Wendung darstellt, der man in Gerichtsverfahren öfter begegnet. Einer der bekanntesten biblischen Prozesse ist das sogenannte „salomonische Urteil“ (1 Kön 3,16–28). Zwei Frauen haben jeweils ein neugeborenes Kind, ein Kind ist tot, eines lebt. Beide Frauen behaupten, dass sie die Mutter des lebenden Kindes seien. Heute wäre eine Antwort auf diese Frage einfach. Eine DNA-Analyse gibt eine eindeutige Antwort auf die Frage, von wem das Kind stammt. Ölgemälde von Derartige Untersuchungen standen dem weisen Salomo nicht zur Benedetto Caliari (1538–1598) in der Verfügung. Und so muss er eine Kirche S. Nicolò richterliche Untersuchung durchführen. Im Rahmen dieser Unter- della Lattuga, Venedig. suchung verwendet er in der griechischen Version des Textes eben die Verbindung aus persönlichem Fürwort und Verb, die sich auch im Prozess Jesu findet. Allerdings ist es die Frage des untersuchenden Richters: „Du behauptest also, dass es dein Kind ist.“ Damit wird jedoch deutlich, dass der Prozess Jesu aus rechtlicher Sicht fundamental falsch übersetzt ist. Jesus stimmt dem römischen Verwalter der Provinz Judäa gerade nicht zu. Er weist in vielmehr schroff zurück. Auch die Frage des Pilatus ist wohl nicht Von Hans Förster wirklich den Umständen entsprechend übersetzt. Es ist die Frage er Prozess Jesu gehört des Untersuchungsrichters. Damit wird man hier folgenderma- zu den umstrittensten historischen Ereignissen der Weltgeschich- „Als Jesus vor dem Statthalter ßen übersetzen müssen (Mt 27,11): te. Zahlreiche Fragen stand, fragte ihn dieser: Du bist also der König der Juden? Jesus ant- werden höchst unterschiedlich beantwortet. Die mit diesem Prozess verbundene Verurteilung Jewortete: Das behauptest du!“ su zum Tod am Kreuz hat wie kein Ein korrupter Machthaber anderes Urteil – oder auch Fehlurteil? – die Weltgeschichte geprägt. Theologen wie ein Kartenhaus in Damit fällt die Behauptung des Der Glaube an Jesu Auferstehung sich zusammen. Der historische ist Kern der christlichen Botschaft. Bericht ist hier keinesfalls nur ein Das Christentum ist eine Religion, Konstrukt, das mit den Ereignissen nichts zu tun hat. Natürlich bei der die tätige Nächstenliebe Teil der Kernbotschaft ist. Die Parabel vom „barmherzigen Sama- Lesen Sie auch fen. Dies hat der katholische Theo- Pontius Pilatus folgendermaßen erkennen glaubt: „Wenn Pilatus unschuldig halten, schließlich hat muss Pilatus Jesus erst einmal für riter“ (Lk 10,25–37) steht für den Hans Förster loge Michael Theobald getan und (Einheitsübersetzung 2016; Mt in der Antwort Jesu ‚keinen strafwürdigen Tatbestand‘ erkennt, erklärt, sondern behauptet seine er sich ja gerade nicht für schuldig über die juden- Vorrang dieser Nächstenliebe. eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht. Überter stand, fragte ihn dieser: Bist du ‚obwohl verschiedene Überliefe- Unschuld. Es ist nun eine Aufgabe 27,11): „Als Jesus vor dem Statthal- feindliche Kar- Trotzdem hat die Vorstellung, freitagsfürbitte, dass die Juden durch die Kreuzigung Jesu einen „Gottesmord“ besche Verblen- zentralen juristischen Frage fast tete: Du sagst es.“ es jüdische Führer mit einem sol- zu sprechen und für Gerechtigkeit siehe „Katholiraschend ist, dass er dabei der der König der Juden? Jesus antworrungen darauf hinweisen, dass jedes römischen Verwalters, Recht gangen hätten, eine blutige Spur dung“ (6.4.2022) keinen Raum gibt. Grundsätzlich Mit einem einzigen Vers aus chen Anspruch gegeben hat, die zu sorgen. Pilatus bringt wider auf furche.at. durch die Geschichte gezogen. Juden wurden von Christen missligen Zeit, dass ein Angeklagter, gentlich, so scheint es, aus juristi- worden sind‘, bestätigt sich die ein Schild an. Er erklärt ihn des gilt im Römischen Recht der dama- dem Matthäusevangelium ist ei- von den Römern blutig verfolgt besseres Wissen auf Jesu Kreuz handelt und sogar getötet, weil der seine Schuld gesteht, durch scher Sicht bereits alles gesagt. Jesus bestätigt mit seiner Antwort ligiösen Verständnisses des Kö- er Jesus aus römisch-rechtlicher Annahme eines grundsätzlich re- Aufstands für schuldig, obwohl „die Juden“ als Christusmörder ein Geständnis als verurteilt gilt. wahrgenommen wurden. Dabei In den herkömmlichen Übersetzungen liest sich das Verhör wegen scheint es auch folgerichge und Antwort. Die Szene ist Wenn man sich vor Augen hält, den Kernpunkt der Anklage. Desnigs-Titels als Vorzeichen für Fra- Sicht für unschuldig halten muss. lohnt es sich, einen Blick auf die Berichte in den Evangelien zu wer- vor dem römischen Statthalter tig, wenn dann später im Matthäusevangelium festgehalten wird torischer Bericht.“ gion die „Gerechtigkeit“ vor Gott theologisches Konstrukt, kein his- dass aus Sicht der jüdischen Reli- (Mt 27,37): „Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, Sprachtypisches missachtet men Juden und einer gottesfürch- das zentrale Merkmal eines from- die seine Schuld angab: Das ist Jesus, der König der Juden.“ großen Unterschied, ob man „sich hier als Frevler dargestellt. Wider Im Deutschen macht es einen tigen Jüdin ist, dann wird Pilatus auf den Weg macht“ oder ob man besseres Wissen fällt er ein Todesurteil und gibt als Grund für die- „auf den Weg macht“. Ein einziges persönliches Fürwort entscheidet darüber, ob die Wiener Magis- selbst weiß, dass Jesus sie nicht beses Urteil eine Tat an, von der er tratsabteilung 48 eine Strafe für gangen hat. Verschmutzung des öffentlichen Mit diesen juristischen Elementen, die der Evangelist in den Text Raumes verhängt oder ob man einfach nur eine Reise antritt. Die MA eingebaut hat, wird Pilatus zu einem korrupten Machthaber, dem 48 spielt selbst in ihrer Öffentlichkeitsarbeit damit, dass man es „in ein Menschenleben nichts gilt. der Hand habe“, ob man für das Warum, so muss man fragen, wird „Hundstrümmerl“ auf der Straße hier der Text erst sprachwissenschaftlich falsch übersetzt und eine Strafe zahlt, weil man es liegen lässt, oder eben nicht, weil dann als ahistorisch abgetan? Die Was den Tatbestand anbetrifft, so ist die Anklage eindeutig. Indem sich Jesus zum „König der Ju- wegräumt. Auch hier ist „etwas in entsprechende Übersetzung legt man es in die Hand nimmt und sachlich dem griechischen Text den“ gemacht hat, ist er ein Rebell der Hand haben“ eindeutig zweideutig. Er hat einen Justizmord begangen. eine schwere Schuld auf Pilatus: und Rädelsführer eines Aufstands. Einen Aufstand anzuzetteln und Derartige Phänomene gibt es Hier wäre eine Revision der Übersetzungen heilsam. dem Kaiser und seinem Statthalter Konkurrenz zu machen, wird es oftmals auch so schwer, eine in allen Sprachen, deswegen ist im Römischen Recht als seditio bezeichnet. Darauf steht die Todestig zu verstehen und treffend zu an der Universität Wien und leitet sprachtypische Wendung rich- Der Autor lehrt als Privatdozent strafe. Jesus starb am Kreuz. Der übersetzen. Wenn man nun die ein Forschungsprojekt des FWF Theologe löst das Problem, indem Bibel aufschlägt, stellt man fest, an der Kirchlich-Pädagogischen er einen konstruierten Bericht zu dass Jesu Antwort eine geprägte Hochschule (KPH) Wien/Krems. DIE FURCHE · 14 16 Forum 6. April 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Europäisches Filmfest FILMFESTIVAL Zum 20. Mal findet heuer in Linz das Filmfestival „Crossing Europe“ statt. Zu den vier Eröffnungsfilmen gehört auch Eastern Front von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko, der die Brutalität des Krieges in der Ukraine mit bedrückenden Aufnahmen direkt von der Front zeigt. Crossing Europe Filmfestival Linz 2023 26.4. bis 1.4. www.crossingeurope.at Interreligiöses vom Papst BUCHPRÄSENTATION „Handwerker der Hoffnung“ betitelt Religionswissenschafter Ernst Fürlinger den von ihm herausgebrachten Band über Interreligiöses von Papst Franziskus (FURCHE 10). Gemeinsam mit Muslima Carla Amina Baghajati und dem Juden Yuval Katz-Wilfing stellt er das Buch vor. Handwerker der Hoffnung Mi 19.4., 19 Uhr, Otto-Mauer-Zentrum, 1090 Wien, Währinger Str. 2–4 www.kav-wien.at Milch und Honig FESTIVAL „Milch & Honig“ ist das Musikfestival für innovative Konzertformate, in dem das klassische Konzert neu gedacht wird. In acht Konzerten mit acht unterschiedlichen Herangehensweisen werden dem Publikum Konzerterlebnisse zuteil, die es so noch nicht erlebt hat. Milch und Honig Wiener Neustadt 14. April bis 12. Mai 2023 www.wiener-neustadt.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Selbstgerechte SPÖ Die Selbstvergessenen Von Doris Helmberger Nr. 13, Seite 1 Die SPÖ hatte sich seit ihrer Gründung 1889 vor allem um die wirtschaftlich Benachteiligten gekümmert und für diese ein menschenwürdiges Leben verlangt. Seit der Jahrtausendwende hat diese Partei jedoch schrittweise eine seltsame Veränderung erfahren; und zwar dahingehend, dass sie bestimmte Minderheiten als mögliche neue Klientel betrachtet und ihr daher bisherige Stammwähler(innen) abhanden kommen, da sich diese aus verschiedenen Gründen von der FPÖ besser vertreten fühlen. Vielleicht sollten die SPÖ- Spitzenpolitiker(innen) doch Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ endlich genau lesen; könnte vielleicht hilfreich sein. Dr. Franz John via Mail Greenwashing der Bibel? Der Tod Jesu war ein Justizmord Von Hans Förster Nr. 13, Seite 12 Auf einer ganzen Seite der FURCHE wird das derzeit allgemein so beliebte „Greenwashing“ betrieben. Dieses Mal des Hohen Rats des jüdischen Tempels in Jerusalem bzw. des Hohenpriester Kajaphas, um Pontius Pilatus die alleinige Schuld an der Verurteilung Jesu zum Tode zu geben – auf Grunde eines Übersetzungsfehlers bei der Antwort Jesu an Pilatus. Biblisches Faktum ist, dass der Hohe Rat/das jüdische Höchstgericht (Sanhedrin) Jesus wegen seines Messiasanspruches zum Tod verurteilte. Da die Todesstrafe nur von den römischen Besetzern ausgeführt werden durfte, wurde Jesus unter der Beschuldigung, er sähe sich als König der Juden, an Pilatus ausgeliefert. Pilatus wollte die Causa wegen der fragwürdigen Lage an den „Nachbarkönig“ Herodes Antipas übergeben, dies wurde jedoch zurückgewiesen. Die Alleinschuld für den „Justizmord“ liegt somit nicht nur bei Pilatus. Die Bibel zitiert auch: … er ging hinaus zu den Juden und sagt: „Ich finde keinen Grund ihn zu verurteilen“ bzw. „ich wasche meine Hände in Unschuld“. Und in Joh.19 sagt Jesus zu Pilatus: „... darum liegt größere Schuld bei dem, der mich dir ausgeliefert hat.“ Dr. Peter Bösch Wiener Neustadt Kein Schwarz-Weiß-Schema Corona und andere Schadensmeldungen Von Ulrich H.J. Körtner Nr. 13, Seite 15 DIE FURCHE · 13 12 Religion 30. März 2023 Christus vor Pilatus D 30 Jahre VOSÖ Die Vereinigung von Ordensschulen Österreichs feiert ihr 30-jähriges Bestehen und DIE FURCHE feiert mit! NOCH KEIN ABO? Scannen Sie den QR-Code und lesen Sie DIE FURCHE 4 Wochen kostenlos gedruckt und digital! Nicht Juden waren „Christusmörder“, wie antijüdische Rede Jahrtausende behauptet hat. Tatsächlich verurteilte ihn Pontius Pilatus wider besseres Wissen. Die gängigen Bibelübersetzungen verschleiern dies bis heute. Der Tod Jesu war ein Justizmord „ Die mit diesem Prozess verbundene Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz hat wie kein anderes Urteil – oder auch Fehlurteil? – die Weltgeschichte geprägt. “ Foto: picturedesk.com / akg-images / Cameraphoto Die durch die Corona-Pandemie ausgelösten Verwerfungen haben vielfach tiefe Gräben in der Gesellschaft gezogen, eine Aufarbeitung der Geschehnisse ist sicherlich eine wesentliche Voraussetzung, um diese Gräben wieder zuschütten zu können. Hier bedarf es aber eines Zugangs, der beide Seiten hört, nicht nur die Position der Impf- und Maßnahmenbefürworter, sondern auch jener Menschen und Wissenschafter, die Impfung und Maßnahmen kritisch sehen oder ablehnen. Mit einem Schwarz-Weiß Schema, das in „Gute“ (also Befürworter) und „Schlechte“ (also wissenschaftskritische Schwurbler) einteilt, wird das aber nicht gelingen. Ein transparenter Prozess braucht eine kritische Betrachtung und Würdigung aller Meinungen und auch wissenschaftliche Erkenntnisse dürfen sich keiner Diskussion und keinem Hinterfragen entziehen. Oftmals scheint es in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie so, als ob die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung einer absoluten Glaubenswahrheit gleichgesetzt werden, die wie ein Dogma außerhalb jeder Skepsis stehen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass einzelne Wissenschafter, die sich gegen den „Mainstream“ stellten, gemobbt und lächerlich gemacht wurden, obwohl sich ihre Erkenntnisse später als richtig herausstellten. Beispielsweise wurde im 19. Jahrhundert Ignaz Semmelweis, als er an seiner geburtshilflichen Abteilung Hygienevorschriften zur Bekämpfung des Kindbettfiebers einführte, von der etablierten wissenschaftlichen Community bekämpft. Diese war nämlich der überzeugten Meinung, wonach das Sterben von Müttern durch „noch unbekannte atmosphärische, kosmische oder tellurische, das heißt erdgebundene, Faktoren“ bedingt sei. Eine Aufarbeitung und Versöhnung kann nur gelingen, indem man alle Menschen hört, auch jene, wie es z. B. der stellvertretende Vorsitzende der Bioethikkommission Peter Kampits schreibt, die rational begründet einer Impfung skeptisch gegenüberstanden oder jenen, die ihre sterbenden Verwandten und Freunde in Pflegeheimen und Spitälern alleine lassen mussten. Dr. Georg-Hans Schmit 1190 Wien Parallelen aufzeigen Frage der Demokratie Von Otto Friedrich Nr. 12, Seite 1 Danke für diesen Leitartikel der FURCHE! Wieder einmal „punktgenau“ zu den derzeitigen, politischen Entwicklungen … Das stimmt uns sehr nachdenklich und ist auch besorgniserregend! Lehren aus der Geschichte – zuletzt auch aufgezeigt vom Historiker Christian Jostmann (in Ausgabe Nr. 11) bzw. im Interview mit Peter Longerich zum Jahr 1923 (in Ausgabe Nr. 1) – zeigen Parallelen auf, die wahrlich Alarmglocken läuten lässt … Umso mehr Wertschätzung und Lob an die FURCHE! Mag. Engelbert Wiltschnig 9170 Ferlach Geschenkideen für alle ab 16 findet man in den Annahmestellen. Zu Ostern Glück schenken Das Besondere an Brieflos? Man betritt die Annahmestelle und hat die Chance, sie mit einem sechsstelligen Gewinn wieder zu verlassen. Derzeit besonders beliebt ist das Mega Brieflos mit einem Hauptgewinn von 500.000 Euro bei einem Lospreis von 3 Euro. „Viel Glück“ schenken kann man auch mit den „ganz normalen“ Brieflosen in vier verschiedenen Glücksbringer-Varianten. Die Lose mit Glückskäfer, Kleeblatt, Hufeisen und Glückspilz sind zum Preis von je 1 Euro erhältlich und eröffnen Gewinnmöglichkeiten bis zu 100.000 Euro. Für alle, die die Aussicht auf „10 fette Jahre“ schenken möchten, gibt es ebenfalls ein passendes Los: Mit etwas Glück werden hier aus zwei Euro Einsatz 2.000 Euro monatlich, für 10 Jahre. Mit Brieflos Glück schenken Foto: Österreichische Lotterien GLAUBENSFRAGE Wer hat dich so geschlagen? hat dich so geschlagen?“ Im Choral lässt Johann Sebastian Bach dies fragen. Mit Schmerzwucht steht die Frage „Wer wie in allen Zeiten das Kreuz. Wer hat dich so geschlagen? Wer hat dich so vernichtet und wer wollte und will dich immer bekriegen und wer will dir das Leben nehmen und wer will so böse sein, dass er oder sie die Waffe nimmt, ein Wort oder ein Gewehr oder eine Bombe, und zielt und töten muss. Wer will das und warum? Es ist der Mensch. Du bist das und ich bin das. Gott-entrissen stehen wir unter dem Kreuz, das wir aufrichten immer wieder als ein Zeichen des gewollten Zugrunderichtens. Analog oder digital, ist doch egal. Es ist so. Die Welt steht unter dem Kreuz. Karfreitag geschieht immer. Dies ist der tragische menschliche Makel, dass wir aus unserer Sehnsucht entführt werden können in die Gehässigkeit und in die tödlichste Liebesferne. Meine Antwort singe ich schmerzklar mit dem Chor: „Ich, ich und meine Sünden“, ich habe dich geschlagen. Ich, ich bringe dich ans Kreuz. Das gedoppelte Von Ines Charlotte Knoll Ich im Choral zeigt im Verborgenen, woran wir in Wirklichkeit Maß nehmen. Wir Narzissmus-Gepolten. „Gott am Kreuze! Es hat bisher noch niemals und nirgendwo eine gleiche Kühnheit im Umkehren gegeben“, sagt Friedrich Nietzsche. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Vergebungsbitte Jesu als Antwort vom Kreuz! In der Spitze aller Verlassenheit, im Ende dieses Lichtlebens schimmert eine ganz andere Energie. „Aus lauter Liebe will mein Heiland sterben“. Der alles verändernde Herzmensch. „Gott ist Veränderung … Als er die Welt schuf, aus dem Nichts heraus, veränderte er das Nichts“, sagt der im April vor 110 Jahren geborene Dichter Stefan Heym. In dir und in aller Wunde der Welt wartet eine Aufstandsfreude gegen alles Vernichtende: das Osterwunder vom dritten Tag. Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i.R. RELIGION IN KÜRZE ■ Katholische Weltsynode: Kontinentale Phase beendet Die kontinentale Etappe des weltweiten synodalen Prozesses der katholischen Kirche ist offiziell abgeschlossen. Wie das vatikanische Synodensekretariat mitteilte, wird nun auf der Basis der Abschlusstexte der sieben, im Februar und März abgehaltenen kontinentalen Versammlungen das Arbeitspapier (Instrumentum laboris) formuliert. Es ist die Grundlage für die entscheidenden Beratungen der Weltsynode, die im Oktober 2023 und im Oktober 2024 in Rom stattfinden. Das Instrumentum laboris wird von einer achtköpfigen Kommission zusammengestellt. Ihr prominentestes Mitglied ist der luxemburgische Kardinal Jean-Claude Hollerich, einzige Frau in der Kommission ist die japanische Ordensfrau Shizue Hirota. RELIGION • POLITIK ■ Schönborn und FURCHE in der „ORF-Pressestunde“ Am Palmsonntag stellte sich Wiens Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, in der „Pressestunde“ aktuellen Fragen. Von FURCHE-Chefredakteurin Doris Helmberger zu einem „gerechten Frieden“ in der Ukraine befragt, meinte Schönborn, dass das Verteidigungsrecht eines angegriffenen Staates respektiert werden müsse. Er warnte mit Blick auf die ÖVP-FPÖ-Koalition in Niederösterreich vor dem Verlust der Mitte und zeigte Sympathien für die Anliegen der Klima-Aktivist(inn)en. Für seinen letztjährigen Corona-Sager „Lieber Gott, lass Hirn regnen“ entschuldigte sich Schönborn – dass die Kirche die Maßnahmen mitgetragen habe, sei aber richtig gewesen (sieben Tage in der ORF-TVthek nachzusehen).
DIE FURCHE · 14 6. April 2023 Literatur 17 Von Daniel Jurjew Es gibt Dichter, die in ihrem eigenen Sprachraum eine große Bedeutung haben, aber außerhalb dem Namen nach, doch kaum dem Werk nach bekannt sind. So verhält es sich auch mit Velimir Chlebnikov (1885–1922), der bei uns eine noch unbekanntere Größe wäre, hätte nicht Peter Urban (1941–2013) unter Beteiligung vieler Übersetzer eine Werkausgabe Chlebnikovs herausgegeben, die 1972 und 1985 bei Rowohlt erschienen ist; eine Leistung, die aber immer wieder erneuert werden muss, sodass es sehr erfreulich ist, dass Suhrkamp diese Ausgabe mit kleinen, aber wesentlichen Ergänzungen neu aufgelegt hat. Chlebnikovs Werk ist nicht nur sehr heterogen, überbordend, ungewöhnlich und auf den ersten (bis zweiten, dritten, vierten, bis das Auge sich daran gewöhnt hat) Blick überfordernd, sondern stellt die Übersetzer auch vor große Herausforderungen. Was ist an ihm jedoch so besonders? Schon der selbstgewählte Vorname von Velimir (gebürtig: Victor) Chlebnikov weist auf einen charakteristischen Aspekt seines Schaffens hin: die Freilegung älterer oder paralleler Sprachschichten (Velimir ist ein südslawischer Name) und deren Nutzbarmachung für Sprachspiel und Spracharbeit (was letztlich dasselbe ist). Der große Semiotiker Roman Jakobson hat gesagt, Chlebnikov sei „Hellsicht über Verbindung und Bruch der Zeiten in der menschlichen Rede mit ihren unablässigen Verwandlungen des unsinnigen Feldes ins sinnvolle“ gegeben gewesen. Chlebnikovs Achtung vor der Eigengesetzlichkeit der Sprache sorgt dafür, dass die neu gebildeten Wörter in der Regel intuitiv gut zugänglich sind; wenn man ein Wort bei ihm gar nicht versteht, ist es sehr wahrscheinlich, dass man es in einem Wörterbuch, das auch seltene, z. B. nur regional gebräuchliche Wörter enthält, finden wird. Chlebnikov hatte eine Fülle an Ideen, was es unmöglich macht, eine simple Formel für die Lektüre oder die Übersetzung seiner Texte aufzustellen. Er war eine sehr unstete Natur, immer wieder auf Wanderschaft, immer wieder mit neuen Einfällen. Häufig nahm er ein bestimmtes Wort und ließ aus dessen Stamm neue Triebe wachsen. Vladimir Majakovskij, Chlebnikovs Weggefährte im russischen Futurismus, erinnert sich in seinem von großer Verehrung zeugenden Nachruf, dass Chlebnikov einmal „sechs Druckseiten geschrieben“ habe, „nur von der Wurzel ‚lieb-‘ abgeleitet“. Diese hätten nicht gedruckt werden können, „weil in der Provinzsetzerei das ‚l‘ nicht reichte“ – das damalige Druckverfahren mit beweglichen Lettern hatte mit Chlebnikovs Poetik seine liebe Not. Gegen Klassiker der Literatur Chlebnikov war zu vielschichtig, als dass man sein Schaffen einfach unter den Futurismus subsumieren könnte, dessen Vertreter er auch war. Er propagierte zwar mit den Futuristen, die Klassiker „vom Dampfer der Gegenwart zu stürzen“, griff aber auch die Werke von Puschkin und Co. in seinem Schreiben auf – die futuristische Épatage war das eine, die poetische Praxis das andere. „Im Werk von Tolstoj, Puškin und Als Mitbegründer des russischen Futurismus träumte Velimir Chlebnikov (1885‒1922) von einer radikalen poetischen Erneuerung der Sprache. Eine Neuauflage seines Werks gibt tiefe Einblicke in sein dichterisches Schaffen. Der Vorsitzende des Erdballs Dostojevskij trägt das Wort Entwicklung, ehemals Blüte bei Karamzin, bereits fette Sinnfrüchte“, heißt es in einem kurzen Text im zweiten Teil („Prosa Schriften Briefe“) der Werkausgabe. Überhaupt interessierte er sich für alle Kulturen und träumte von einer universellen Sprache, die alle Völker der Erde verbinden würde. Häufig erinnert man sich daran, dass er sich als „Vorsitzender des Erdballs“ bezeichnete, und meistens wird das als bloße Schrulle eines Genies nicht ohne Wahnsinn abgetan; wenige wissen, dass das zu seinem Konzept einer „Weltregierung“ aus vielen „Vorsitzenden des Erdballs“ gehörte, die ein Zeitalter des Friedens einläuten sollten. Dieses existiert leider noch immer nicht, aber Chlebnikovs „Weltregierung“ lässt sich als Vorläufer späterer Bemühungen, etwa der Vereinten Nationen, verstehen. Sein utopisches Denken war gut mit den meist politisch linken russischen Futuristen vereinbar, die die kommunistische Revolution überwiegend begrüßten. Ihre Hoffnungen äußern sich in der linken Kunst der ersten sowjetischen Jahre, auch in Gedichten Chlebnikovs vom Anfang der 1920er Jahre, in denen Russland „Abertausenden“ „die Freiheit geschenkt“ hat. Dass die Revolution von Anfang an ihre Schattenseiten hatte, ist auch an Chlebnikov nicht vorbeigegangen. Im Gedicht „Der Vorsitzende der Tscheka“ erkennt man Alexander Andrijevskij: Mit diesem Vertreter der Tscheka (einer gefürchteten, grausamen politischen Polizei), der später zu einem Filmregisseur wurde und lebenslang ein Bewunderer Chlebnikovs blieb, hat er sich 1919 in Charkiw angefreundet. Dort hatte sich Chlebnikov in einer psychiatrischen Einrichtung vor der Rekrutierung durch die „weißen“ Truppen versteckt. Nachdem die „roten“ Truppen die Kontrolle über Charkiw übernommen hatten, konnte Andrijevskij ihn aus der Einrichtung in die Künstlerkommune bringen, in der auch Andrijevskij selbst untergekommen war. Die Ambivalenz des Titelhelden des Gedichts spiegelt die Ambivalenz jener Jahre wider; hier steckt eine bittere Ironie: statt eines Vorsitzenden des Erdballs eben ein Vorsitzender der Tscheka. Chlebnikov, Foto: imago / Heritage Images (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Sprachjongleur In seinen Texten experimentierte Velimir Chlebnikov (1885‒1922) mit der Sprache, mit Wörtern und Silben. Auch die Idee einer Universalsprache beschäftigte ihn. „ Überhaupt interessierte er sich für alle Kulturen und träumte von einer universellen Sprache, die alle Völker der Erde verbinden würde. “ 1922 gestorben, erlebte – im Unterschied zu vielen Kollegen – die weitere Entwicklung nicht mehr, eine Entwicklung zu einer nicht nur noch menschenfresserischeren und diktatorischeren, sondern auch ästhetisch und sittlich konservativen Epoche: Die Klassiker fanden auf dem „Dampfer der Gegenwart“ keinen Platz, dafür aber deren mit Sowjetideologie vollgestopften Imitate – das Ganze nannte man dann „Sozialistischen Realismus“. Selbst Vladimir Majakovskij, der sich wie kaum ein anderer der ehemaligen Futuristen um Linientreue bemühte, wählte letztlich den Freitod. Denkmal der Übersetzerkunst Die mehr als tausendseitige Ausgabe ist ein Denkmal der Übersetzungskunst und übersetzerischen Kollegialität, aber auch eines der Selbstausbeutung, was Marie Luise Knott in ihrem kundigen und hochinteressanten Text zur Editionsgeschichte zeigt, in dem sie, auch anhand von Urbans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, die einzelnen Etappen ausführlich nachvollzieht. Urban hat herausragende Dichter für das Projekt gewinnen können, darunter Paul Celan, der bei der Entwicklung des Konzepts eine wichtige Rolle spielte: Die Bitte Urbans, ihm im Vorfeld Bescheid zu sagen, welche Gedichte er übersetzen würde, kam Celan zu restriktiv vor, sodass der Herausgeber von ausschließlicher Zuteilung der zu übersetzenden Gedichte absah. Später wehrte Urban sich vehement gegen die verlegerische Idee, eine „beste“ Übersetzung auszusuchen und die anderen zu verwerfen. Zum Glück. So lauten zum Beispiel verschiedene Wiedergaben desselben Ausdrucks im Gedicht, dessen Titel viele mit „Beschwörung durch Lachen“ wiedergegeben haben: „Lacherer“/„lachhälse“ / „Lachlackel“ / „lachenschaftler“; im Band sind auch unkonventionellere Herangehensweisen vertreten, bei diesem Gedicht etwa durch eine Variante von Peter Urban, dessen Titel „Beschwörung durch Schmähen“ lautet, weil „Schmähen“ ähnlich wie russisch „smech“ („Lachen“) klingt. Chlebnikov, der zu den Futuristen gezählt wird, wurde auch von so gut wie allen anderen Kollegen sehr geschätzt, darunter Ossip Mandelstamm, einem großen Dichter mit ganz anderem ästhetischem Programm, der seine Bewunderung für Chlebnikov so ausdrückte: „So hätte sich eine Sprache, die ein Gerechter ist, die von der Geschichte nicht durch Unheil oder Brutalität beschwert oder befleckt worden ist, entwickeln können und sollen.“ Der Autor lebt als Übersetzer in Frankfurt am Main. Werke Von Velimir Chlebnikov Herausgegeben von Peter Urban Mit einem Nachwort von Marie Luise Knott und zahlreichen Abbildungen Suhrkamp 2022 1168 S., geb., € 70,–
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