DIE FURCHE · 1022 Wissen/Geschichte6. März 2025Mao,Stalin & CoEin Blick in dieGeschichtezeigt: Niemandist vor den Launeneines Diktatorssicher – auchnicht jene Wissenschafter(innen),die in den PrestigeprojekteneinerDiktatur arbeiten.March forScience7. März,Kundgebung um13 Uhr, Start vorder UniversitätWien, gefolgtvon einemDemozug zumBallhausplatzVon Verena WiniwarterSchon 2005 konnte Paul Joseph sonin seiner Studie über Wissenschaftin totalitären Regimenfeststellen, dass auch in den USA,die sich damals mehr als heuteals liberale Demokratie verstanden, wissenschaftlicheErkenntnisse ignoriertwurden – wenn sie nicht in den politischenKram passten. Er verweist auf die Bemühungenvieler Mitglieder des US-Kongresses,den wissenschaftlichen Konsens überden Schutz von Feuchtgebieten oder Wäldernzu ignorieren, um deren „Erschließung“zu ermöglichen. Ebenso wie auf dasBeharren der Regierung George W. Bush,dass es keine globale Erwärmung gäbe.Was Menschen über die Natur zu wissenglauben, ist auch in Demokratien sozialkonstruiert: Es wird durch die interessengeleiteteBrille betrachtet. Kongress undPräsident hätten jene wissenschaftlichenErkenntnisse, die für die Herstellung vonKonsumgütern oder gar Waffen grundlegendsind, nicht in Zweifel gezogen – siezeigten sich somit gegenüber der Wissenschaftambivalent. Doch die Anerkennungder innerwissenschaftlichen Qualitätssicherungund die Rede- und Medienfreiheitunterschieden die USA von totalitärenStaaten, was Wissenschaft angeht.Mao: Die Paranoia des DiktatorsAngesichts zunehmend totalitärer Tendenzenin den USA lohnt der Blick ins revolutionäreChina, den wir Paul Josephsonund Judith Shapiro („Mao’s War AgainstNature“, CUP 2001) verdanken, um möglicheSzenarien zu durchdenken. UnterMao Zedong (1893–1976) ging die kommunistischechinesische Regierung die Umgestaltungder Natur mit geradezu erbitterterEntschlossenheit an. Die Regierungstellte zunächst den Wissenschaftsbetriebin den Dienst des Staates, um die militärischeSicherheit, das Wirtschaftswachstumund die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten.Die Zahl der Forscher wuchs unterkommunistischer Herrschaft rasch an. Siereichte aber nicht aus, um jenen raschenSiehe auch „AutoritäreRegimeund die Wissenschaft– (k)einWiderspruch?“(11.2.2025)von VerenaWiniwarter, auffurche.at.Folgt Donald Trump der Agenda des „Project 2025“, könntees für die Wissenschaft in den antichinesischen USA baldmaoistische Verhältnisse geben. Eine historische Einordnung.GefährlicheLiebschaftenwirtschaftlichen Wandel zu bewerkstelligen,den die Führer anstrebten, um dieÜberlegenheit ihres Systems zu demonstrieren.Denn es mangelte an Kapital. Daslag auch an teuren militärischen Projekten,darunter das chinesische Atomprogramm.Der US-Präsident Harry S. Truman hatteim Koreakrieg mit dem Einsatz von Atomwaffengedroht. Daraufhin verkündeteMao 1956, dass China ein eigenes Bombenprogrammentwickeln würde. Das unverfänglichbetitelte „Dritte Ministerium fürMaschinenbauindustrie der Volks republikChina“ konnte mithilfe von Expertise ausder Sowjetunion rasch die komplexe Aufgabemeistern, und am 16. Oktober 1964 erfolgteder erste Test. Doch abseits der Hochtechnologieder Waffenherstellung lief esanders. Da viel zu wenig Kapital für denBau moderner Fabriken vorhanden war,setzte die Parteiführung auf Menschenstatt auf Maschinen. Der Bau tausenderkleiner Hochöfen zur dezen tralen Stahlproduktionwar die Basis für den von Mao„ Bei Maos Paraden wurdenTriumphwägen voller Vogelleichengezeigt. Doch ohne Vögel nahmendie Insekten überhand – und dieGetreideerträge sanken. “Foto: Getty Images / Kevin Frayererträumten „Großen Sprung nach vorn“,seinem zweiten Fünfjahresplan ab 1958.Diese Hochöfen funktionierten schlechtund verschmutzten die Luft. Da sie mitHolzkohle betrieben wurden, beschleunigtensie auch die Abholzung der Wälder. DieMenschen fehlten indes in der Landwirtschaft:Eine Hungerkatastrophe von 1959bis 1961 kostete etwa 30 Millionen Chinesendas Leben.Der Plan beinhaltete auch eine völligeAbkehr von der Wissenschaft. Der zunehmendüberforderte und paranoide Diktatorsetzte die Roten Garden ein, eineparamilitärische Jugendtruppe. Die Gymnasienwurden geschlossen, auf Universitätenwurden verdächtige Professorenangegriffen. Menschen mit technischerAusbildung wurden verhaftet und eingesperrt,viele wurden getötet. Akademikerwurden zur Zwangsarbeit in die landwirtschaftlicheKollektive verschickt, selbstdie Nuklearingenieure, die dem Land geradeseine eigenen Atomwaffen ermöglichthatten, wurden zu Opfern der „Kulturrevolution“.Diese geriet vollends außerKontrolle, als sich die Rote Garde in Gruppenspaltete. Terror breitete sich aus. DasErgebnis war wirtschaftliches und politischesChaos. Maos China, aber auch StalinsRussland zeigen: Niemand ist vor denLaunen eines Diktators sicher – auch nichtjene Wissenschafterinnen und Wissenschafter,die in den Prestigeprojekten einerDiktatur arbeiten.Mao wollte die Natur beherrschen, erwollte raschen Fortschritt. Störende Faktenblendete er aus. Eine gründliche wissenschaftlicheBewertung der Kosten, desNutzens und der Alternativen zu seinenGroßprojekten in Stahlproduktion, imDammbau, der Urbarmachung von Landund dem Bau von Bewässerungssystemenhätte Zeit und Ressourcen gebraucht undwomöglich die großen Ideen gar gestört.Statt den Versuch zu unternehmen, mithilfevon Expertenwissen ein komplexesSystem möglichst gut zu verstehen, vereinfachteMao so wie viele andere Diktatorenlieber das System – ein hoffnungsloses Unterfangen,insbesondere wenn es um dieNatur geht. Legendär ist Maos Kampf gegenSpatzen und andere Vögel, in denen erGetreideschädlinge sah. Triumphwägenvoller Vogelleichen wurden bei Paraden gezeigt.Doch ohne Spatzen und andere Vögelnahmen die Insekten überhand, und dieErträge sanken, statt zu steigen.Trump: Die Welt als SupermarktDonald J. Trump arbeitet sich in seinerzweiten Amtszeit offensichtlich durchdas Programm des „Project 2025“ durch,von dem er sich im Wahlkampf noch distanzierthatte. Das große Feindbild diesesDokuments ist China. Universitäten,die mit China zusammenarbeiten, werdenals Sicherheitsrisiko betrachtet. Diearea studies, Regionalwissenschaften wiezum Beispiel Afrikanistik, Orientalistikoder Japanologie, insbesondere wohldie Sinologie (Chinawissenschaft), sollenabgeschafft werden. Im Gegenzug sollenmindestens 40 Prozent der Mittel fürWirtschaftsstudienprogramme bereitgestelltwerden, in denen freie Marktwirtschaftgelehrt wird. Von den Einrichtungen,Lehrkräften und Studierenden solleine Bestätigung verlangt werden, dasssie beabsichtigen, amerikanische Interessenzu fördern. Statt das Navigieren ineiner komplexen Welt zu ermöglichen, beidem sprach- und kulturkundige Absolventinnenund Absolventen von Regionalwissenschafteneine große Rolle spielen,wird die Welt vereinfacht, indem sie alsglobale Marktwirtschaft betrachtet wird.Hinter der Forderung nach „Verkleinerung“der Behörde für Ozean- und Atmosphärenforschung(OAR) steht eine besondersbesorgniserregende Agenda. Im„Project 2025“ heißt es: „Das OAR liefert theoretischeWissenschaft, im Gegensatz zurangewandten Wissenschaft des NationalHurricane Center. Das OAR ist jedoch dieQuelle eines Großteils des Klimaalarmismusder NOAA (National Oceanic and AtmosphericAdministration, Anm. d. Red.).Der überwiegende Teil seiner Forschungzum Klimawandel sollte aufgelöst werden.“Andererseits sollen Universitäten da aushelfen,wo Bundesprogramme geschlossenwerden. Statt die Abteilung für biologischeRessourcen des US Geological Survey zuerhalten, sollen die notwendigen wissenschaftlichenArbeiten über gefährdete Artennun von Universitäten geleistet werden.Folgt Trump wie zu Beginn seiner Amtszeitgroßteils dem „Project 2025“, kann es fürdie Wissenschaft und ihre Freiheit in denantichinesischen USA also bald maoistischeVerhältnisse geben.Die Autorin ist wirkliches Mitglied derÖsterreichischen Akademie der Wissenschaften.Sie war bis 2022 Professorin fürUmweltgeschichte an der Universität fürBodenkultur in Wien. Die „Wissenschaftlerindes Jahres 2013“ engagiert sich heuteunter anderem bei Scientists4Future.
DIE FURCHE · 106. März 2025Wissen23Das Phänomen, dass Frauen überall Schwangere sehen, sobald sie selbst ein Kind bekommen, ist bekannt. Umgekehrt hört man von Frauen,die die eigene Schwangerschaft nicht wahrnehmen – was teils übel ausgehen kann. Aber wie geht das überhaupt?Unbemerkt in anderen UmständenVon Andrea KriegerFür die Britin AmeliaDollan hat gerade daszehnte Lebensjahr begonnen.Dass sie und ihreMutter gesund sind,Klara Dollan überdies eine glücklicheMama ist, ist ein kleinesWunder. Und hat wohl auch mit derHausbesorgerin zu tun, die Hilfeholte, als Dollan auf dem WC ihrKind bekam. Denn die Londonerin,deren Fall 2019 durch die Medienging, hatte bis zuletzt nicht mitbekommen,dass sie schwanger war.„Eine Schwangerschaft nichtzu bemerken, wie ist das möglich?“,werden sich jetzt viele fragen.Doch laut einer großen epidemiologischenStudie der BerlinerCharité zeigt sich eine von rund2500 Frauen von der Geburt komplettüberrascht. Es passiert alsofast dreimal so häufig wie eineDrillingsgeburt. „Und neuerefranzösische Daten belegen, dassjeder 300. Frau die Schwangerschafterst nach der 20. Wochevoll bewusst wird“, sagt ClaudiaKlier, Psychiaterin an der MedizinischenUniversität Wien, imGespräch mit der FURCHE. Manspricht in beiden Fällen von verdrängterbeziehungsweise negierteroder verleugneter Schwangerschaft.Die Palette reicht vomNicht-Wahrhaben über das Wegschiebenund Aus-dem-Bewusstsein-Verbannenbis zu – seltenem– bewusstem Leugnen,wobei die Übergänge fließendsein können. „Neuerdings verwendenwir daher den allgemeinerenBegriff der nicht wahrgenommenenSchwangerschaft.“Schlechtes KörpergefühlDie Folge: Die Frau kann sichnicht bewusst für das Kind entscheiden,Fristen verstreichen,Monate des Darauf-Einstellensfehlen, der Lebensstil wird nichtzum Wohle des Ungeborenen geändert.Die (Früh-)Geburt findet,wenn die Schwangerschaft bis zuletztunbemerkt bleibt, meist ohnejede Hilfe statt – eine Gefahrfür das Leben von Mutter undKind. In seltenen Fällen stirbt derSäugling, weil er nach der traumatischenGeburt nicht versorgtwird. Das Worst-Case-Szenariosind Neugeborenentötungen wiezuletzt in einem Wiener Hotel.„Glücklicherweise sind die Neugeborenentötungenseit Einführungder anonymen Geburt starkgesunken, von zwölf auf zuletztzwei bis drei Fälle pro Jahr“, sagtKlier, die an der Med-Uni Wienzu diesem Thema und der anonymenGeburt forscht. „Außerdemzählt eine nicht wahrgenommeneSchwangerschaft heutzutage zuden Hauptgründen für eine Adoptionsfreigabe.“Bei Klara Dollan, damals eineüberarbeitete Bar-Managerinmit 22 Jahren, ging alles gut. Dieüberwiegende Mehrheit behältwie sie das Baby, stößt aber mit ihrerGeschichte auf große Skepsis.„Man muss doch merken, wenndie Regel nicht mehr kommt“,heißt es da etwa. Allerdings istFachleuten bereits seit Langembekannt, dass Blutungen (!) weitervorkommen können. Oder dieMonatsblutungen fallen ohnehinweg, weil die Pille durchgehendeingenommen wird, so wiebei Klara Dollan. Nach sechs Monatensetzte sie die Pille ab. Wassie dann zwei Wochen später zunächstals starke Regelkrämpfedeutete, waren bereits die Wehen.Sie war also – trotz Blutungen –bereits schwanger gewesen, alssie mit der Pille angefangen hatte.Den Frauen würden wohl verschiedeneVeränderungen auffallen,sagt Expertin Klier, „sie findenaber natürliche Erklärungendafür“. Ihre Gewichtszunahmeführte Dollan auf die Trennungzurück. Aber wie kann man einenBabybauch nicht bemerken? Beigroßen Gewichtsschwankungenoder starkem Übergewicht ist dasdurchaus möglich. „Es gibt zudemdie Theorie, dass das Baby andersliegt, der Bauch also nicht so weitnach vorn steht“, sagt Klier. „DerArzt, die Ärztin müsste es dochfeststellen“, kann man jetzt einwenden.Selbst wenn diese konsultiertwerden: „Die Patientinzeigt sich derart überzeugt, nichtschwanger zu sein, dass sich dasauf das Umfeld, auch den Arztbzw. die Ärztin übertragen kann“,so die Psychiaterin. Und es gibtsogar einen Fachterminus dafür:„Projektive Identifizierung vonSchwangerschaftsverdrängung“.Bei einer kleinen Studie von 2005erhielten 38 Prozent der Frauenkeinen Schwangerschaftsbefund,Foto: iStock/happyphotonKomplettüberraschtDer Übergang vomWegschieben zumbewussten Leugnenist fließend:Laut einer großenepidemiologischenStudie der BerlinerCharité zeigtsich eine von rund2500 schwangerenFrauen von derGeburt komplettüberrascht.„ Neuere Studiendaten belegen, dass jeder 300. Frau dieSchwangerschaft erst nach der 20. Woche voll bewusst wird. “Claudia Klier, Medizinische Universität Wienwobei es sich bei den behandelndenÄrzten in der Regel nicht umGynäkologen bzw. Gynäkologinnenhandelte. Schlechtes Körpergefühlkann laut Klier zum Nicht-Wahrnehmen beitragen, „ebenso,wenn es im Leben sonst sehr turbulentzugeht“. Am sozialen Hintergrundoder mangelnder Aufklärungliege es hingegen meistnicht, es müsse sich nicht einmalum Erstgebärende handeln.Bei einer Minderheit findet sicheine psychiatrische Diagnose, etwaeine Depression oder eine Psychose.„Etliche Frauen habenzudem eine Vorgeschichte von sexuellerGewalt. Oder eine Vergewaltigungbzw. Inzest führten zurSchwangerschaft.“ Auch Singlessind oft betroffen, ebenso Schwangerschaftenaus Nebenbeziehungen.Alles Fälle, in denen ein Babygröbere Probleme bzw. Retraumatisierungenverursachen kann.Der SilhouetteneffektGynäkologinnen erzählen vomsogenannten Silhouetteneffekt,einem plötzlich stark wachsendenBabybauch ab dem Zeitpunkt,da eine bereits über 20 Wochenverdrängte Schwangerschaft diagnostiziertwird. Es wird vermutet,dass sich das Ungeborenebis dahin nicht drehen konnte,da die Bauchmuskeln – als Begleiterscheinungder Verdrängung– unbewusst zu stark angespanntwurden. Die Position desKopfes im unteren Teil der Gebärmutterträgt allerdings zum typischenBabybauch bei. Letztlichist die Macht der Verdrängungnicht weniger stark als die Machtder Einbildung. Und tatsächlichgibt es auch das gegenteiligeKrankheitsbild: die Scheinschwangerschaft.Klier würdesich wünschen, dass es die verdrängteSchwangerschaft ebensoin einen etablierten Diagnosekatalogwie ICD oder DSM schafft.„Umso mehr, als eine verdrängteSchwangerschaft im Gegensatzzur Scheinschwangerschaft eingroßes Risiko darstellt.“Im Fokus – Religion und EthikAuf den Spuren der Liebe – Albert Schweitzer zum 150. Geburtstag»Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will«: Er gilt immer noch alseine der bedeutendsten humanitär engagierten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.Der evangelische Theologe, Organist, Philosoph, Pazifist und FriedensnobelpreisträgerAlbert Schweitzer gründete im zentralafrikanischen Gabun ein Krankenhaus undentwickelte eine Ethik, die sich auf die Ehrfurcht vor dem Leben stützt. Die Ö1-Reihe»Im Fokus« widmet ihm und seinem Werk ein Porträt.Im Fokus – Religion und EthikMittwoch, 12. März 2025, 16.05 Uhr, Ö1religion.ORF.atFurche25_KW10.indd 1 26.02.25 11:45
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