische Schiene, mit der Lehrende an bestimmte Partneruniversitäten entsandt werden können. Die Universität Wien hat etwa solche Verträge mit Universitäten in Brasilien, Ghana, Israel, Japan, Libanon, Mauritius, Mongolei, Palästina, Russland und der Ukraine. Mindestens acht Stunden muss man für einen einwöchigen Lehraufenthalt unterrichten. Jede dieser Partneruniversitäten kommt allerdings nur für wenige Studienrichtungen in Frage. Umso begeisterter war ich, als ich kurz vor Beginn der Coronakrise feststellen konnte, dass für Politikwissenschafter(innen) ein Lehraufenthalt an der „National University of Mongolia“ möglich ist. Aufgrund der globalen Pandemie und der Einstellung sämtlicher Flüge nach Ulan-Bator dauerte es zwar zwei Jahre und benötigte dann noch eine langwierige Suche nach möglichen Flügen. Allerdings war dieses kurzfristige Lektorat in der mongolischen Hauptstadt nicht nur eine persönliche Bereicherung, sondern auch der Beginn von direkten Kontakten mit Kolleg(inn) en, mit denen ich heute noch im Austausch stehe und mit denen gerade an einem gemeinsamen Projekt getüftelt wird. Zoom-Konferenzen ersetzen eben nicht das persönliche Kennenlernen, das Bier nach der Lehrveranstaltung und die dabei entstehenden Diskussionen, die vielleicht auch zu neuen wissenschaftlichen Projekten führen können. Aus einem anderen kurzfristigen Aufenthalt mit „Erasmus+“ an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Ankara-Universität, einige Monate vor dem Putschversuch in der Türkei, ist ein noch viel internationaleres Netzwerk hervorgegangen. Mit dem wachsenden Autoritarismus nach dem Putschversuch von 2016 verloren die meisten der dortigen Kolleg(inn)en ihre Anstellung. Viele mussten das Land verlassen. Auch für jene, die damals besucht wurden, haben sich so teils wichtige internationale Kontakte ergeben, die heute mithelfen, exilierten türkischen Intellektuellen öffentliche Foren zu geben. Der Arbeitsalltag und die oft befristeten Anstellungen an europäischen Universitäten machen es vielen Akademikern nicht leicht, sich auch die Zeit zu nehmen, einfach einmal ein Semester oder auch nur ein oder zwei Wochen in eine völlig andere Umgebung einzutauchen, um dort zu lehren und auch selbst zu lernen. Für die Bildung im Sinne der Universitas, also der gesellschaftlichen Gesamtheit, sind solche Erfahrungen und ist solch ein Austausch zwischen verschiedenen universitären Traditionen aber unglaublich bereichernd. Wir sollten uns dafür weiter die Zeit und die Freiheit nehmen. Der Autor ist Politikwissenschafter und derzeit Gastprofessor an der „University of Kurdistan Hawlêr“ im Irak. Foto: imago /agefotostock Die Universität Wien hat Verträge mit Hochschulen u. a. in Brasilien, Ghana, Israel, Japan, Libanon, Mauritius und der Mongolei (Bild: National University of Mongolia in Ulan-Bator). WISSEN, WIE DER HASE LÄUFT nur € 7,80* pro Monat Lesen Sie DIE FURCHE nicht nur gedruckt, sondern auch digital und sichern Sie sich jetzt das Digitalabo zum Osterpreis um 93,60 Euro statt 156 Euro. Wie Sie 40 % sparen: 1. Besuchen Sie furche.at/abo 2. Wählen Sie das Digitalabo 3. Geben Sie den Promocode OSTERN40 ein 4. Bestellen und 62,40 Euro im 1. Jahr sparen Holen Sie sich das volle Lesevergnügen im FURCHE-Navigator mit mehr als 175.000 Artikeln seit 1945 – wo, wie und wann Sie wollen. *jährliche Abrechnung QR-Code scannen und gleich losstarten! Code gültig bis 16. April 2023
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