DIE FURCHE · 1018 Literatur6. März 2025Von Rainer MoritzViel hat sie zu bieten,die irische Gegenwartsliteratur.ZuColm Tóibín, ClaireKeegan, SebastianBarry, Sally Rooney oder LouiseKennedy gesellt sich nun dieNordirin Roisin Maguire hinzu,die – als Mittfünfzigerin – mit ihremspäten Debüt „Mitternachtsschwimmer“(im Original nur:„Night Swimmers“) die Bühne betritt.Schauplatz des Geschehensist der (fiktive) nordirische KüstenortBallybrady, wo, nicht immerzur Freude der Einheimischen,auch Touristen regelmäßigihre Zelte aufschlagen.Evan Moore freilich, ein BelfasterGeschäftsmann, reist nichtzum reinen Vergnügen dorthin.Er braucht dringend eine Auszeitund mietet ein Cottage an, nachdemer und seine Frau Lorna auftragische Weise ihre Tochter Jessieverloren haben. Seine Ehekriselt ohnehin, und ob es eineRückkehr zu Lorna und Sohn Lucageben wird, ist ungewiss. EineWoche lang will er in Ballybradyzur Ruhe kommen, doch wir sindim Frühjahr 2020, und als sichdas Coronavirus auszubreiten beginntund ein Lockdown ausgerufenwird, sitzt Evan fest.Zeit für einen NeuanfangDurchbruchNach KurzgeschichtenveröffentlichteMaguire mit „Mitternachtsschwimmer“ihr Romandebüt. ImMittelpunkt steht einkleiner irischer Ort,der lose an ihren Heimatorterinnert.Was besondere Umstände bewirken und welche Grenzen es mitunter zuüberschreiten gilt, zeigt Roisin Maguire in „Mitternachtsschwimmer“.Ist nichts Schlechtesdran, wenn mananders istWas ihn an die Küste getriebenhat, interessiert die Einheimischensehr, die den ungewöhnlichenNeuankömmling kritischbeäugen. Auch seine VermieterinGrace Kielty, eine Frau um diefünfzig, spottet über den lebensuntauglichenEvan, der mit abenteuerlichenKajakfahrten undSchwimmausflügen aufs offeneMeer sein Leben aufs Spiel setztund Grace zu kühnen Rettungstatenzwingt. Mit ihr ist sowiesonicht zu spaßen. Vor langer Zeitschien sie als drogenabhängigesHippiemädchen in London unterzugehen,doch ihre Mutter brachtesie zurück nach Nordirland, wosie nun als Eigenbrötlerin lebt,die mit ihrer Meinung nicht hintermBerg hält.Ihr Auskommen versucht Gracedamit zu finden, dass sie einCottage vermietet und Quiltsnäht, für die sie sogar Kundenauf dem europäischen Festlandfindet. Die anderen im Dorf stehenihr respektvoll und ein kleinwenig ängstlich gegenüber. Dasssie einen „Sprung in der Schüssel“habe, scheint für die meisteneine ausgemachte Sache zu sein,doch die mit der kargen, wildenLandschaft vertrauten Bewohnervon Ballybrady wissen mitungewöhnlichen Verhaltensweisenumzugehen. Die KolonialwarenhändlerinBecky, die als Einzigeversucht, die Corona-Auflagenstrikt umzusetzen, bringt es aufden Punkt: „‚Wer ist das schon,normal?‘, erwiderte sie. ‚Bei Grace„ Roisin Maguires Roman lebt vonseinen markanten Charak terenund der rauen Atmosphäre desLandstrichs, die mit sti lis tischintensiven Pinselstrichengezeichnet wird. “ist alles in bester Ordnung, daskannst du mir glauben. Ist nichtsSchlechtes dran, wenn man einbisschen anders ist, oder?‘“So sehr sich Grace über den tölpelhaftenStädter Evan wundert,so unkonventionell hilft sie ihm,die Basics des Küstenlebens kennenzulernen.Begleitet von ihremnicht minder eigenwilligen Hund,der praktischerweise „Hund“ genanntwird, bringt sie ihm zumBeispiel bei, Fische auszunehmen,und versorgt ihn mit diesem undjenem. Je mehr sich Evan auf denfür ihn ungewohnten Alltag einlässt,einlassen muss, desto entfernterund sinnloser erscheintihm sein zurückgelassenes Arbeitsleben.Ihre Überzeugungskraftist so groß, dass sie ihren anfangsängstlichen Mieter sogarFoto: Muiread Kellydavon überzeugt, sich mitten inder Nacht nackt ins eiskalte Meervorzuwagen. Abhärtung beugtVerweichlichung vor, zumindestin diesem Fall.Evans Situation spitzt sichzu, als seine beruflich geforderteFrau ihn bittet, den gemeinsamenSohn für eine Weile beisich aufzunehmen. Sein Verhältniszu seinem unter Taubheit leidendenachtjährigen Sohn Lucaist schwierig, und es dauert eineWeile, bis sich dieser in der Abgeschiedenheitder Küste zurechtfindetund Vertrauen zu Grace,die ihm sofort eine Hängematteherrichtet, und deren zu Besuchkommender Nichte Abbie schöpft.Der ansonsten so widerspenstigeJunge genießt es, plötzlich einfreieres Leben zu haben, und begeistertsich für die Meerestiere,die es Tag für Tag zu bestaunenund zu untersuchen gibt.Roisin Maguires Roman lebtvon seinen markanten Charakterenund der rauen Atmosphäredes Landstrichs, die – an BenjaminMyers’ vor ein paar Jahrenerschienenen Roman „Offene See“erinnernd – mit stilistisch intensivenPinselstrichen gezeichnetwird. In Ballybrady herrschen andereGesetze als in Belfast, undnach und nach begreifen Evanund sein Sohn, was sie dadurchgewinnen können. Per Zoom kündigtEvan seinem Geschäftspartnerdie Zusammenarbeit auf undspielt, ohne dass dies nur an Coronaläge, mit dem Gedanken, seinenMeeraufenthalt auszudehnen.Sein Sohn hingegen sträubtsich mit Händen und Füßen, alsseine Mutter ihn wieder abholenwill, und scheint eine Affekttat zubegehen, die dem Roman zusätzlicheSpannung verleiht.Trost und HoffnungSo ist „Mitternachtsschwimmer“,das übrigens mit einemprachtvollen, auf einem Gemäldeder Schweizerin Cornelia Fröhlichberuhenden Cover aufwartet,ein Roman, der von dem erzählt,was besondere Umstände mitden Menschen machen und welcheGrenzen es mitunter zu überschreitengilt. Roisin Maguiregeht dabei bewusst das Risikoein, die Linie zum Kitsch zu überschreiten,wenn sie am Ende dieFähigkeit ihrer Figuren, sich undihr Verhalten zu ändern, überstrapaziert.Das ist hier und da zuviel des Guten, doch wer gerne Romaneliest, die mit Trost aufwartenund Hoffnung spenden, ist mitdiesem durchaus eindrucksvollenDebüt sehr gut bedient.MitternachtsschwimmerRomanvon Roisin MaguireAus dem Englischenvon Andrea O’BrienDuMont 2024352 S., geb., € 24,70LEKTORIXDES MONATSWenn Tiere Referate haltenBuchpreis von FURCHE,Stube und Institut für JugendliteraturRegenwurmund AnakondaVon Bibi DumonTak und Annemarievan HaeringenGerstenberg 2025128 S., geb.,€ 20,60Ab 9 JahrenVon Verena WeiglAufregend, furchteinflößend, informativoder sterbenslangweilig?Das Referatehalten in der Schulehat eine lange Tradition, die alle ganz unterschiedlichwahrnehmen oder erinnern.Die Autorin Bibi Dumon Tak legt mit„Regenwurm und Anakonda“ ein äußersthumorvolles und unterhaltsames erzählendesSachbuch vor, das einen frischenBlick auf dieses „Schul-Zeremoniell“ wirft.„Referate können nämlich superviel Spaßmachen. Vor allem, wenn sie mal nicht vonder Tierart Mensch gehalten werden.“Und darum haben hier die Tiere dasWort, die in einer Art Schulklassensettingüber andere Tierarten aus ihren jeweiligenPerspektiven referieren. Manche nehmendas sehr ernst, andere lassen sich ablenken,provozieren oder reden entwedersubtil oder auch ganz offen über sich selbst.Kreativität zeigen viele bereits in der Themenwahl:Das Zebra hält seine Rede überschwarz-weiße Tiere, der Totenkopffalterweiß alles über das Totenkopfäffchen, unddie Geburtshelferkröte findet bei der Nachwuchspflegeeinige Parallelen zwischensich und dem Koala. Dass der Maulwurf mitder Schnake über eine seiner Mahlzeitenspricht, löst erste Proteste im Publikum aus.Als der Fuchs in seinem Vortrag den Halsals die Schwachstelle bei Gänsen ausmachtund auch noch deren köstliches Brustfleischlobt, gehen endgültig die Wogenhoch. Schließlich will die Gans nicht nur alsGänsekeule wahrgenommen werden.Vor allem in den Zwischenrufen, Nachfragenund Diskussionen, die die gesamte Dramaturgielebendig machen, zeigen die TiereIllustration: © Annemarie van Haeringen (Illus.),aus: Regenwurm und Anakonda, Gerstenberg Verlag 2025ihre Persönlichkeiten. Am öftesten unterbrichtder Fuchs und reagiert besondersenthusiastisch, wenn es um Karnivorenoder Horrorgeschichten geht. Der schüchterneEinsiedlerkrebs, der vor lauter Aufregungohne sein Schneckenhaus fast keinWort herausbringt, erfährt viel Zuspruchvon der gesamten Gruppe. Generell erweistsich die Tierrunde als Solidargemeinschaft.Das Miteinander beruht auf einemunausgesprochenen Konsens, eine vorgegebeneModerationsrolle scheint niemandzu haben. Auch wenn die Schleiereule dieGruppe wiederholt zur Ordnung mahnt.Beim Referat des Brüllaffens über dasEinhorn halten die Themen „Fake News“,Informationsquellen und Recherche Einzugin die Debatten. Auch Verweise aufmenschliche Filme oder Sensationsgeschichtenkommen vor – und kleine Anspielungenauf den aus Tiersicht nicht nachvollziehbarenund oft respektlosen Umgangder Menschen mit Flora und Fauna.Illustratorin Annemarie van Haeringenbringt alle Tiere zur Ansicht. Das VorleseundLesevergnügen macht – fesselnd undlehrreich zugleich – Lust auf Wissensaustauschund Perspektivenwechsel.
DIE FURCHE · 106. März 2025Literatur191985 schrieb die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood einen Roman, der seither in zig Sprachen übersetzt und an zig Schulen verbotenwurde. Vierzig Jahre später gelesen, zeigt sich „Der Report der Magd“ als immer noch aktuell und als dringende Warnung.Nur einen Sprung entferntVon Brigitte Schwens-HarrantMan kennt die in lange roteGewänder gekleidetenFrauen mit den weißengesichtsverdeckende Hauben.Sie tauchen bei Demonstrationenauf, wenn es um FrauenundMenschenrechte geht, so etwa 2022 inden USA gegen strengere Abtreibungsgesetze,2023 in Israel gegen die Justizreform.Man hat sie in Filmen und in der mehrstaffeligenerfolgreichen Serie gesehen. AlsWarnung vor gefährlichen Entwicklungensind diese roten Frauen längst Ikonen.Entstiegen sind sie einem Roman, „TheHandmaid’s Tale“ (deutsch „Der Report derMagd“), den die kanadische SchriftstellerinMargaret Atwood 1985 geschrieben hat.Wenn man diesen Text nun vierzig Jahrespäter liest, lässt sich erkennen, worauf gelungeneDystopien gründen und was Autorinnenund Autoren tun, die solche schreiben:Sie fantasieren nämlich nicht einfachdrauf los, sondern sie erkunden und analysierendie Gegenwart und denken das,was sie an gesellschaftlichen, politischen,ökonomischen, ökologischen, technischenEntwicklungen sehen, konsequent und zugespitztweiter. Die Dystopie ist dann garnicht das ganz Andere, sondern eigentlichschon ganz nah, nur einen Sprung vom eigenenOrt und von der Gegenwart entfernt.In Atwoods „Der Report der Magd“ trägtdie Gesellschaft, von der erzählt wird, keineZüge zukünftiger hochtechnischer Entwicklungenin sich, wie sie etwa die Science-Fictionoft ins Spiel bringt. Die hierbeschriebene Gesellschaft prägen urkonservative,fundamentalistische, patriarchale,voraufklärerische und sogar archaischeZüge. Der Blick in die Zukunft bringtentsetzlich Bekanntes, womöglich längstüberwunden Geglaubtes zum Vorschein.Alte OrdnungenWenn etwa den Frauen die Konten gesperrtwerden und die Ehemänner wiederallein Zugriff aufs Geld haben (Pechfür die Unverheirateten), wenn Frauen leitendeFunktionen im besten Fall nur mehrim eigenen Haushalt haben (und auch dasnur, wenn sie Frauen von Kommandantensind), sieht man sich Jahrzehnte zurückgeworfen.Dabei war zur Zeit der Veröffentlichungdes Romans, 1985, Ehefrauen hierzulandeerst zehn Jahre zuvor per Gesetzerlaubt worden, ohne Zustimmung ihresMannes zu arbeiten.Blickt man auf die vergangenen vierzigJahre zurück, so schien das Pendel zunächstzwar sehr zugunsten von Freiheitund Rechten von Frauen – in Österreichwurde etwa 1989 die Vergewaltigung in derEhe strafbar – und der Freiheit von Religionenund Gesinnungen auszuschlagen, dochin den letzten Jahren kann man durchausBewegungen in die Gegenrichtung ausmachen.Die Zukunft suchen nun viele in den„bewährten“ Modellen der Vergangenheit,in einer Rückkehr zu alten Ordnungen.Als Rückgriff auf alte Methoden präsentiertsich auch die Gesellschaft, die MargaretAtwood beschreibt. Sie führt die Separierungvon Frauen und Männern wieder einund den Missbrauch von Religion durch totalitäreSysteme. So gibt es Schauprozessemit öffentlichen Hinrichtungen, werdenLeichen vor aller Augen aufgehängt und zurWarnung und als Drohung ausgestellt. Menschenbilderund Methoden tauchen auf, dieman in Europa und in Nordamerika überwundenglaubte, die andernorts aber immernoch oder immer wieder reale Gegenwartsind. Das wäre nicht möglich? Es ist möglich,es war möglich, und es kann jederzeit wirklichwerden, auch davon erzählt Atwood, dieFoto: IMAGO / Capital Picturesihren Roman in Westberlin geschrieben hat,umgeben von einem Staat, in dem Unterdrückungund Gewalt, Spitzelei und Verrat aufder Tagesordnung standen.„Man kann kein Omelett machen, ohne Eierzu zerschlagen“, meint einer der Mächtigen,der Kommandant in Atwoods Roman.„ Wir dachten, wir könnten es bessermachen. [...] Besser bedeutet nie, besser füralle […]. Es bedeutet immer, schlechter fürmanche.“ In diesem Fall ist eine Gruppevon Opfern klar: die Frauen.Report einer VeränderungLiterarisch besticht Atwoods „Report derMagd“ auch durch die Erzählweise. Die Ich-Erzählerin hält ihren Tagesablauf und Detailsihrer Gefangenschaft fest. Sie ist einemKommandanten zugeordnet, der sievon Rechts wegen regelmäßig und exaktgeregelt vergewaltigen darf, um sie zu befruchten.Die Aufgabe dieser Handmaidist, dem Ehepaar ein Kind zu gebären, dadie Gattin noch kinderlos ist und die Gesellschaftdringend Nachwuchs braucht.Ihr einstiger Namen und ihr altes Lebenwurden der Erzählerin weggenommen wieauch ihr eigenes Kind.Während Atwood diese Frau chronologischihre Geschichte Tag für Tag spannendund detailreich weitererzählen lässt,flicht sie immer wieder Erinnerungen andas Früher ein – und dieses Früher sind dieZeiten, die man damals – 1985 – durchausals Gegenwart hätte beschreiben können.Frauen emanzipierten sich, Familienmodelleänderten sich – die Erzählerin lebteund dachte damals konservativer als ihreeigene Mutter. Passte ein Partner nicht,nahm man sich einen neuen, das war Freiheit.„Wenn es dir nicht passt, musst du esändern, sagten wir zueinander und zu unsselbst. [...] Veränderung, davon waren wirüberzeugt, war immer Veränderung zumBesseren. Wir waren Revisionisten, undder Gegenstand unserer Revision warenwir selbst.“Aber auch in diesem Früher gab es Anzeichender Veränderung, hätte man sie sehenwollen. „Es war nach der Katastrophe,als der Präsident erschossen und der ganzeKongress mit Maschinengewehren niedergemähtwurde und die Armee den Notstanderklärte. Die Schuld wurde damalsden islamischen Fanatikern zugeschoben.Ruhe bewahren, hieß es im Fernsehen. Allesist unter Kontrolle.“Dann wurde die Verfassung aufgehoben.„Es hieß, das sei nur eine vorübergehendeMaßnahme. Es gab nicht einmal Aufstände.Die Leute blieben abends zuhause, sahenfern, suchten nach einer neuen Richtung.“Zeitungen wurden zensiert und eingestellt,„ Die Zukunft suchen nun viele inden ‚bewährten‘ Modellen derVergangenheit, Veränderung wirdals Rückkehr zu alten OrdnungenStraßensperren wurden alltäglich, Identipässeausgestellt. Noch hätte man protestierenkönnen, man tat es nicht.Pornozentren wurden geschlossen. „Esist höchste Zeit, dass mal jemand etwasunternimmt“, sagt eine Verkäuferin, dieam nächsten Tag selbst nicht mehr im Geschäftsteht, denn nun geht es gegen alleFrauen. Sie verlieren ihren Job. Das Kontoweiblicher Kundinnen wird gesperrt, Ehemännernkommt damit wieder jene Machtzu, die sie Jahrzehnte zuvor noch hatten.Massenentlassungen schließen Frauenaus der Erwerbstätigkeit aus. Für sie ist,eingeteilt in unterschiedliche Kategorienund markiert durch unterschiedliche Gewänder,anderes vorgesehen; HilfsdiensteLesen Sie dazuauch „Die Rückkehrder Mägde“von VeronikaSchuchter,10.8.2017,furche.at.verstanden. “TIPP:in der Gesellschaft, im Haushalt, in den Kolonienoder – falls sie noch fruchtbar scheinen– zum Gebären, weil die Geburtenratezu niedrig ist.Faszinierend, wie Margaret Atwood, die2017 den Friedenspreis des DeutschenBuchhandels erhalten hat und im vergangenenNovember 85 Jahre alt gewordenist, den Umbruch einer Gesellschaft beschreibt,wie Kipppunkte passiert werden,an denen man noch hätte protestieren könnenund müssen, bis es plötzlich zu spät istund ein Kommandant im Rückblick auf jeneJahre der Freiheit, Emanzipation undDiversität sagen kann: „Jene Jahre waren,historisch gesehen, einfach eine Anomalie.“Den unmenschlichen Zustand, denLeute wie er hergestellt haben, erklärt ermit den Worten: „Wir haben nichts anderesgetan, als die Dinge wieder der Norm derNatur anzupassen.“Mörderische NormDie „Norm der Natur“ aber ist eine gefährliche,eine mörderische Norm. Sie führte zuUnmenschlichkeiten und Bestialitäten wieder NS-Euthanasie – und so erzählt auch Atwooddie Geschichte. Babys, die nicht gesundauf die Welt kommen – und das sindaufgrund der vielen Umweltschäden unddes Verbots von vorgeburtlicher Diagnostikviele –, werden Babys „für den Reißwolf“ genannt.Sie verschwinden nach der Geburt.Beachtlich, wie Margaret Atwood beschreibt,wie all dies „Normalität“ wird,zwar mit einzelnen Netzwerken des Widerstandsund des Untergrunds, aber im Großenund Ganzen erduldet. „Wahrhaft erstaunlich,woran Menschen sich gewöhnenkönnen, solange es ein paar Entschädigungengibt“, staunt die Ich-Erzählerin auch inHinblick auf sich selbst.Unterdrückung, die langfristig funktionierensoll, setzt immer auch bei der Bildungan, die sie bewusst verunmöglichtund zerstört. In dieser Gesellschaft ist denFrauen daher der Zugang zu Lektüre undBildung versagt, sie dürfen weder schreibennoch lesen.Die Wirklichkeit holt Atwoods Romanein, seit er geschrieben wurde. „The Handmaid’sTale“ gehört zu jenen Büchern,die am häufigsten an US-Schulen verbotenwerden. Zugleich nahm die Nachfragenach dem Buch enorm zu – seit DonaldTrumps erneuter Wahl zum Präsidentender USA.Stichwort: EingeschlossenSchriftstellerin Lydia Mischkulnig, FURCHE-Feuilletonchefin Brigitte Schwens-Harrant undPolitikjournalistin Christa Zöchling diskutierenin ihrer Reihe „Stichwort“ MargaretAtwoods 1985 erschienenen Roman „Der Reportder Magd“ („The Handmaid’s Tale“) und AzarNafisis 2003 veröffentlichtes Buch „Lolita lesenin Teheran“ („Reading Lolita in Teheran“).3. April 2025, 19 UhrAlte Schmiede, Wienalte-schmiede.atPreisgekrönt2017 begannen die Staffelnder US-amerikanischen Serie„The Handmaid’s Tale“, die aufMargaret Atwoods Roman basiert.In der Hauptrolle: Elisabeth Moss(Zweite von rechts).
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