DIE FURCHE · 14 10 Religion 6. April 2023 Von Henning Klingen Wer hätte gedacht, dass der österreichische Philosoph Günther Anders gut 30 Jahre nach seinem Tod und rund 65 Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes „Die Antiquiertheit des Menschen“ zu so etwas wie einem Philosophen der Stunde werden würde? Lange Zeit galt Anders’ Technikphilosophie als verstaubt, als apokalyptischer Reiter zwischen Welt- und Kaltem Krieg. Sein philosophisches Nachdenken über und seine politischen Warnungen vor „der Bombe“ – mündend in die These von der „Apokalypse-Blindheit“ der Menschheit – wirkten spätestens seit 1989 aus der Welt und aus der Zeit gefallen. Plötzlich aber hat sich der Horizont wieder verdunkelt. Gleich zwei Gewitterfronten haben sich vor den offenen Himmel geschoben und drücken aufs planetare Gemüt: der Ukrainekrieg mit der Unwägbarkeit einer drohenden atomaren Eskalation, ja, Vernichtung – und das ungebremste Fortschreiten des Menschen in die Klimakatastrophe. Die Vokabularien, mit denen diese Großkrisen beschrieben werden, wurzeln in biblisch imprägnierten, gleichwohl längst hollywoodesk überzeichneten Endzeit- und Weltuntergangsvorstellungen: Das Ende ist nah und nur noch 90 Sekunden entfernt, wie das Bulletin of the Atomic Scientists es im Jänner auf seiner „Weltuntergangsuhr“ symbolisch inszenierte. Selbst die NASA kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die Welt in jene – „Großer Filter“ genannte – Phase der Selbstzerstörung eintritt, die jeder technischen Zivilisation inhärent sei. 200 bis 250 Jahre bleiben uns demnach noch. Es lebt sich gut in der Apokalypse Man kann diese überhitzten Metaphern abtun und einer medialen Aufmerksamkeits- und Zuspitzungslogik zuschreiben. Es wird schon alles irgendwie gut gehen. In der Apokalypse lebt es sich doch eh ganz gut. Die Spritpreise sinken, die Urlaubsflieger sind voll. Die Endzeit kann warten. Das sehen nicht nur die Mitglieder der „Letzten Unter „Nomade der Endzeit“ hat Raimund Bahr am 27.6.2002 Günther Anders zu dessen 100. Geburtstag gewürdigt – siehe furche.at. Generation“ anders. Vielen dämmert, was Walter Benjamin meisterhaft ins Wort gebracht hat: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ Und mit Günther Anders lässt sich ahnen, dass die Verwüstungen des Fortschritts noch nicht an ihren Höhepunkt geraten sind, dass unser Fühlen weiterhin unserem Tun nachhumpelt: „Zerbomben können wir zwar Hunderttausende; sie aber beweinen oder bereuen nicht.“ Die Unfähigkeit zur Umkehr hängt für Anders unmittelbar mit der Unfähigkeit zu trauern, ja zu fühlen zusammen. Beides – die atomare Gefahr ebenso wie die Klimakatastrophe – führt den Menschen an den eigenen Abgrund. Ein Abgrund, vor dem es ihn nicht etwa schaudert, sondern auf den er apathisch zusteuert und auf dem „ Wer das wirkliche Ende in Gottes Hand legt und dort belässt, der wird frei, den sich davor aufspannenden Zeitraum zu füllen und zu gestalten. “ Vom Ende her Die „Weltuntergangsuhr“ des Bulletin of the Atomic Scientists zeigte im Jänner dieses Jahres nur noch 90 verbleibende Sekunden. Sprachgewaltig wird angesichts von Ukrainekrieg und ungebremster Klimakatastrophe das Ende der Welt herbeigeschrieben. Dabei blüht die theologische Diktion – und sie bleibt zugleich seltsam stumm. Ein Essay. Das Schweigen im Endzeit- Geplapper er begleitet wird von einem ganzen Arsenal biblischer, ja, theologischer Begriffe und Drohkulissen: Apokalypse. Weltuntergang. Ende der Zeit. Radikale Kehrtwende als Utopie, als Andersort säkularer Erlösung. Und atomare Vernichtung als säkular geronnener Tun-Ergehen-Zusammenhang – als zwingende Folge menschlicher Hybris. Gleichwohl bleibt dies alarmistischer Flügelschlag und meint keinesfalls eine Renaissance der Eschatologie, keine Rückbesinnung auf das, was die Theologie zu den Letzten Dingen zu sagen hatte und hat. So zeigt sich etwa der Münchner Soziologe Armin Nassehi von der „Unbedingtheit“ irritiert, mit der die „Letzte Generation“ geradezu religiöse Momente heraufbeschwört, wenn sie die Welt „mitten im Entscheidungsmoment einer Unheilsgeschichte“ wähnt. „Im Neuen Testament wird mit dem Begriff der ‚Parusie‘ die endzeitliche Wiederkehr Christi bezeichnet, die sich bekanntlich verzögert hat. Die ‚Letzte Generation‘ hat ihn umgekehrt.“ – Wir legen Gott das Weltende quasi höchstpersönlich zu Füßen. Es blubbert aus jedem Acht- Foto: APA/AFP/Hastings Group Media/Handout zylinder, es kündigt sich an in jedem neuen Kondensstreifen am Himmel. Damit aber scheitert die „Letzte Generation“. Denn religiöser Eifer verträgt sich nicht mit modernen Demokratien (vgl. Seite 15). Am Ende steht daher eine Ernüchterung: In der ganzen endzeitlichen Gestimmtheit der Gegenwart, in ihrer Sehnsucht nach Sprachformen, die dem Unausdenklichen gerecht werden, die tastend aussagen, was uns erwartet, wenn uns nichts mehr erwartet – in dieser Situation fehlt die Stimme der Theologie. Nicht, um das Ende in noch bunteren, noch dramatischeren Farben auszumalen. Auch nicht, um mit billigem Trost oder der donnernd auf den Tisch schlagenden göttlichen Faust aufzuwarten, sondern – ganz im Gegenteil – um den Handlungsspielraum offen und Umkehr möglich zu halten: Wer das wirkliche Ende in Gottes Hand legt und dort belässt, der wird frei, den sich davor aufspannenden Zeitraum zu füllen und zu gestalten. Apokalyptik meint in dem Sinne ein Aufzeigen dessen, was ist – und kein voreiliges Einstimmen in den Untergang. Die Theologie bewegt sich dabei gleichwohl auf einer Grenze – denn sie operiert stets aus der Überzeugung, dass Welt ist, dass sie weiterhin besteht und nicht aus sich heraus oder durch den Menschen dem Nicht-Sein, der Vernichtung anheimfällt. Dies könnte zugleich der Grund sein, warum sie sich im Blick auf die aktuellen Debatten zurückhält oder – böse gesagt – in Sprachlosigkeit verharrt. Neue Rede von den Letzten Dingen Diese theologische Sprachlosigkeit ist nicht neu. Theodor W. Adorno hat sie im Angesicht der Verzweiflung, die der Konfrontation mit der Katastrophe von Auschwitz entspringt, aufgezeigt und eine „Rettung theologischer Motive im Profanen“ empfohlen. Mit „Rettung“ ist vielleicht gar ein Stichwort gegeben, dem heute eine erneuerte theologische Rede von den Letzten Dingen angesichts der multiplen Drohkulissen folgen könnte. Adorno hat es vorgemacht – im letzten Text seiner Aphorismen-Sammlung „Minima Moralia“, der bezeichnenderweise „Zum Ende“ heißt: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“ Perspektiven müssten hergestellt werden, so Adorno weiter, „in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“ Es sei dies einfach und schwer zu gleich: Einfach, weil die Situation dramatisch ist; schwer, ja, unmöglich, weil dies „einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins (...) entrückt ist“ – der Standort Gottes gewissermaßen. Die Unmöglichkeit dieses letztlich theologischen Blickes ist zugleich bei Adorno der notwendige Funke, den es braucht, um das Ruder am Ende doch noch herumzureißen. Gegenüber dieser Chance sei die „Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung“ selber fast gleichgültig. Fast. Christen nennen diese Wirklichkeit Ostern. Und als wache Zeitgenossen wissen sie: Wer Erlösung sagt, darf auch vom Ende nicht schweigen. Der Autor ist Theologe, Redakteur von „Kathpress“ und Chefredakteur der Zeitschrift „miteinander“.
DIE FURCHE · 14 6. April 2023 Religion 11 Religiöse Jugendliche sehen sich selbst in einer Minderheitensituation. Die Art, wie sie Religion leben, ist für sie aber selbstverständlich geprägt von Diversität und verschwimmenden Grenzen zwischen analoger und digitaler Welt. Das zeigt das Forschungsprojekt „YouBeOn“. Ausbruch aus den engen Grenzen Von Victoria Schwendenwein Die Innere Stadt in Wien und Dushanbe in Tadschikistan haben eine Gemeinsamkeit; ebenso wie das Cricketfeld in der Wiener Markomannestraße und der Instagram-Account der „Zeit im Bild“. Es sind Orte in der realen und der digitalen Welt, verbunden durch das Bindeglied der Religion – oder besser: die Art, wie junge gläubige Menschen, ausgehend von Wien, ihre Religion in einer pluralistisch geprägten Welt leben. Sie sind in superdiversen Lebensrealitäten aufgewachsen, definieren sich nicht mehr über Grenzen und navigieren selbstverständlich zwischen digitalem und analogem Raum. Veranschaulicht wird dieses Phänomen seit Jahresbeginn durch die digitale und interaktive Karte „YouBeOn“ (Young Believers Online) unter app.youbeon.eu. 509 Orte in Wien und der Welt, 625 Instagram-Accounts sowie die Ideen und Wertehaltungen, die Jugendliche damit in Verbindung bringen, sind darauf verknüpft und grafisch dargestellt. Verknüpft mit der ganzen Welt Die Karte ist Ergebnis eines zweijährigen Forschungsprojektes des Instituts für Stadt- und Regionalforschung sowie der Akademie der Wissenschaften und zeigt, wie unaufgeregt Vielfalt in einer Weltstadt gelebt werden kann. Profitieren sollen davon vor allem Bildungseinrichtungen, die über die Karte interaktiv arbeiten können. Religions- und Politikwissenschafterin Astrid Mattes, Religionswissenschafterin Katharina Limacher und Politikwissenschafter Christoph Novak haben ausgehend vom wissenschaftlichen Konzept des „Belonging“ (Zugehörigkeit) 41 Jugendliche aus sieben verschiedenen Religionsgemeinschaften interviewt. Sie fragten die Teilnehmenden problemorientiert nach dem Umgang mit ihrer Religiosität sowie nach wichtigen Orten in Wien und der Welt; und sie ließen sich die Instagram- Accounts der 16- bis 25-Jährigen zeigen. Was dabei zum Vorschein kam, war so überraschend wie einleuchtend. Die Wertehaltungen der Jugendlichen, die Orte, welche für ihre Identifikation wichtig sind, und das Konsumverhalten in den sozialen Netzwerken überschneidet sich. Eine wesentliche Erkenntnis dabei, so 509 Orte Wien ist eine bunte und vielfältige Weltstadt. In dieser pluralistischen Realität bewegen sich die 41 befragten Jugendlichen, deren Lebenswelten sich überschneiden, wie die „YouBeOn“-Map unter app.youbeon.eu zeigt. Astrid Mattes: „Konfessionelle Grenzen, wie sie offline im Religionsunterricht und in Glaubensgemeinschaften ganz stark gezogen werden, verschwimmen online zusehends.“ Zu tun hat das damit, dass Jugendliche mit dem Smartphone dauerhaft über die ganze Welt verfügen, einschließlich ihrer anderswo erlebten Glaubenserfahrungen. Die Moschee, die während des Auslandssemester besucht wurde, die Kirche im Heimatort der Großeltern oder Online-Gebetsgruppen führen zu vielen Kontakten – und dazu, dass Religion zwar innerhalb einer Glaubenstradition verfolgt wird, konfessionelle Unterschiede aber zweitrangig werden. Mattes und ihr Team nennen das translocal feeds of faith, also Glaubensinhalte, die Grenzen überwinden. Ein Phänomen, dem das Forschungsteam in Zukunft wachsende Bedeutung zuschreibt. Religion ist für die befragten Jugendlichen damit zwar ein wesentlicher Teil ihres Lebens, über den sie auch ihre Zugehörigkeit definieren, Screenshot: app.youbeon.eu © acdh-ch 2023 Lesen Sie unter „Die Scheu vor Vielfalt zu Fall bringen“ (11.2.21) auf furche.at mehr zu den Anfängen des Projekts „YouBeOn“. „ Die Religion der jungen Menschen spiegelt sich zwar in ihrem Instagram- Account wider, sie entwickelt sich davon ausgehend aber auch weiter. “ gleichzeitig aber auch etwas, das sie stetig adaptieren. An diesem Punkt kommt für Mattes eine zweite, für sie überraschende Erkenntnis ins Spiel: „Jugendliche aller Religionsgruppen sehen sich in einer Minderheitensituation.“ Unterschieden wird dabei allerdings, wer als Mehrheit verstanden wird. Während sich etwa katholische Jugendliche als Minderheit in einer säkularen Gesellschaft wahrnehmen, sei für nicht-christliche Gruppen das katholische Österreich das Gegenüber. Zusätzlich gibt es die Gruppen, die sich außerdem mit Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit oder anderen Anfeindungen konfrontiert sehen. Als Folge suchen sie entweder verstärkt den Kontakt zu religiös Gleichgesinnten oder öffnen sich mehr gegenüber andersgläubigen oder nicht religiösen Personen. Dadurch kommt zum Ausdruck, wie stark Sozialstrukturen, die nicht als religionsfreundlich wahrgenommen werden, das religiöse Leben der Jugendlichen prägen, sagt das Forschungsteam. Das bedeutet: Die Religion der jungen Menschen spiegelt sich zwar in ihrem Instagram-Account wider, sie entwickelt sich davon ausgehend aber auch weiter. Gleichzeitig bilden die konsumierten Inhalte nicht ausschließlich das jeweilige ethisch-religiöse Weltbild ab, sondern verschiedenste Interessen. Das Forschungsteam nennt die Beispiele einer schiitischen Modebloggerin, einer christlichen Rockband, einer inspirierenden Zitate-Seite oder eines bekannten Nachrichtenkanals. Gespür und Stil sind sowohl für die Produzierenden als auch für die Konsumierenden wichtiger als eine genaue Verortung innerhalb einer Religionstradition. Religiosität im stetigen Wandel Religiöse Autoritäten und offizielle Accounts von Glaubensgemeinschaften werden dagegen als unauthentisch, langweilig und irrelevant beschrieben und von den Interviewten auch wenig verfolgt. Sie setzen sich sehr kritisch mit ihrer eigenen Religion auseinander, zweifeln daran und wollen etwas verändern. Das verdeutlicht die „YouBeOn“-Map auch in ausgewählten Zitaten, welche die verknüpften Orte, Accounts und Ideen ergänzen. „Es gibt immer Phasen, in denen ich versuche, aktiv etwas dazuzulernen, nicht zu glauben, dass alles so ist, wie es mir gesagt wurde und deshalb so bleiben muss“, wird ein 21jähriger Sikh zitiert. Allgemein wurde festgestellt, dass die Praktiken aus den Elternhäusern, Gemeinschaften oder aus dem Religionsunterricht oft nicht mit den Lebensrealitäten der Befragten zusammenpassen. Die Art, wie Religion gelebt wird, verändert sich im Laufe ihres Lebens. Allein schon deshalb sei das Glaubensleben online wie offline einer stetigen Adaption unterworfen. Daraus entsteht eine gelebte religiöse und kulturelle Diversität, die zur Realität der befragten Jugendlichen geworden ist. Und Orte wie die mexikanische Sierra oder das indische Punjab, der Account der „bbcnews“ oder der „wieneralltagspoeten“ gehören so untrennbar wie selbstverständlich dazu. STABILITÄT & SICHERHEIT Gemeinsam jeden Tag für Fairness
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