Aufrufe
vor 4 Monaten

DIE FURCHE 06.03.2025

DIE FURCHE · 108

DIE FURCHE · 108 Politik/Philosophie6. März 2025Lesen Sie auch:„Identitäre Wende:Wie Identitätspolitikentstand “von Khaled Hakami und Ilja Steffelbauer(15.9.21) auf furche.at.Von Georg CavallarMai 2020. Der AfroamerikanerGeorge Floyd stirbtdurch Polizeigewalt,es folgen Protesteund Demonstrationen derBlack-Lives-Matter-Bewegung.Der weiße Mathematiker DavidShor zitiert auf Twitter eine Studiedes afroamerikanischen PolitikwissenschaftersOmar Wasow,der argumentiert hatte, dass gewaltsameProteste in der VergangenheitWählerinnen und Wählerin die Arme der Republikaner getriebenhätten. Tatsächlich gab esim Umfeld der Black-Lives-Matter-Proteste19 Tote zu beklagen,Fälle von Plünderungen, Vandalismusund Brandstiftungen miteinem Schaden von über einerMilliarde Dollar. Das Tweet Shorswurde als indirekte Kritik an derBewegung interpretiert, sein Arbeitgeberunter Druck gesetzt,Shor – ein Demokrat und Kritikerder Republikaner – schließlichentlassen.Geschichtenneu entdeckenDer FURCHE-Navigator:Lassen Sie sich von bedeutendenStimmen inspirieren und erkundenSie die Geschichten hinter denSchlagzeilen – von 1945 bis heute.Jetztgratistesten!Hier bestellen:furche.at/abo/gratis+43 1 512 52 61 -52aboservice@furche.atHeutige Moraldiskussionen dienen oft mehrder Selbstdarstellung als der Gerechtigkeit,meint Philosoph Philipp Hübl und lädt zurSelbstkritik ein. Zu Recht?Schau, wiegut ich bin!„ Akademiker haltensich für weltoffen undtolerant, neigen aberlaut Studien gleich starkwie andere dazu, Faktenzu leugnen und dieWirklichkeit ideologischzu verzerren. “den dann aus dem Kontext gerissenund böswillig interpretiert.Moralapostel und Tugendwächterinnenahnden geringste Vergehenauf intolerante und dogmatischeArt und Weise, wie wennes um Verbrechen ginge. Es gebemassive „soziale Strafen“, öffentlicheStigmatisierung und fallweiseeinen Jobverlust.Zu den Folgen des Moralspektakelsgehören laut Hübl Scheindebatten,Populismus und eine emotionalePolarisierung, wo immerweniger Platz für Kompromissbereitschaft,die echten Problemeund ein differenziertes Urteilenbleibe. Die Aktivistinnen und Aktivistenbieten wenige oder keinesachlichen Argumente, sondernsetzen „gespielte Empörung undKonformitätsdruck“ ein, um ihrepolitische Agenda gegen eine oftindifferente oder andersdenkendeMehrheit durchzusetzen.Die Arbeit von Philipp Hübl hatmehrere Stärken. Es handelt sichum ein Buch in der Tradition desHumanismus und der Aufklärung,mit Bekenntnissen zu denMenschenrechten, dem moralischenUniversalismus und einerVernunftmoral. Hübls Argumentationist meistens differenziert.So unterscheidet er etwa zwischeneinem natürlichen MoralinstinktIllustration: iStock/ilbuscaDer deutsche Philosoph PhilippHübl führt dieses und ähnlicheBeispiele an, um zu zeigen, dasswir in Zeiten der „Moralspektakel“leben. Ein Moralspektakel liegedann vor, wenn es in einer digitalenÖffentlichkeit „in der moralischenAuseinandersetzung nichtum die Sache, sondern vorrangigum Selbstdarstellungen geht“. Essollen nicht mehr echte Missständebeseitigt oder ein Mehr an Gerechtigkeitverwirklicht werden,sondern es gehe um „Symbole fürStatus und Gruppenzugehörigkeit“oder um „Waffen, um Machtund Einfluss auszuüben“.Ein Aspekt des Moralspektakelssei eine Einschüchterungskultur,die meistens als Cancel-Culture bezeichnet wird. Äußerungen,die vielleicht sogar Jahrezurückliegen und weit unter derStrafbarkeitsgrenze liegen, werunduniversellen und selbstreflexivenmoralischen Prinzipien. Erbestreitet nicht, dass es echte Fällevon Diskriminierung gegebenhat und gibt, betont aber, dass etwadie Theorie der Intersektionalitätwissenschaftlich nicht ausreichendbegründet sei oder dieWirklichkeit halbwegs adäquaterfasse. Auch hier findet laut Hüblein Statuskampf statt.Unangenehme WahrheitenErfreulich ist weiters, dass Hüblzahlreiche wissenschaftliche Studienanführt, um seine Thesen zubelegen. Schließlich ist das Bucheine „Einladung zur radikalenSelbstkritik“. Vor allem die Mitgliederder sogenannten kreativenKlasse, nämlich das akademischeMilieu, das sich selbst fürprogressiv, links und tolerant hältund etwa auf Universitäten, in denMedien oder im Kulturbereich arbeitet,kommen im „Moralspektakel“schlecht weg. Sie reden vielvon Diversität, halten aber nichtsvon weltanschaulicher Diversität,nämlich dann, wenn es um Ansichtengeht, die ihren eigenen widersprechen.Sie halten sich fürweltoffen, gebildet und tolerant,neigen aber laut Studien gleichstark wie andere Bevölkerungsgruppendazu, Fakten zu leugnenund die Wirklichkeit ideologischzu verzerren. Das sind sehr unangenehmeWahrheiten, und Hüblgibt zu, dass er selbst „zähneknirschend“zur Kenntnis nehmenmusste, dass die progressive Linkegenauso wie die Neue Rechte zu autoritäremVerhalten, Urteilsverzerrung,ideologischem Denken undWissenschaftsfeindlichkeit neigt.Manche Passagen überzeugenweniger als andere. So ist etwapauschal von einem „Projekt derAufklärung“ die Rede (dieses hates wohl nie gegeben). Vor allemaber arbeitet Hübl manchmal mitUnterstellungen. Nicht jede moralischeKritik an anderen politischenPositionen muss ein Moralisieren,ein Statusspiel oderein Moralspektakel sein.Hübl richtet die Scheinwerferauf die Schwachstellen der NeuenLinken, die mit Identitäts diskurs,Wokeness, einer inklusiven Spracheund Opferhierarchien etc.in ihren akademischen Elfenbeintürmenden Kontakt mit derMehrheit der Bevölkerung zu verlierendroht. Ein Beispiel untervielen: Während an US-Universitätender politisch korrekte Begriff„Latinx“ in Verwendung ist,haben ihn 75 Prozent aller Hispanics,also der Amerikaner mitspanischen oder südamerikanischenWurzeln, noch nie gehört;nur drei Prozent verwenden ihnzur Selbstbeschreibung.Intellektuelle BescheidenheitEs gibt bereits Bücher, die in eineähnliche Kerbe schlagen. AlexanderSomeks „Moral als Bosheit“,René Pfisters „Ein falschesWort. Wie eine neue linke Ideologieaus Amerika unsere Meinungsfreiheitbedroht“ und HelenPluckroses und James Lindsays„Cynical Theories“ sind hier zunennen. Wie diese Autorinnenund Autoren hat Hübl nichts fürdie Neue Rechte, für Trump, Orbán,Erdoğan oder die AfD übrig.Aber als kritischer Liberalerwarnt er davor, vor lauter Moralisierenauf die Moral zu „vergessen“,vor lauter Kampf gegen dieNeue Rechte auf das kritische Hinterfragender eigenen Position.Hübl bietet auch Lösungen undinsgesamt acht Vorschläge. Darunterist vor allem die Aufforderungzu mehr intellektueller und moralischerBescheidenheit zu nennen,zur schon genannten radikalen –und selbstreflexiven – Selbstkritikoder ein qualifiziertes „Followthe science!“. Hübls Buch, das mitdem Tractatus-Preis ausgezeichnetwurde, ist ein Plädoyer für einepolitische Mitte, die reflektiert,ausgewogen und differenziert urteilenkann. Gleichzeitig schreibter gegen die politischen Extremisten,die mit schrillem Aktivismus,den neuen sozialen Medien undeinem inszenierten Moralspektakelnach öffentlicher Aufmerksamkeitgieren.Der Autor ist AHS-Lehrer, Autorvon Sachbüchern und Schulbüchern,Dozent und Lehrbeauftragteran der Universität Wien. Seineneueste Publikation ist „Auf demWeg zur Moral. Immanuel Kantund die Fahrprüfung des Denkens“(Leykam 2024).MoralspektakelWie die richtige Haltung zumStatussymbol wurde und warumdas die Welt nicht besser machtVon Philipp HüblSiedler 2024; 336 S., geb., € 27,50

DIE FURCHE · 106. März 2025Gesellschaft9Von Orsolya LelkesIn einer Zeit, in der die extremeRechte weltweit auf demVormarsch ist und Europasgrüne Vision an Kraft verlorenhat, erscheint es zunehmendschwierig, das dominanteParadigma von Erfolg und einemguten Leben zu verändern. IndividuelleFreiheit und das Strebennach Glück werden oft mit Egoismus,Selbstbezogenheit und destruktiven Ansprüchen verwechselt.Dies spiegelt sich in einerKultur des radikalen Hedonismuswider – dem Streben nach unmittelbaremVergnügen, dem Konsumals Lebensziel und der Reduktionanderer Menschen und Objekte aufihren Nutzen für unseren eigenenGenuss. Die neoklassische Wirtschaftstheorieverstärkt diese Vorstellungweiter, indem sie Konsumals Motor der Wirtschaft betrachtet.Gleichzeitig erkennen immermehr Menschen, dass die Ressourcender Erde begrenzt sind, dassder Lebensstil der Wohlhabendennicht nachhaltig ist und dass wirradikal andere wirtschaftlicheund kulturelle Normen brauchen.Der einfache ethische Imperativlautet: Füge anderen durch deinHandeln keinen Schaden zu. Dochdie Herausforderung der notwendigenSystemveränderung fühlt sichoft überwältigend an und kann unsängstlich oder machtlos machen.Gerade deshalb brauchen wirpositive Nachrichten und ermutigendeErzählungen – keine falscheZuversicht, sondern echte, authentischeAlternativen. Sie sindessenziell für unser eigenes Wohlbefindenund unsere Resilienz,aber auch als Inspiration für unsereKinder und all jene, die offen fürneue Wege sind und nicht blind gesellschaftlicheNormen befolgenwollen, die sie krank, unglücklichoder verwirrt machen.Foto: IMAGO / AlbumDas gute Leben: nichts als Konsum? Dieses Modell führte in die Klimakrise.Dabei entwarfen schon antike Philosophen nachhaltige Alternativen.Heute können wir sie brauchen. Ein Impuls zur Fastenzeit.BedürfnisseentlarvenVon Aristoteles und Epikur lernenDie Idee, den eigenen Lebensstilökologisch anzupassen, löst beivielen Unbehagen aus. Sie scheintmit Verzicht und dem Verlust bestehenderAnsprüche oder Zukunftshoffnungenverbunden zusein. Doch genau hier liegt die Herausforderung:Wir brauchen neueVisionen eines guten Lebens, dieGlück, Genuss und Freude nichtausschließen, sondern auf nachhaltigeWeise ermöglichen.Unsere Beziehung zum Vergnügenmuss neu definiert werden.Viele von uns haben das Gefühl,mehr und nicht weniger Vergnügenzu brauchen. Doch zugleichist offensichtlich, wie oft die Suchenach Vergnügen scheitert. Wir leiden,wenn unsere Wünsche unerfülltbleiben – und manchmal auch,wenn sie erfüllt werden. Beispielesind impulsive Einkäufe, die nachkurzer Zeit bereut werden, exzessiverKonsum, gesundheitsschädlicheExzesse oder Abhängigkeiten.Auf gesellschaftlicher Ebeneführt radikaler Hedonismus zuUmweltzerstörung und sozialenUngerechtigkeiten.Die alten hedonistischen Philosophenkönnen uns inspirieren,bewusste Hedonisten zu sein: dasLeben in vollen Zügen zu genießen,ohne unseren Wünschen blindzu folgen. Es ist ein Prozess, einePraxis, ein Weg der inneren Freiheit.Aristoteles empfahl einenMittelweg zwischen schmerzhafterAskese und exzessiver Selbstgefälligkeit– der Schlüssel liegtin der Selbstbeherrschung. Dieseist nicht mit Selbstverleugnung zuverwechseln: Wer Selbstbeherrschungentwickelt, empfindet esnicht mehr als Leiden, Impulsennicht nachzugeben.Die moderne Wissenschaft bestätigtdies: Studien zeigen, dass Menschen,die sich bewusst für einenminimalistischen oder umweltbewusstenLebensstil entscheiden,oft ein höheres Wohlbefinden erfahren.Entscheidend ist, dass dieseWahl freiwillig erfolgt und mit deneigenen Werten übereinstimmt.Genuss ist jedoch nicht dashöchste Gut im Leben. Vielmehrist es Glück oder „blühendes Leben“(Eudaimonia), wie Aristoteles esausdrückte. Er betrachtete Glücknicht als Laune der Götter oder alsProdukt äußerer Umstände wieReichtum oder Erfolg, sondern alsErgebnis bewusster Lebensgestaltung.Wir werden mit Glück belohnt,wenn wir unsere Tugendenpflegen und unser Handeln an innerenWerten ausrichten.Auch Epikur betonte die Wichtigkeitder Reflexion: Nicht alle Wün-sche sind es wert, verfolgt zu werden.Eitle und leere Bedürfnissesollten entlarvt werden, um sichauf das zu konzentrieren, waswirklich zur Freude beiträgt. Einnachhaltiger Hedonismus – meineeigene Terminologie, die sowohlprovozieren als auch inspirierensoll – bedeutet, freudvolle Momentezu schätzen, ohne sich von Begierdenbeherrschen zu lassen.Freundschaften und soziale Gemeinschaftensind entscheidendfür unser persönliches Glück – eineErkenntnis, die bereits Aristoteleshatte und die moderne psychologischeForschung eindrucksvollbestätigt. Unser Wohlbefinden„ Individuelle Freiheit und das Strebennach Glück werden oft mit Egoismus,Selbstbezogenheit und destruktivenAnsprüchen verwechselt.“Schlemmen ohne EndeEr ist der personifizierte Genießer:Dionysos, der griechische Gott des Weins,der Freude, der Fruchtbarkeit und Ekstase.Die Römer kannten ihn als Bacchus. Hiergemalt von Peter Paul Rubens zwischen1638 und 1640.wird nicht nur durch unsere eigenenEntscheidungen geprägt,sondern auch durch unser Umfeld.Gleichzeitig hinterlässt unserHandeln Spuren und formt dieWelt mit. Denn wir sind untrennbarmit ihr verbunden – nicht alsisolierte Individuen, sondern alsTeil eines größeren Ganzen.Aristoteles betont die Notwendigkeit,Tugenden durch Übungund konsequentes Handeln zu entwickeln,da sie die Grundlage fürein gutes Leben sind, das zu Glückführt. Er nannte einige Tugenden,die auch in unserer heutigen Weltnützlich sein können. Tugendenwie Besonnenheit, Mut und Sanftmutkönnen nicht nur zu inneremFrieden und Autonomie führen,sondern auch zu bewussteremKonsum, kooperativerem Verhaltenund gesellschaftlichem Engagement.Studien zeigen, dass Menschenmit einem nachhaltigen Lebensstil,wie weniger Konsum, Teilnahmean solidarischer Wirtschaft,oft nicht auf Lebensqualität verzichten,sondern im Gegenteil eingrößeres Wohlbefinden erleben.Entscheidend sind Freiwilligkeit,nichtmaterialistische Werte, wenigerEinfluss durch Werbung undinspirierende Vorbilder.Geld und StatusNatürlich bleibt es eine Herausforderung,Menschen mit extrinsischenLebenszielen (zum BeispielStatus, Geld) für eine nachhaltigeVision zu gewinnen. Doch es istmöglich: Es ist belegt, dass neuepositive Erfahrungen und gezielteAnleitung die Werte und Verhaltensweisenvon Menschen nachhaltigverändern können.Im Buch „Nachhaltiger Hedonismus.Ein glückliches Leben kostetnicht die Welt“ verbinde ich Perspektivenaus Glücks- und Verhaltensökonomie,positiver Psychologie,Sozialtheorie, antikerPhilosophie und Erfahrungslernen,insbesondere dem Psychodrama.Ich will damit zu einer tiefgehendeninneren und äußeren Erkundungeinladen und zeigen, wie einfreudvolles, bewusstes Leben mitNachhaltigkeit vereinbar ist.Die Autorin ist Coach, Ökonominund Sozialwissenschafterin.Sie forscht zu Gemeinwohl undnachhaltigem Wohlbefinden.NachhaltigerHedonismusVon Orsolya LelkesBuchschmiede 2024392 S., kart.,€ 28,95VORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023

[removed] document.title = "My Custom Tab Name"; [removed]