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DIE FURCHE 06.03.2025

DIE FURCHE · 10246.

DIE FURCHE · 10246. März 2025Von Manuela TomicIllu: RMMOZAIKKindergartenIn der ersten Schulklasse stammelteich. Beim Lesen zog ichden krummen Zeigefinger vonZeile zu Zeile, aber die Zunge zauderte.Nach jedem Wort besserte dieLehrerin nach. Nervös leckte ich mirdie trockenen Lippen. „Wenn du soweitermachst, musst du wieder inden Kindergarten“, hämten meineMitschüler. Sie wussten nicht, dassich nie im Kindergarten war undmich vor ihm wie vor dem Fegefeuerfürchtete. Ich verkroch mich amKlo, schloss die Augen und stelltemir vor, wie Kinder gleich Pilzenaus dem Feuer wuchsen. Statt in dieSchule zu kommen, wurden die Kinderköpfeim Garten zu Gulasch verkocht.Lieber blieb ich ein stotternderSchulclown, drei Köpfe kleinerund eineinhalb Jahre jünger als dieanderen Kinder. In Kreševo gab eskeinen Kindergarten, und als wirin Kärnten ankamen, überredetemeine Mutter den Schuldirektor,mich sofort aufzunehmen. Der Kindergartenwar für meine Eltern einkindisches Fremdwort. Noch heuteschwärmen viele meiner Freundevon ihrer Kindergartenzeit, währendmir vor meiner nie erlebtengraut. Ich halte mir die Augen zu undspucke die Silben wie kleine Kinderpilzeaus.Manuela Tomic, Autorin und ehemalsFURCHE-Redakteurin, ist in Sarajevogeboren und in Kärnten aufgewachsen.In ihrer Kolumne schreibt sie überKultur, Identitäten und die Frage,was uns verbindet.Die Kolumnengibt es jetztals Buch!Foto: Albrecht Weinberg PrivatarchivVon Astrid WenzEr ist zehn Jahre alt, als er fast ertrinkt.Es ist der Winter 1935, Albrechtbittet den Schmied im Dorfso lange um ein paar Eislaufschuhe,bis dieser nachgibt und die Eisenkufenzurechtschleift. Als sie fertig sind, mussAlbrecht sie sofort ausprobieren, er kann garnicht anders. Der Kanal hinter dem Haus istzugefroren, eine dünne Schicht Schnee liegtauf dem Eis. Plötzlich verliert er den Halt, dasEis bricht unter ihm ein. Seine Klassenkameradenstehen an der Ufer böschung, sehen ihnund singen: „Sitzt ein Jude im Kanal, [...] wenner ertrinkt, helfe ich ihm nicht.“ Der Vater seinesFreundes Hannes ist es, der ihn rettet. Dasist eine der Erinnerungen, die Albrecht Weinbergjedes Mal erzählt, wenn er mit Schulklassenspricht. Am 7. März wird Weinberg100 Jahre alt, seit knapp 15 Jahren redet erüber das, was ihm und seiner Familie widerfahrenist. Er ist einer der letzten Holocaust-Überlebenden Deutschlands.Albrecht Weinberg wird 1925 in Ostfrieslandgeboren. Sein Vater ist Viehhändler, dieFamilie wohnt im kleinen Ort Rhauderfehnbei Leer. Im Haus wird Plattdeutsch gesprochenund Friesentee getrunken – und samstagswerden die Schabbatregeln befolgt. DieFamilie ist jüdisch, Albrechts Mutter Floraist die Gläubigste in der Familie. Im Ort gibtes mehrere jüdische Familien, Rhauderfehnhat auch eine eigene Synagoge. Weinberg beschreibtseine Kindheit als schöne Zeit, allerdingswar ihm auch schon damals bewusst,dass seine Familie anders behandelt wird.Seinen Vater nennt zum Beispiel niemandbeim Vornamen, Nachbarn und Kunden rufenimmer nur nach dem „Jööd Weinberg“.Irgendwann dürfen dann auch WeinbergsFreunde nicht mehr mit ihm spielen, 1936darf er auch nicht mehr in die Schule gehen.Klassenfahrt mit 97Der Journalist Nicolas Büchse hat AlbrechtWeinbergs Geschichte aufgeschrieben. Füreinen Artikel im Stern begleitete er ihn 2022auf eine Reise nach Israel, eine Klassenfahrtdes Gymnasiums von Rhauderfehn – das heutenach Weinberg benannt ist – sollte auch dieerste Klassenfahrt des damals 97-Jährigenwerden. Weinberg erzählt von seinem Leben,und Büchse schreibt Notizbuch um Notizbuchvoll. Nach der Reise führen sie die Gesprächeweiter, gemeinsam beschließen sie,ein Buch daraus zu machen.Büchse ordnet die Erinnerungen ein undprüft Daten nach. „Vieles hat er noch sehr,sehr deutlich vor Augen“, sagt Büchse überWeinberg. Die Fähigkeit, Gefühle zu beschreiben,das sei bei Weinberg sehr besonders.Man kann es sich beim Lesen gut vorstellen,wie der bald Hundertjährige klingt.Ein feiner Humor scheint durch, an andererStelle sind einzelne Wörter auf Englisch eingesprenkelt.Immerhin hat Weinberg seinganzes Erwachsenenleben in den USA verbracht.In Deutschland wollte er nach denGrausamkeiten, die er erlebt hat, nicht längerleben.Albrecht, Dieter und Friedel auf dem letzten Foto,das alle Weinberg-Geschwister zusammen zeigt.Sie posierten dafür 1942 in Berlin.Foto: Jesco Denzel„Wir waren doch deutsche Bürger wie unsereNachbarn, wir sprachen Plattdeutsch wiesie, wir waren in denselben Vereinen gewesenwie sie. Wir hatten doch nichts Schlimmesgetan, warum hassten sie uns nur so?“,fragt sich Albrecht Weinberg noch heute. DerMoment, als in seinen Augen alle Dämme brachen,war der 9. November 1938, der Beginnder Novemberpogrome. Mitten in der Nachtwurden Weinberg und seine Eltern aus demHaus gejagt, die SA trieb sie „wie Tiere aufden Viehmarkt“. Frauen und Kinder musstenden ganzen Tag im Schlachthaus verbringen.Wie Weinberg erst viel später erfuhr, wurdein jener Nacht auch die Synagoge von Leerangezündet. Seine Bar-Mizwa im März 1938war die letzte, die je dort gefeiert wurde.1939 wurden Albrecht und seine SchwesterFriedel nach Schlesien, ins heutige Polen, geschickt.Auf einem Landgut sollten jüdischenJugendlichen landwirtschaftliche Methodenbeigebracht werden – als Vorbereitungfür die Ausreise nach Palästina oder in dieUSA. Dazu kam es jedochnie, die beiden Geschwisterwurden stattdessen in„ Wie Weinberg erstviel später erfuhr,wurde in jener Nachtauch die Synagogeangezündet. SeineBar-Mizwa im März1938 war die letzte,die je dort gefeiertwurde. “ein Zwangsarbeitslagerin der Nähe von Berlin geschickt.Albrecht Weinbergüberlebte insgesamtdrei Todesmärsche unddrei KZs, im April 1945wurde er in Bergen-Belsenbefreit. Auch seineSchwester Friedel undsein älterer Bruder Dieterüberlebten diese Zeit.Fast die gesamte restlicheFamilie wurde aber ermordet: Eltern, Onkel,Tanten, Großcousine Rosel, die geradesechs Jahre alt war. Den Deutschen das verzeihen?Das kann Weinberg bis heute nicht.„Von wem sind sie ermordet worden? Nicht vonAdolf, von den Deutschen“, sagt er nach einemGespräch mit einer Schulklasse dem ZDF.„Auch wenn die Welt um mich zusammenbrach,Friedel war da“, das habe ihn in denNachkriegsjahren gerettet. Zusammen mit seinerSchwester ging Weinberg nach New York.Fast 25 Jahre führte er dort den Fleischerladen„Jack & Als Meat Market“. Die Geschwister habennie geheiratet, sie wohnten stets zusammenund erzählten kaum von dem, was ihnenin den Lagern passiert ist. Sprach ihn jemandauf die tätowierte Nummer auf seinem Arm an,erzählte er, das sei seine Handynummer. Er seileider zu vergesslich, sie sich anders zu merken.Erst ein Schlaganfall von Friedel zwangAlbrecht Weinberg, an eine Rückkehr nachDeutschland zu denken. Zu hoch wären diePflegekosten in den USA geworden. Im Pflegeheimvon Leer nahm sich Gerda Dänekasden beiden Geschwistern an und sorgte dafür,dass sie in einem Zimmer schlafen durften.Bis in die Nacht sprach sie mit Weinberg,auch über seine Zeit im KZ. Friedel starb nurwenige Monate später, Dänekas kümmertesich weiter um Albrecht Weinberg. Heute lebendie beiden in einer Wohngemeinschaft.Über das Unbegreifliche sprechenBeim TeeSeit 2020 wohnenWeinberg und diepensioniertePflegerin GerdaDänekaszusammen.Über 50 Jahre hat Albrecht Weinberg über das geschwiegen,was er im Konzentrationslager erlebt hat. Heute erzählt erin Schulen davon. Am 7. März wird er 100 Jahre alt.Der letzte Judevon OstfrieslandSie war es auch, die Weinberg dazu brachte,öffentlich über sein Leben zu sprechen. Langehatte er sich gefragt: „Wie sollte ich das Unbegreiflicheschildern, wenn ich es heute nochimmer selbst nicht begreife?“ Er sei ja außerdemkein Schriftsteller, kein Intellektueller.Seit 15 Jahren spricht er nun in Schulen überden Holocaust. Und hat dabei ein Gespür fürdie Sorgen der Jugendlichen, erzählt Büchse.Gleichzeitig ist Weinbergweiter politisch aktiv:Nach der Abstimmungder CDU/CSU gemeinsammit der AfD im DeutschenBundestag beschlossWeinberg, sein Bundesverdienstkreuzzurückzugeben.Die AfD stehe fürihn für Hass. Dafür, dasses wieder losgehen könnte.Zu seinem 100. Geburtstagwünscht sich Weinbergübrigens nur eine Hühnersuppe.Im Rathaus vonLeer wird es ein Fest geben, danach wird in derjüdischen Gemeinde von Oldenburg gefeiert.In Ostfriesland gibt es keine Gemeinde mehr,Weinberg ist wohl einer der letzten Juden imhohen Norden Deutschlands. Aber einer, anden man sich erinnern wird. Im Namen einerStraße in Leer, im Namen des Gymnasiumsvon Rhauderfehn. Und in seinen Erzählungen.„Damit die Erinnerungnicht verblasst wiedie Nummer aufmeinem Arm“Von Albrecht Weinbergund Nicolas BüchsePenguin 2024288 S., kart., € 20,95

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