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DIE FURCHE 06.04.2023

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DIE FURCHE · 14 12 Gesellschaft 6. April 2023 Von Martin Schenk Von der Sozialhilfe ist mittlerweile nur mehr eine eingestürzte Ruine über. Das Oberste Gericht hat zum wiederholten Male Bestimmungen des Sozialhilfegesetzes als verfassungswidrig erkannt. Die Trümmer des Gesetzes liegen jetzt herum, viele davon drohen Menschen im Umkreis auf den Kopf zu fallen. In der Teuerung hat man von vielen Seiten – vom Wirtschaftsforschungsinstitut bis zum Fiskalrat – gehört, dass den Ärmeren jedenfalls unter die Arme gegriffen werden soll. Wer davon spricht, Ärmeren zu helfen, darf zur schlechten Sozialhilfe aber nicht schweigen. Zu besonders drastischen Kürzungen kommt es im Sozialhilfegesetz bei Menschen mit Behinderungen, deren Unterhaltsforderungen jetzt österreichweit als Einkommen gewertet werden. Kinder sind von Kürzungen gravierend betroffen und vielfach in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten. Mindeststandards gibt es keine mehr, das Ziel der Armutsbekämpfung ist aus den Zielen des Gesetzes gestrichen worden. Der verfehlte Zweck Menschen mit Behinderungen, die nicht „selbsterhaltungsfähig“ sind, verwehrt das Gesetz in Niederösterreich die Sozialhilfe. Das geschieht auch dann, wenn ein Elternteil Alleinerhalter ist und selbst nur über sehr niedrige Einkünfte verfügt, dem Kind somit kaum Unterstützung zukommen lassen kann. Ein Beispiel: Die volljährige Tochter mit Behinderung lebt mit ihrer Mutter zusammen. Die Tochter besucht untertags eine Behinderteneinrichtung des Landes und ist nicht „arbeits“- und auch nicht „selbsterhaltungsfähig“. Das Einkommen der Mutter ist gering. Sie gilt in Niederösterreich nicht als alleinerziehend, obwohl sie sich alleine um die Tochter kümmert und bei dieser wohnt. Nach all den Abzügen verbleibt für die Familie nichts mehr. In derartigen Situationen einer jungen Frau mit Behinderungen zu unterstellen, sie hätte keinerlei Wohnkosten, und ihr deshalb die Unterstützung zu verwehren, ist zynisch. So geschieht es aber hierzulande. In Zeiten großer Krisen. Und niemand schaut hin. Am Limit Mindeststandards zur Armutsbekämpfung gibt es nicht mehr, sagt Martin Schenk. So werden auch die Leistungen für Wohnen von den Behörden einbehalten. Lesen Sie dazu auch das Interview von Christopher Erben unter dem Titel „Der Steuerzahler zahlt drauf“ (19.6.19), auf furche.at. Der als verfassungswidrig eingestuften Sozialhilfe muss ein solides Gesetz folgen, das Armutsbetroffenen Teilhabe sichert. Alles andere sei fatal, kommentiert Martin Schenk. Trümmerhaufen Sozialhilfe „ Auf ,die Flüchtlinge‘ zeigen die Regierenden, die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist wie bei Trickdieben. Es braucht immer einen, der ablenkt. “ Der Fall zeigt wie viele andere: Die „Sozialhilfe“ verfehlt ihren Zweck, nämlich die Existenzsicherung von Menschen in finanziell prekären Lebenslagen zu gewährleisten. Bei sachlich richtiger Qualifizierung der Mutter als Alleinerhalterin wäre Hilfe möglich. Die Mutter hat zudem einen Kostenbeitrag für die Werkstätte und die Behinderteneinrichtung zu entrichten. Beide Ausgaben werden von der Behörde zur Gänze unberücksichtigt gelassen. Dabei geht es bei der Sozialhilfe mit 900 Millionen Euro um 0,4 Prozent des Staatsbudgets für die ärmsten 2,7 Prozent der Bevölkerung. Das ist sehr wenig im Verhältnis zu anderen Ausgaben der Republik. Die schlechte Sozialhilfe hat so viele Gräben aufgerissen. Es trennen Menschen bereits Schluchten von der notwendigen Hilfe. Wie konnte es so weit kommen? Auf „die Flüchtlinge“ zeigen die Regierenden, die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist wie bei Trickdieben: Es braucht immer einen, der ablenkt, damit dir der andere die Geldbörse aus der Tasche ziehen kann. Die „Ausländer“ werden ins Spiel gebracht, weil sie sonst die Kürzungen nicht durchsetzen könnten. Keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderungen, keinem Niedriglohnbezieher geht es jetzt besser. Im Gegenteil. Zurück zum Verfassungsgerichtshof. Die flexible Auszahlung von Geld- wie Sachleistungen ist hilfreich. In bestimmten Fällen kann die direkte Überweisung der Miete sinnvoll sein, zum Beispiel bei einer Suchterkrankung oder einer psychischen Krise – aber als zu begründende Ausnahme, wie es in der Mindestsicherung früher auch möglich war. Pauschal angeordnete Sachleistungen hingegen bedeuten weniger Selbstständigkeit und können zu Stigmatisierung führen. In der schlechten Sozialhilfe weiß Foto: iStock/Jitalia17 der Vermieter oder der Stromlieferant genau Bescheid, dass da einer Sozialhilfe hat. Aus der Praxis wissen wir, dass das eher zu Ungunsten der Betroffenen ausgeht. Diesen Zwang hat der Verfassungsgerichtshof jetzt aufgehoben. Das Sozialhilfegesetz ist auch gerade deswegen so problematisch, weil es sozialstaatliche Leistungen in „almosenhafte“, bevormundende Fürsorge überführt hat. Eine paternalistische Fürsorgeleistung ist immer stärker mit Beschämung und Abwertung verbunden. Wohlfahrtspolitik statt Almosen Die Habsburgermonarchie setzte mit dem Heimatgesetz von 1863 den rechtlichen Rahmen für ihre Armenversorgung. Zuständig war die Gemeinde, in der man geboren oder als Frau verheiratet war. Die Bedingungen, die aus strikter Anbindung an die Heimatgemeinde, Arbeitspflicht, Kontrolle, Entzug des Wahlrechts, Disziplinierung und dem Fehlen von Rechtsansprüchen bestanden, wurden mit dem Vagabundengesetz in den 1880er-Jahren sogar noch verschärft. Das waren Regelungen, die im Industriezeitalter und bei der mobilen Suche nach Arbeit immer weniger die existenziellen Nöte der verarmten Bevölkerung abdecken konnten. Der Aufbau der ersten Sozialversicherungssysteme Ende des 19. Jahrhunderts setzte den Beginn hin zu einer aktiven Wohlfahrtspolitik, während gleichzeitig das „Armenwesen“ in seinem rechtlosen Almosencharakter verblieb. Diese „Dualisierung sozialer Sicherheit“ spaltete sich auf in eine disziplinierende Armutspolitik und eine mit Rechtsanspruch begründete Sozialpolitik. Hier die Sicherung jener Lebensrisiken, die über Erwerbsarbeit mit Rechtsanspruch und Sozialversicherung abgefedert werden, dort die Absicherung übriger Risiken in lediglich rudimentärer und abweisender Form. Diese Grundprinzipien und Haltungen beeinflussen bis heute die Ausgestaltung des untersten Netzes im Sozialstaat. Die Sozialhilfe ist mittlerweile eine Ruine. Wir müssen ein neues sicheres Gebäude bauen, das Existenz, Chancen und Teilhabe sichert. Das sollte gerade in Krisenzeiten halten. Sonst fliegen uns die Trümmer um die Ohren. Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Armutskonferenz. Soziologin Stadler: „Die Unternehmenskultur muss sich ändern” Rund die Hälfte der Frauen in Österreich arbeitet Teilzeit. Aber liegt das wirklich vorrangig an der Kinderbetreuung? Und welche Rolle spielt das Geld, im Vergleich zu festgefahrenen Rollenmustern? Die Soziologin Bettina Stadler spricht mit FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic über die 4-Tage-Woche, Väterkarenz und Mitbestimmung im Beruf. DER CHANCEN PODCAST furche.at/chancen

DIE FURCHE · 14 6. April 2023 Bildung 13 Das Bildungsministerium versucht mit der Kampagne „Klasse Job“, dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken. Doch viele Studierende und Lehrkräfte im aktiven Dienst beklagen Symbolpolitik. Die Sorge vor kurzsichtigen Entscheidungen ist groß. Eine Bestandsaufnahme. Traumjob oder täglicher Albtraum? Von Victoria Schwendenwein Spricht man Lehrerinnen und Lehrer auf die „Ressortstrategie ,Klasse Job‘“ an, kochen schnell die Emotionen hoch. Fehlende Wertschätzung, unfaire Behandlung, Verhöhnung der Dienstnehmer(innen), Symbolpolitik – die Vorwürfe wiegen schwer. Viele fühlen sich vom Bildungsministerium im Stich gelassen. Die Wut richtet sich derzeit vor allem gegen die zweite Phase der 600.000 Euro teuren Kampagne „Klasse Job“, die seit Oktober des Vorjahres läuft. Jüngste Zuspitzung des kollektiven Unmuts war Martin Polascheks Brief an Maturant(inn)en: „Jene, die sich noch nicht festgelegt haben, darf ich ermutigen: Werden Sie Lehrer/in!“. Und das Schreiben an Pädagog(inn)en mit der Aufforderung, selbst zur „positiven Erzählung des Lehrberufes“ beizutragen. Zeitreise Seit Jahrzehnten werden Maßnahmen für ein besseres Schulumfeld gefordert. Politische Maßnahmen griffen oft nicht. Die Opposition mischt mit Das sorgt nicht zuletzt bei der Initiative „Schule brennt“ von der Plattform für Lehrer(innen)proteste für Kopfschütteln. 600.000 Euro seien verglichen mit anderen Maßnahmen der Regierung wenig Geld. „Wieso nimmt man Geld in die Hand, um ein Bild zu ändern, ohne an den Problemen etwas zu ändern?“, fragt die Gruppe. Ihr Ziel ist, auf die Missstände im Schulsystem aufmerksam zu machen und für ein besseres Arbeitsumfeld zu kämpfen. Dazu gehören für sie administratives Zusatzpersonal, kleinere Lerngruppen, multiprofessionelle Teams, vor allem aber auch Wertschätzung, erklären die vier Initiator(inn)en, die aus Sorge vor Repressalien vorerst anonym bleiben wollen. Wichtiger als ihre Namen (der Redaktion sind sie bekannt) sei die Botschaft, die sie vermitteln wollen. Sie betonen, gerne zu unterrichten. Es gehe nicht darum, den Beruf schlecht zu machen, aber man müsse ansprechen können, wie die Realität im Lehrberuf aussehe. Scharfe Kritik am Bildungsminister kommt auch von den NEOS. Nach einer Reise in Schulen nach Finnland und Estland zeigen sich Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger überzeugt: „Das ideale Schulsystem muss man nicht erfinden, es existiert bereits. Man sollte es sich zum Beispiel nehmen.“ Sie fordern unter anderem eine deutliche Entlastung in der Verwaltung, echte Schulautonomie, sodass Direktor(inn)en ihre Lehrkräfte selbst aussuchen können – und individuell an die Schule angepasste Unterrichtszeiten. Forderungen, die per se nicht neu sind: Sie haben Ähnlichkeit mit den Vorschlägen der „Zukunftskommission“, die vor 20 Jahren unter Elisabeth Gehrer (ÖVP) einberufen wurde. Damals als „mutig“ eingestuft, ist 20 Jahre später tatsächlich wenig von der vorgeschlagenen personellen Autonomie oder einem mittleren Management zu sehen. Stattdessen, so die Kritik, müssen Lehrkräfte organisatorische Zusatzaufgaben übernehmen. Sie verfassen Blackout-Konzepte oder werden einzige Anlaufstelle für psychische Probleme der Schüler(innen). So gäbe es kaum noch Zeit, Unterrichtsinhalte zu vermitteln, erzählen die Initiator(inn)en von „Schule brennt“. Das Bildungsministerium will das so nicht stehen lassen. Die im Finanzausgleich verankerte Aufstockung bringe an Pflichtschulen 700 administrative Kräfte. Im Bundesschulbereich gäbe es bereits überall administratives Personal. Und pädagogisches Unterstützungspersonal werde von 120 auf 240 Personen aufgestockt. Viele sorgen sich vor kurzsichtigen Aktionen, die sich lange rächen. Die politischen Diskussionen verliefen immer wieder in Wellenbewegungen. So riet Elisabeth Gehrer 2001 Maturant(inn)en mangels freier Stellen davon ab, den Lehrberuf zu ergreifen. Die Botschaft hat sich hartnäckig gehalten. „Trotz Lehrkräftemangels sagt man uns oft, unsere Fächer seien nicht gefragt“, erzählt ein Geschichte- und Englisch-Lehramtsstudent aus Salzburg. Ähnlich paradox ist es im Pflichtschulbereich: 2016 sprach die damalige SPÖ-Ministerin Sonja Hammerschmied von einem Illustration: Rainer Messerklinger Lesen Sie zu den Hürden vor 20 Jahren „Schulweg ins Ungewisse“ (11.12.2003) von Doris Helmberger auf furche.at. „ Nur wenn aktive Lehrkräfte im Beruf gehalten werden, ohne dass die Gesundheit darunter leidet, kann der Beruf auch für Berufseinsteiger(innen) wieder attraktiv werden. “ „Überangebot an ausgebildeten Lehrkräften“ in Volksschulen. Heute geht man davon aus, dass jährlich 5500 Lehrer(innen)stellen durch Pension, Umzüge oder Karenzen frei werden. Politisch will Minister Polaschek nun dafür Sorge tragen, „dass immer ausreichend qualifizierte und motivierte Lehrkräfte im Schulsystem sind“, erklärt ein Sprecher. In den nächsten fünf Jahren werden mehr als 20.000 Lehrkräfte pensioniert. Betrachtet man die derzeit vorgesehene Mindeststudienzeit für das Lehramt – vier Jahre Bachelor, zwei Jahre Master –, so ist der verbleibende Handlungsspielraum klein. Daran ändert auch die vom Ministerium angekündigte Verkürzung des Bachelorstudiums auf drei Jahre wenig. Viele Studierende fühlen sich zudem benachteiligt, weil es durch die Kampagne Quereinsteiger(innen) leichter gemacht werde, an Schulen Fuß zu fassen als ihnen selbst. 1500 Bewerber(innen) haben sich bisher auf die Kampagne für den Quereinstieg beworben. Im Bildungsministerium werden sie als „kleiner Beitrag zur Lösung“ betrachtet – und als Beweis für die gesellschaftliche Wertschätzung des Berufs. Eine Frage der Gesundheit Im Alltag spüren Lehrkräfte das nicht. Pflichtschulgewerkschafter Paul Kimberger sieht in der Kampagne noch „Luft nach oben“. Übersehen werde, dass viele Lehrkräfte weit über der Belastbarkeitsgrenze arbeiten. Dass es Schulsysteme im Ausland gibt, an denen man sich orientieren könne, wisse man seit Jahrzehnten. Dass Österreich hinterherhinkt, ebenfalls. Für Verbesserungen im eigenen System zu kämpfen, sei daher seine tägliche Arbeit. „Schule brennt“ fordert die Gewerkschaft mit Verweis auf die bevorstehenden Gewerkschaftswahlen auf zu streiken. „Das ist das letzte Mittel“, erklärt Christgewerkschafter Kimberger, der derzeit nichts von Streik hält. Einig sind sich beide Seiten: Nur wenn aktive Lehrkräfte im Beruf gehalten werden, ohne dass ihre Gesundheit darunter leidet, kann der Beruf auch für Berufseinsteiger(innen) wieder attraktiv werden. Bislang lasse die Politik den Blick darauf vermissen. „Ich habe heute meinen Traumjob, von dem ich nie geträumt habe“, erklärt ein blonder Mann in einem Werbevideo für „Klasse Job“. Ein Traum, der für viele vorerst noch Fiktion ist. KREUZ UND QUER KIRCHENGESCHICHTE IN ROT-WEISS-ROT DI 11. APRIL 22:35 Nach Auflösung des Bündnisses von „Thron und Altar“ durch den Zerfall der Habsburgermonarchie musste sich die katholische Kirche in der Ersten Republik neu orientieren. Christian Rathner beleuchtet in seiner Dokumentation die Wege und Irrwege der Kirche in dieser Zeit des Umbruchs, im Austrofaschismus und bis zur Nazi-Diktatur: Ein leidvoller Erfahrungsweg, der die österreichischen Bischöfe zur Einsicht führte, dass nur die volle Bejahung der Demokratie und „eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ zukunftstauglich sind. religion.ORF.at Furche23_KW14.indd 1 29.03.23 14:21

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